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UNIVERSITY OF TORONTO
by
Peter Kaye
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Das Weltbild der Gegenwart
Elfter Band
Das Weltbild der Gegenwart
Ein Aberblick über das Schaffen und Wiſſen unſrer Zeit in Einzeldarſtellungen
Herausgegeben von
Karl Lamprecht und Hans F. Helmolt
Elfter Band
Deutſche Verlags-Anſtalt Stuttgart und Berlin 1915
Allgemeine Biologie
Von
Paul Kammerer
Deutſche Verlags-Anſtalt
Stuttgart und Berlin 1915
Alle Rechte vorbehalten
Copyright 1915 by Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart
Druck der Deutſchen Verlags-Anſtalt in Stuttgart Papier von der Papierfabrik Salach in Salach, Württemberg
Inhaltsverzeichnis
Vorworte. Einleitung
II.
III.
IV.
1 Hegriffsbeſtinmung 9155 eb dg 2. Mechanismus und Vitalismus * 3. Methoden biologiſcher Forſchung. 4. Bearbeitung von Grenzgebieten .
. Urzeugung (Archigonie) .
1. Zeugnis der Kosmologie (Aſtronomie aD Geologie) Zeugnis der Paläontologie . Re Zeugnis der Phyſiologie.
Zeugnis der Chemie
Zeugnis der Phyſik 5
Zeugnis der Kriſtallographie
eben und Tod (Organismus und Anorganismus) . Allgemeine Eigenſchaften der lebenden Subſtanz . a) Phyſikaliſch-chemiſche Eigenſchaften . ; b) Morphologiſche Eigenjchaften .
c) Phyſiologiſche Eigenſchaften
— D O :
2. Anorganiſche Nachahmung der 1 :
Reizbarkeit (Srritabilität) . . Reize und Erregungen
. Reizbare GSubitanz .
. Reizaufnahme (Senfibikieät). . Reizleitung . 2 Reizbewahrung
Tropismus und Taxis
VVV
Bewegbarkeit (Motilität) . l Protoplasma- und Wimperbewegung . . Zufammenziehbare Subſtanz
. Stüß- und Bindeſubſtanz
Aktive Bewegungsorgane
Paſſive Bewegungs organe. Funktionswechſel, Symmetrie .
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V. Stoffwechſel (Metabolismus)
3
VI. ® Normale Größenzunahme
Vor⸗ und rückſchreitendes Wachstum (Eopfutten und Snoohition) Erſatzwachstum (Regeneration) .
812 O1 +
Ernährung (Nutrition)
a) Die Ernährung der Arweſen b) Die Ernährung der Pflanzen . c) Die Ernährung der Tiere
Abſcheidung (Sekretion) und Quefgeidung (Soterion). Atmung (Refpiration) a Der Stoffaustauſch zwiſchen Tieren und ann
Jachstum (Ontogenefe) .
a) Normale oder phyſiologiſche Regeneration ; b) Akzidentelle Regeneration (Reſtitution)
Achſenbeſtimmung (Polarität).
Ausgleichswachstum (Kompenſation) Pfropfwachstum oder Verpflanzung ae) Auspflanzung (Explantation) „
VI. Entwicklung (Embryogeneſe)
Furchung, Keimblätter- und Organbildung . Entwicklungsmechaniſche Verſuche
. Biogenetifche Rekapitulationsregel . Direkte und indirekte Entwicklung Entwicklungshemmung (Epiſtaſe) . Innerſekretoriſche Formbildung
VII Zeugung und Vermehrung (Reproduktion)
VI
Zellteilung (Diviſion) . 5 Zellverſchmelzung (Kopulation) Kernvertauſchung (Konjugation) Geſchlechtlichkeit (Sexualität)
a) Geſchlechtertrennung (ſexuelle Ditferenzlevung)..
b) Geſchlechtsbeſtimmung (ſexuelle Determinierung) .
c) Geſchlechtsvererbung (ſexuelle Heredität) .
d) Geſchlechtsverteilung (ſexuelle Disponierung)
e) Geſchlechtsverwandlung (ſexuelle Metaptoſis)
) Sekundäre e W e et Ele genitales) RER
Befruchtung Gekundation)
Lebendgebären und Brutpflege :
. Zungfräuliche Zeugung (Darthenogenefe) . Angeſchlechtliche Fortpflanzung 5 Reprodutrion) Stockbildung (KRolonifation) . 8 „ Generationswechſel.
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15
Vererbung Geredität) 1 2 3
Vererbungstheorien
Vererbungsſubſtanz
Vererbungstatſachen > a) Vererbung angeborener Eigenſchaften 5 b) Vererbung erworbener Eigenſchaften
Abſtammung (Phylogeneſe)
Abſtammungslehre (Deſzendenztheorie) g
a) Beweiſe der experimentellen Züchtungskunde ;
b) Beweiſe der vergleichenden Anatomie und Entwicklungs⸗ geichichte .
c) Beweiſe der Sheng Ki ee
d) Beweiſe der Paläontologie und . g
. Artenwandel (Transmutabilität) .
a) Veränderung (Variation)
b) Allmähliche und ſprungweiſe 5 (Modifikation und Mutation)
c) Ausgleichung (Affommobation) 155 Anpafuns Adaptation)
Ausleſe (Selektion).
a) Kampf ums Daſein e
b) Hilfe im Daſein (Panſymbioſe)
c) Zuchtwahl . F
d) Schützende Ahnlichteiten (N 8 im weiteſten Sinne)
e) Gemiſchte Beſtände und reine Linien (Phänotypen und Biotypen) :
4. Fortſchreitende Ea S
Allgemeine Literatur
Erklärung der Tafelabbildungen .
VII
Vorwort
Mir „Allgemeine Biologie“ iſt während des europäiſchen Krieges niedergeſchrieben. In den zwei Wochen nach der erſten Kriegserklärung war ich — als überzeugter Pazifiſt — von dieſem Anglück zwar noch zu betäubt geweſen, um arbeiten zu können; nachher aber fand ich, obwohl ſtündlich der Einberufung gewärtig, die Konzentration, jener ſozialen Pflicht nachzukommen, die ich keineswegs niedriger einſchätze als den Dienſt mit der Waffe. Nun iſt es mir gegönnt, das Werk abzuſchließen wenige Tage, bevor dieſer Dienſt tatſächlich beginnt.
Ich glaubte die außergewöhnlichen Amſtände anführen zu ſollen, um im weiteren mein Arbeitsverfahren — nicht zu entſchuldigen, denn es war bei der hier vorliegenden Arbeit von vornherein das einzig mögliche — aber doch mit zu begründen. Worin das Verfahren beſtand, bezeichne ich am beſten mit (ge— kürzten) Worten Oſtwalds, der die Art der Durchführung bei Comtes „Philosophie Positive“ beſchreibt: ) „Allerdings ſtörte ihn bei ſeiner großen Arbeit auch wiederum das nicht, was bei faſt allen ähnlichen Unternehmungen den größten Teil der Zeit in Anſpruch zu nehmen pflegt: er konſultierte keinerlei Literatur. Aberlegt man ſich die Beſchaffenheit der Aufgabe, ſo ſieht man, daß ſein Verfahren einen der wenigen Wege darſtellt, auf welchem die Durchführung des Gedankens überhaupt möglich erſcheint. Hätte er ſich verpflichtet gefühlt, die Forſchung bis zum letzten Augenblick der Abfaſſung ſeines Buches zu verfolgen, ſo wäre an ein Abſchließen nicht zu denken geweſen, ſelbſt wenn ihm viel mehr Zeit zur Verfügung geſtanden hätte. Er wird ſich wohl geſagt haben, daß ein Werk wie das feinige unter allen Amſtänden den wiſſenſchaftlichen Beſtand eines beſtimmten Augenblicks und nicht mehr enthalten kann.“
1) „Auguſte Comte, Der Mann und fein Werk.“ Von Wilhelm Oſtwald. Leipzig, Verlag Anesma, 1914. IX
Meine Art der Abfaſſung hatte mit der ſoeben gefchilderten das Gemeinſame, daß ich nichts, was mir nicht ohnehin bekannt war, ins Buch aufnahm; daß ich alſo keine anderen Bücher und Abhandlungen las zu dem Zwecke, den Tatſachenbereich zu ver: mehren, der dem Werk einverleibt werden ſollte. Bei dem un— geheuren Tatſachenvorrat der heutigen Biologie iſt es kein Brüſten mit Kenntniſſen, wenn ich hinzufüge, daß ſelbſt der geringe, zu— fällige Kenntnisbeſtand meines ſchwachen Gedächtniſſes ſchon viel zu groß war, um mit dem vorgefchriebenen Umfang auszureichen, und demgemäß in abermaliger Auswahl ſehr erheblich eingeengt werden mußte. Ja, bei jedem Kapitel tat ich mir Zwang an, um es nicht auf den geſamten verfügbaren Umfang anfchwellen zu laſſen. — Was alſo hätte Nachleſen helfen ſollen? Es hätte mir nur das Herz beſchwert mit der Ausſichtsloſigkeit, Leſe— früchte nun auch entſprechend zu verwerten. Höchſtens im Intereſſe größeren Gleichmaßes der Stoffbehandlung, namentlich nach der botaniſchen Seite hin, hätte die Erweiterung des Buchwiſſens beigetragen; hoffentlich iſt eine beſcheidene Bevorzugung ſolcher Teilgebiete, die mir näher lagen, kein zu ſchlechter Erſatz dafür in einem Werk, worin man vielleicht mit Recht bloße Kompilation zu finden wünſcht, während es nun doch hier und da ſeine per— ſönliche Note erhielt. So habe ich denn das Schrifttum nur dort zu Nate gezogen, wo ich der authentiſchen Treue meines Erinnerungs— bildes nicht ſicher war oder wo ich mich einer Stelle entſann, die zweckmäßigerweiſe wörtlich zu zitieren war.
In einer Beziehung unterſcheidet ſich das Reſultat der Nieder— ſchrift auch methodiſch von der grundlegenden Arbeit Comtes: Oſtwald ſagt, daß es bei ihr nicht ſtark darauf ankam, ob ſie den Stand poſitiven Wiſſens mit 1826 oder 1832 abſchloß. Heute würde es auf einen Zeitraum von ſechs Jahren ſchon mehr an- kommen; und da meine Biologie leider nicht, wie Comtes poſitive Philoſophie, ſechs Bände füllen darf und demgemäß nicht mehrere Jahre zu ihrer Vollendung beanſpruchte, ſo reichen die in ihr verwendeten Errungenſchaften bis zum Beginn des Konzeptes, alſo bis in den Sommer 1914 hinein; ohne eigens dafür herangeholt zu ſein, wie ſie ſich eben aus dem zufälligen, meiſt an neueſter Zeit geſchulten Eindrucksſchatz des Gedächtniſſes re— produzieren ließen, ſo wurden jene Forſchungsergebniſſe eingetragen.
X
Das nämliche gilt ſogar mit Einſchluß der jedem Kapitelende und dem Ende des Werkes angegliederten Schriften verzeichniſſe; doch bevorzugte ich ſolche Schriften, von denen ich wußte, daß ſie das Gebiet zuſammenfaſſen und ſelbſt wieder Literaturverzeich— niſſe bringen, die zu vollſtändiger Beherrſchung der biologiſchen Wiſſenſchaft weiterleiten können. Meine Anparteilichkeit befahl mir, Werke, mit deren Inhalt ich nicht im mindeſten einverſtanden bin, gleichberechtigt in die Literaturnachweiſe aufzunehmen; ge— ſtattete mir aber in kraſſen Fällen einen entſprechenden kritiſchen Hinweis. Spezialabhandlungen wurden nur ausnahmsweiſe, wenn ihnen ganz beſondere Wichtigkeit zukommt, in die Verzeichniſſe aufgenommen.
Mit am meiſten hatte ich an der Beſchränkung des Raumes zu leiden, wenn ich Tier- und Pflanzenarten als Beiſpiele einzuführen hatte, ohne vorausſetzen zu dürfen, daß der Leſer mit den ihm „namentlich“ vorgeſtellten Geſchöpfen auch „perſönlich“ vertraut ſein werde. Eigentlich benötigte man eine ſyſtematiſche Aberſicht des Tier- und Pflanzenreiches mit Beſchreibung der zu Exempelzwecken herangezogenen Formen; eine derartige Aberſicht mußte ich in meiner „Allgemeinen Lebenslehre für Mädchenlyzeen“, wo ſie ganz unvermeidlich war, anbringen. Selbſtverſtändlich wird aber dadurch der „allgemeine“ Charakter gefährdet, und hier, wo doch eine im Vergleich zum Mittelſchulbuch ausführlichere Dar— ſtellung auf verhältnismäßig engem Raum gegeben werden ſollte, wäre mir die „Allgemeine Biologie“ vollends zu „ſpeziell“ geworden. Angeſichts des immerhin fühlbaren Mangels kann ich nichts tun, als dem naturhiſtoriſch ganz unbewanderten Leſer die Mitwirkung eines faſt beliebigen Naturgeſchichtsbuches zu emp— fehlen: es ſind von mir diesbezüglich kaum größere Anſprüche geſtellt, als ſie eine gewöhnliche Mittelſchulnaturgeſchichte oder irgendein Konverſationslexikon erfüllen kann. Am allerbeſten eignen ſich zu gedachtem Zwecke beſondere Wörterbücher, von denen das Heinrich Schmidtſche „Wörterbuch der Biologie“ (Leipzig 1912, bei A. Kröner) für uns wieder am meiſten in Betracht kommt.
Ich mache auf dieſes bei manchem Leſer wahrſcheinlich zu— treffende Bedürfnis aufmerkſam, nicht weil ich mein Buch als ein im üblichen Sinne „populäres“ kennzeichnen will; ſondern ich bin dazu gelangt, jede meiner Veröffentlichungen auf „Gemein—
XI
verſtändlichkeit“ einzuftellen. Der wiſſenſchaftlich intereſſierte Laie mit ſeinem unbefangenen Arteil und ſeiner oft erſtaunlichen Aufnahmefähigkeit iſt im Durchdringen dargebotenen Wiſſens— ſtoffes ſogar leiſtungsfähiger als der Gelehrte, der ſich auf be— ſtimmte geiſtige Gebiete und Denkbahnen ſchon feſtgelegt hat. Außerdem iſt es bei der heutigen Ausdehnung unſerer Wiſſen— ſchaft nur einſeitigſtem Spezialiſtentum — natürlich erſt recht nur in ſeinem Spezialproblem — möglich, einer auf allgemeinere Ver— ſtändlichkeit nicht Rückſicht nehmenden Darſtellung mit wirklichem Nutzen zu folgen. Deshalb gehorche ich im gegenwärtigen, weiteren Kreiſen zugedachten Werke nur der Vorſchrift, die ich vor dem Tribunal engerer Fachgenoſſen und ſtrengſter Wiſſenſchaftsgemeinde ebenfalls eingehalten hätte: keinen Fachausdruck erſtmalig zu ge— brauchen, ohne ihn erklärend einzuführen. Selbſt ſpäter, wo letzteres behufs Vermeidung ewiger Wiederholungen und Amſchreibungen nicht mehr geſchieht, ſind zahlreiche Seitenhinweiſe auf die Stelle erſter Einführung angebracht und verdeutſchte Ausdrücke bevorzugt, wo immer dieſe den wiſſenſchaftlich-fremdſprachlichen Terminus voll auszudrücken geſtatten.
So ſchicke ich mein Buch hinaus mit dem Wunſche, es möge in eine Zeit treten, die für friedliche Wiſſenſchaft wieder Sinn hat, und die ſich von der vorhergehenden Friedensperiode dadurch unterſcheidet, daß ſie die Wiſſenſchaft, ihre Ergebniſſe und Ver— treter nicht als fremde, „weltfremde“, nur ſich ſelbſt und ihren Eigenzwecken genügende Dinge betrachtet — ſondern es erlernt, die Forſchungsreſultate für das praftifche, öffentliche Leben, für Geſetzgebung und Geſellſchaft auszunützen.
Das wird aber erſt möglich ſein auf Grund ehrlich ein— bekannter Aberzeugung, daß der Menſch und ſein Staat Naturerzeugnis iſt und demzufolge techniſch beherrſchbaren Naturgeſetzen unterliegt.
Wien, Februar 1915
Paul Kammerer
XII
Einleitung
1. Begriffsbeſtimmung und Gebietsabgrenzung
Wiſſenſchaft vom Leben: ihre Erforſchung und Erlernung muß ſich weiteſter Teilnahme erfreuen! Denn auch wir leben; unſer Leben in ſeinen feinſten Betätigungen iſt ebenſo Gegenſtand dieſer Wiſſenſchaft wie das einer Pflanze oder eines niederen Tieres. Der Menſch iſt ein lebendiges Weſen, — das werden nicht einmal jene beſtreiten, die ſeine tieriſche Abkunft und daraus abgeleitete Zugehörigkeit zum Tierreich leugnen: wenn es ein Wiſſen gibt, das über das Weſen des Lebens, einſchließlich des unſeren, Auskunft zu erteilen vermag; wenn es eine Lehre gibt, die über Herkunft und Beſtimmung des Menſchen etwas ausſagen kann, ſo muß es die Biologie ſein! Der bewunderungswürdige
Nechanismus des Körpers iſt ebenſo inbegriffen wie der ſchier un— begreifliche Geiſtesflug des Genies; die Leiſtungen des Einzelnen ebenſo wie die Bewegungen der Maſſen, die von den Einzelnen aufgebaut werden, — die unſere individuelle und ſoziale Entwicklung heraufwachſen ließen durch Kämpfe und Wanderungen aus roheſten Arzuſtänden, durch Organiſation und Erfindungen zur höchſten Blüte der Kultur. Anſere geſamten Kultur- und Geiſteswiſſenſchaften, wie Geſchichte, Geſell— ſchafts-, Rechts- und Seelenkunde, gehen auf in dieſer einzigen, alles lebendige Sein umfaſſenden Naturwiſſenſchaft, eben der Biologie! Weder privates noch öffentliches Leben, weder Schule noch Haus kann gleichgültig an ihr vorübergehen; und es wird hohe Zeit, rückſchauend zu ordnen, was vorwärtsſtürmende Pionierarbeit in den letzten ergebnis— reichen Jahrzehnten, beſonders den drei Quinquennien des 20. Jahr— hunderts, dem Rätſel des Lebens bereits abgerungen. Dringend nötig iſt eine Raſt, in der man verarbeiten und zeigen kann, ob die viel— berufenen Fortſchritte der Lebenskunde ihren glanzvollen Nimbus in ruhiger Abwägung rechtfertigen! Auf daß uns kein Taumel erfaſſe, der uns jäh zu ernüchterndem, ja tötendem Sturze bringt; ſondern ein Höhenrauſch, der Kraft verleiht, uns in ſicherem Schwunge immer noch höher zu tragen!
Der Begriff „Biologie“ iſt mehrdeutig: zuſammengeſetzt aus den griechiſchen Wörtern Bios (bios) Leben und Aöyos (logos) Lehre, bedeutet Biologie die Lehre vom Leben; da jedoch die Anſichten darüber, was unter „Leben“ zu verſtehen iſt, ſchwanken, ſo wechſeln auch die Meinungen über Inhalt und Amfang der Lebenswiſſenſchaft, der Biologie.
Kammerer, Allgemeine Viologie 1 1
Früher begriff man unter Biologie nur die Lehre von den Lebensgewohnheiten der Tiere und Pflanzen: Aufenthalt, Nah— rung, Bewegungen, Fortpflanzung. Gegenwärtig gilt dies als Sonder— gebiet, wofür die Namen Bionomie, Okologie und Ethologie geprägt wurden: „Ethologie“ — von gos (ethos) Sitte, Gewohnheit — deckt ſich am beſten mit dem Sinne jenes Teilgebietes und ſei zur all— gemeinen Annahme empfohlen, während für die noch ſpeziellere Lehre vom Aufenthalt der Tiere, Standort der Pflanzen, ſeiner klimatiſchen und ſonſtigen phyſikaliſchen Beſchaffenheit der Ausdruck „Okologie“ — von oixos (oikos) Haus, Wohnung — beibehalten werden mag.
Nach anderer Auffaſſung ſei Biologie einfach die Lehre von den lebenden Naturkörpern, Tieren und Pflanzen, — alſo die vereinigte Zoologie und Botanik; die Erkenntnis nimmt zu, daß Tier— und Pflanzenreich keine ſcharfen Grenzen, ſondern eine gemeinſame Wurzel haben; daß die Lebeweſen, die dem Wurzelbereich noch an— gehören, mit Sicherheit weder der Tier- noch der Pflanzenwelt zugeteilt werden können. Infolge ihrer einheitlichen Abſtammung haben aber auch die extremſten Vertreter beider lebenden (organiſchen) Naturreiche ſo viel gemeinſam, daß der radikale Ausſpruch gerechtfertigt erſchien, es gebe überhaupt keine Tiere und keine Pflanzen, ſondern nur Lebe— weſen (Organismen). Solcher Erkenntnis entſprach das Bedürfnis nach einer gemeinſamen organiſchen Wiſſenſchaft; nur nenne man ſie nicht Biologie, ſondern zur Vermeidung von Irrtümern (nach dem Vorgange der Geſellſchaft Naturforſchender Freunde in Berlin, die ein beſonderes Archiv dafür herausgab) „Biontologie“, die „Lehre deſſen, was lebendig iſt“.
Eine dritte, modernſte Auffaſſung will den Geltungsbereich des Wortes „Biologie“ auf eine Lehre von den Lebensäußerungen (Reizbarkeit, Beweglichkeit, Stoffwechſel, Vermehrung) anwenden. Hier ſcheint ſich zunächſt eine Schwierigkeit zu ergeben, den Gegenſtand von derjenigen Wiſſenſchaft abzuſtecken, die ſich von jeher im ſpeziellen mit den Lebensverrichtungen befaßt hat: der Phyſiologie. Jedoch ſchon durch den Zuſatz „im ſpeziellen“ iſt die Grenze gegeben: die Phyſio— logie beſchäftigt ſich nur mit den Verrichtungen (Funktionen), und zwar namentlich der einzelnen Lebenswerkzeuge (Organe, Apparate und Organſyſteme); die Biologie hat die Tätigkeit der Körperteile mit ihrem geftaltlichen Aufbau in Zuſammenhang zu bringen; fie umfaßt nicht bloß die Lehre von den Lebensäußerungen (Phyſiologie), ſondern zu— gleich auch die Lehre von den Lebensformen (Morphologie); ſie ſtellt eben die Lebenserſcheinungen in ihrer Geſamtheit dar. Demgemäß dringt ſie von bloßer Erforſchung der Reiz- und Bewegungs— reaktionen, der Ernährungs-, Ausſcheidungs- und Zeugungsvorgänge zu denjenigen Eigenſchaften des Lebens vor, die bereits unzertrennlich ſind von Beſchreibung und Vergleichung der Körpergeſtalten, wie dies beim Studium des Wachstums, der Entwicklung, der Anpaſſung und Vererbung unvermeidlich der Fall iſt. —
2
Der gewonnene Standpunkt — zugleich Rückkehr zur urſprüng— lichen und buchſtäblichen Wortbedeutung „Biologie = Lehre vom Leben“ — bedarf nunmehr für unſere Zwecke noch einer Ergänzung in Richtung unſeres Buchtitels: „Allgemeine Biologie“. Im Gegen— ſatze zur Vieldeutigkeit des Begriffes „Biologie“ ſchlechtweg kann es von Rechts wegen nie ſtrittig ſein, was man unter „Allgemeiner Bio— logie“ verſteht. Denn das hier Begriffene muß bei jeder allgemeinen Wiſſenſchaft prinzipiell dasſelbe bleiben. Gegenſtand einer allgemeinen Wiſſenſchaft kann es nämlich nur ſein, aus ihrem Geſamtgebiete die— jenigen Tatſachen zuſammenzuſtellen, die den weiteſten Geltungsbereich haben, die einer möglichſt großen Zahl von Einzelerſcheinungen gemein— ſam find: Tatſachen, die ſich folglich dazu eignen, ſowohl in der be— treffenden Wiſſenſchaft ſelbſt deren ſublimſten Aberblick zu ermöglichen, als auch dazu, die Gewinnung eines abgerundeten Weltbildes zu be— fördern. Auf die allgemeine Biologie angewendet, bedeutet dieſe Defi— nition das Heranziehen ſolcher Lebenserſcheinungen, die einer Maximal— ſumme einzelner Lebeweſen zukommen. Wie ſchon dem vorigen zu entnehmen, ſind Reizbarkeit, Bewegbarkeit, Stoffwechſel, Wachstum, Vermehrung und Vererbung die Grunderſcheinungen oder allgemeinen Eigenſchaften jedweder lebenden Subſtanz, ihnen muß alſo die allgemeine Biologie oder Lebenslehre gewidmet ſein. Das einzelne Objekt hat dabei nur die Aufgabe des beſonderen Beiſpieles und Beleges zu er— füllen; es verſieht den wichtigen Dienſt des Beweismaterials und be— hütet die Darſtellung vor zu großer Abſtraktheit, erhöht daher die Anſchaulichkeit und wahrt die Verſtändlichkeit. Immer jedoch muß gegenwärtig bleiben: nicht bloß „der Polyp“, „der Champignon“, „der Seeſtern“, „die Tulpe“ entwickelt ſich, atmet, nährt ſich, beſteht aus Zellen, pflanzt ſich fort, — ſondern alle, alle pflanzlichen und tieriſchen Bewohner unſeres Erdballes tun es. Noch diejenigen einfachſten Lebe— weſen tun es, die ſowohl pflanzlich als tieriſch oder, wenn man will, deutlich nicht das eine und nicht das andere ſind; und noch die kleinſten Elementarbeſtandteile eines großen Organismus tun es, die man wegen ihrer Form „Zellen“ genannt hat, — jede für ſich, obſchon in Wechſel— wirkung mit den anderen; demgegenüber war es wohlbegründet, wenn O. Hertwig ſein Lehrbuch „Die Zelle und die Gewebe“, als eine neue Auflage nötig wurde, kurzerhand umtaufte in „Allgemeine Biologie“; denn in der Tat find die Eigenſchaften der Zelle und der aus Zellen zuſammengeſetzten Gewebe zugleich die oben bereits aufgeführten all— gemeinen Eigenſchaften des Lebens, — ihre erſchöpfende Beſchreibung gibt zugleich das Geſamtbild des Lebens.
Auch darin charakteriſiert ſich die Allgemeinheit einer Wiſſenſchaft, daß fie ihren Bereich bis zum weiteſt möglichen Umfang aus: dehnt. Zur univerſellen Biologie gehört dann, wie hervorgehoben, nicht bloß Formen-, ſondern auch Funktionenlehre, nicht bloß das Arweſen— und Pflanzen-, ſondern auch das Tierreich, letzteres mit Einſchluß des Menſchen, — womit dann ungeheure Gebiete der Anthropologie, Ethno—
3
logie, Pſychologie und Soziologie, ja Linguiſtik, Ethik und Aſthetik ein- bezogen erſcheinen.
Hingegen beabſichtigte ich keine biologiſche Philoſophie zu ſchreiben. Allenfalls eine philoſophiſche Biologie, — und inſoferne iſt jede allgemeine Wiſſenſchaft zugleich eine philoſophiſche zu nennen, als ſie ſozuſagen das aus ihrem Bereiche entſtammende und zutage ge— förderte Rohmaterial darbietet, woraus dann die eigentliche Welt— weisheit ihre höheren und höchſten Syntheſen zu bilden vermag. Dann erſt kommt eine geeinte, geſchloſſene Weltanſchauung zuſtande; was die einzelne Wiſſenſchaft, ſelbſt in ihrer allgemeinſten Faſſung, alſo auch die Biologie, dazu zu liefern vermag, iſt immer nur ihr eigenes, alſo ein ſpezielles Weltbild. In Weltanſchauungsfragen will mein Buch, wie geſagt, kaum eingreifen, ſondern, getreu dem Rahmen der Samm— lung „Das Weltbild der Gegenwart“, wovon es einen Band bildet, nur Baumaterial geben, woraus dann zuſamt allen anderen Bänden eine Weltanſchauung errichtet werden mag. Aus den allgemein bio— logiſchen Tatſachen philoſophiſche Schlüſſe zu ziehen, iſt überdies eine Aufgabe, deren Löſung augenblicklich kein ſo dringendes Bedürfnis iſt wie die Sichtung der biologiſchen Fakten in einer für ſolche Schluß— folgerung unmittelbar brauchbaren Weiſe; denn andere haben ſich ihr mit Glück unterzogen. Wohl den berühmteſten Verſuch dazu ſtellen Haeckels „Lebenswunder“ dar.
Benützen wir dieſe Feſtlegungen, um den Anterſchied zwiſchen uni— verſeller und ſpezieller Biologie (oder Biontologie), zwiſchen allgemeiner Lebenslehre und der Lehre von den einzelnen Lebeweſen noch deutlicher herauszuarbeiten, ſo können wir ſagen: bei der letzteren ſteht das Indi— viduum oder Teile ſeines Körpers, oder mindeſtens die naturgeſchicht— liche Art (Spezies) im Mittelpunkte der Darſtellung und tritt als Träger einer Reihe von morphologiſchen, phyſiologiſchen und etho— logiſchen Eigenſchaften auf; bei der erſteren der morphologiſche, phyſio— logiſche und ethologiſche Begriff, das biologiſche Geſetz, wofür das Sonderobjekt nur als Exempel genannt wird. Die ſpezielle Biologie iſt eine induktive Wiſſenſchaft, die das Material für Gewinnung höherer Geſichtspunkte zuſammenträgt; die allgemeine Biologie iſt eine deduktive Wiſſenſchaft, die aus dem dort aufgeſtapelten Tatſachenmaterial die großen Geſetze des Lebens ableitet, zu weiten Aberblicken und Aus— blicken gelangt.
Ein Werk über ſpezielle Biologie könnte etwa gegliedert werden in einen morphologiſchen und phyſiologiſchen Hauptteil, jener wiederum in einen anatomiſchen (Beſchreibung der fertigen Form) und einen entwicklungsgeſchichtlichen, embryologiſchen (Beſchreibung der werdenden Form); dieſer in einen enger phyſiologiſchen (Be— tätigung der Teile im Organismus) und einen ethologiſchen (Be— tätigung des ganzen Organismus). Oder man könnte die ſpezielle Biologie einteilen nach den drei Reichen der lebenden Natur: ins Tier-, Arweſen- (Protiften:) und Pflanzenreich, mit ihren 4
Gruppen höheren und niedrigeren Ranges, den Stämmen (Typen — z. B. Wirbeltiere), Klaſſen (3. B. Säugetiere), Ordnungen (6. B. Raubtiere), Familien (66. B. Hunde), Gattungen 6. B. Wolf, Canis), Arten (3. B. Haushund, Canis familiaris) und Raſſen (3. B. Schäferhund, Canis familiaris pecuarius).
Den Stoff der allgemeinen Biologie aber kann man vernünftiger— weiſe nur nach Eigenſchaften ordnen, die jeder lebenden Subſtanz zukommen, der des Hundes ebenſo wie der eines Farnkrauts, der eines Muskels ebenſo wie der eines Darmes oder einer Blattoberhaut. Da jede ſolche allgemeine Eigenſchaft noch genauerer Erforſchung be— darf und an ihren Erforſcher viele Fragen ſtellt, ſo kann man auch jagen, der Stoff der allgemeinen Biologie iſt zu ordnen nach den großen Fragen, den Grundproblemen des Lebens. Innerhalb jedes derartigen Hauptabſchnittes müßte aber das betreffende Problem gleichzeitig von der morphologiſchen und phyſiologiſchen Seite behandelt ſein, müßten zoologiſche und botaniſche Ergebniſſe innig miteinander verwoben und möglichſt gleichmäßig berückſichtigt werden. — Für vor— liegendes Werk wurden namentlich die phyſiologiſchen Eigenſchaften oder elementaren Fähigkeiten des organiſchen Stoffes (Reizbarkeit, Beweglichkeit, Stoffwechſel, Wachstum, Fortpflanzung) als Einteilungs— grund gewählt; daraus darf aber nicht, wie ſchon flüchtige Einſicht— nahme zeigt, auf vorwiegend phyſiologiſches Gepräge meiner „All— gemeinen Biologie“ geſchloſſen werden, das ihr ſofort den wichtigſten Charakter des „Allgemeinen“ rauben würde; ſondern es handelt ſich um nichts anderes als um einen ziemlich willkürlich gewählten, äußer— lichen Geſichtspunkt für die Disponierung, — um ein Ordnungsprinzip, das mit dem Weſen des Geſamtinhalts wenig zu ſchaffen hat. Ebenſo— gut hätten die phyſikaliſchen, chemiſchen oder die morphologiſchen Eigen— ſchaften des lebenden Stoffes, wofern ſie ihm nur wirklich allgemein zu— kommen, als Baſis für Kapitelabgrenzungen dienen können, ohne weſentliche Anderung in der Auswahl aufgenommener Tatſachenbeſtände, die nur in anderer Gruppierung, in anderer und wohl auch für einen größeren Leſerkreis ſchwerer verſtändlichen Reihenfolge erſchienen wären.
Obſchon dieſe Auffaſſung der „Allgemeinen Biologie“ kaum einer abweichenden Deutung unterliegen kann, ſtehen ihrer Durchführung in Anterricht und Schrifttum doch noch große Schwierigkeiten ent— gegen. Allzu vorwiegend ſind Lehrkanzeln, Lehrbücher und periodiſche Literatur immer noch in die Lager der Zoologie und Botanik, der Morphologie und Phyſiologie zerſpalten, und erſt in neueſter Zeit macht ſich ein Amſchwung bemerkbar. Dafür, daß er ſich langſam vollzieht, ſeien zwei Beiſpiele erwähnt: an den öſterreichiſchen Aniverſi— täten!) werden Vorleſungen über „Allgemeine Biologie“ gehalten, aber in der Weiſe, daß ein Zoologieprofeſſor den ausdrücklich ſo be—
1) Jetzt in Amwandlung begriffen! Lehrkanzeln für allgemeine Bio— logie wurden errichtet an den Aniverſitäten Krakau, Prag uſw. 8
zeichneten „Zoologiſchen“ und ein Botanikprofeſſor den „Votaniſchen Teil“ lieſt. Dadurch iſt natürlich mit einem der wichtigſten Kennzeichen der allgemeinen Biologie ſchon gebrochen, ſelbſt wenn die zurückbleibenden Hälften nunmehr wirklich den Merkmalen wenigſtens einer „allgemeinen Zoologie“ und einer „allgemeinen Votanik“ entſprechen, was dann nicht mehr Sache des Anterrichtsplanes iſt, ſondern des Anterrichtes ſelbſt in den Händen des betreffenden Aniverſitätslehrers.
In der Mittelſchule hat die öſterreichiſche Unterrichtsverwaltung auf meine Anregung hin die „Allgemeine Lebenslehre“ als neuen Gegenſtand eingeſetzt, und zwar — ein allzu eng bemeſſener Spiel— raum! — für das zweite Halbjahr der fünften Klaſſe in Mädchen: lyzeen. Aber nicht der von mir ausgearbeitete und eingereichte Lehr— plan, von welchem kaum mehr als der Titel benützt erſcheint, wurde dem neuen Gegenſtande zugrunde gelegt, ſondern ein anderer, der die Lehr— kräfte und Lehrbücher dazu verführte, das Niveau der allgemeinen Lebenslehre auf dasjenige einer ſpeziellen Naturgeſchichte des Tier- und Pflanzenreiches, die doch in den unteren Klaſſen ohnehin ihren Platz innehält, herabzudrücken. Während ich dieſe Zeilen ſchreibe, befinde ich mich gerade mitten im Kampfe um die ſinngemäße Durchführung der „Allgemeinen Lebenslehre“, deren durch meinen Vorſchlag herbeigeführte Einführung ich bereuen müßte, wenn ſich ihr Anterricht auf der Baſis weiterentwickeln würde, die ihm augenblicklich gegeben erſcheint. In der diesbezüglich und wegen meines (noch nicht approbierten) Lehrbuches „Allgemeine Lebenslehre für Mädchenlyzeen“ geführten Polemik tauchte auch der Einwand auf, meine Anſprüche ſeien wegen ungenügender Vor— bildung der Lehrer () unerfüllbar, und der Wunſch, ich möge neben dem fürs Lyzeum und die Hand des Schülers beſtimmten Lehrbuche ein weiteres ſchreiben, das dem Gebrauch des Lehrers dient und etwaige Lücken in ſeinen allgemein-biologiſchen Kenntniſſen auszufüllen vermöchte. Dieſe Anregung kam dem bereits gefaßten Beſchluſſe entgegen, die vorliegende größere „Allgemeine Biologie“ zu ſchreiben; möge ſie nun neben ihren ſonſtigen Zielen auch dieſer ſchönen Aufgabe gerecht werden, die ihr von dem mir gutgeſinnten Teile unſerer Lehrerſchaft anvertraut wurde!
2. Mechanismus und Vitalismus
Neben der Anſicht, zu der wir uns bekennen, nämlich von der Allein— herrſchaft des Kauſalitätsprinzips auch im Bereiche der lebendigen Naturkörper, gibt es noch eine andere Anſchauung, wonach die be— wirkenden Urſachen (Causae efficientes) zur Erklärung der Lebens— erſcheinungen nicht ausreichen. Während die tote, anorganiſche Welt durch geſetzmäßigen Wechſel von Wirkung und Arſache reſtlos begriffen werde, ſpielten in der lebenden, organiſchen Welt außer den Wirkungs— urſachen noch Zweckurſachen (Causae finales) mit, die das Leben einer höheren, übernatürlichen und daher nicht mehr kauſalen Beſtimmung zuführen. Dieſe Anſicht, am häufigſten als „Vitalismus“ bezeichnet, 6
tritt, ebenſo wie die erſterwähnte, entgegengeſetzte, die „mechaniitifche, Lebensauffaſſung, in zahlreichen Verſionen auf (fo als Neo-Vitalismus, Pſychismus, Entelechismus gegenüber dem Materialismus, Monismus, Energetismus). Ihre Erörterung gehört wohl kaum mehr ins Gebiet der eigentlichen Biologie, ſondern bereits in dasjenige der Philoſophie; da wir uns vorgenommen haben, eigentliche Weltanſchauungsfragen außer Betracht zu laſſen, ſo unterbleibt die eingehende Aufzählung, Ableitung und Abwägung der vielfachen vitaliſtiſchen und mechaniſtiſchen Ver— mutungen.
Nur um zu vermeiden, daß der Verfaſſer in Bauſch und Bogen einer dieſer Richtungen mißverſtändlich zugewieſen werde, ſei ihm ge— ſtattet, feinen allgemeinen Standpunkt hierzu klarzumachen. Danach iſt weder die mechaniſtiſche noch die vitaliſtiſche Hypotheſe gegenwärtig mit genügender Sicherheit geſtützt, als daß man ſich ihr blindlings anver— trauen dürfte. Niemand darf behaupten, daß es eine beſondere Lebens— kraft (vitale Energie, Entelechie) gibt, die ſich über das die anorganische Natur beherrſchende Geſetz von Arſache und Wirkung fouverän hinweg— ſetzt und dadurch aus dem Rahmen der übrigen, der phyſilaliſch— chemiſchen Energien herausfällt; ebenſowenig aber vermag jemand das Gegenteil zu beweiſen.
Die theoretiſche wie die praktiſche Erfahrung, insbeſondere auch die Entwicklungsgeſchichte der Naturwiſſenſchaft und Technik lehrte aber eines mit größter Beſtimmtheit: wirklicher Fortſchritt unſerer Erkenntnis iſt nur erzielt worden durch Anwendung des phyſikaliſch-chemiſchen Prinzips; fruchtbar arbeiten können wir nur mit Benützung der— jenigen Geſetze, die wir, und zwar in ihrer einfachſten, faßlichſten Weiſe, auch in der unbelebten Natur vorfinden. Auf die Gefahr hin, einen weſentlichen Faktor vorderhand ganz außer acht zu laſſen, tun wir daher ſelbſt bei Erforſchung des Lebens am beſten, wenn wir die Lebens— erſcheinungen nur als beſonders hohe Komplikationen von phyſikaliſch— chemiſchen Erſcheinungen behandeln.
Im entgegengeſetzten Falle erliegen wir der Verſuchung, die Lücken unſerer Erkenntnis mit bloßen Worten auszufüllen; das Anbegriffene und (nach mancher Anſicht für immer) Anbegreifliche durch Einſetzung von ſprachlich konſtruierten Begriffen erklärt zu wähnen, ohne gewahr zu werden, daß dieſelbe Stelle immer noch leer iſt. Wer überall dort, wo er im Leben auf Anbekanntes und Gunächſt ſcheinbar) An— erkennbares ſtößt, das Walten einer geheimnisvollen, übermechanifchen Lebenskraft ſieht, der glaubt ſchließlich die Lebenskraft ſelber entdeckt und mit ihrer Hilfe alles ergründet zu haben, während er in Wahrheit nichts erreichte, als einen Zuſammenſchluß der Kenntnis- und Ver— ſtandeslücken zu einer großen Terra incognita! Dann gibt es keinen Fortſchritt mehr, im wiſſenſchaftlichen Betrieb wird aus der Empirik die Dialektik, aus der Naturwiſſenſchaft eine Papierwiſſenſchaft!
Begnügen wir uns dagegen mit den unſerer Handhabung zugänglichen Naturkräften und Naturgeſetzen, ſo ſehen wir die
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weißen, leeren, unbekannten Flächen zu unferer Freude immer kleiner werden; manch kleine, iſolierte Lücken ſchließen ſich ganz, ſtatt in uner— wünſchter, übermächtiger Weiſe mit dem myſtiſchen Ganzen zu verfließen. In immer ſchärferen Amriſſen, in immer grellerem Licht erſtrahlt dann der Reſt deſſen, was unſerem Denken und Forſchen noch verſchloſſen blieb. „Ignorabimus!“ („Wir werden es nie wiſſen!“) ſagte der Vitaliſt Du Bois Reymond; „Ignoramus!“ („Wir wiſſen es noch nicht!“) muß zwar auch der Mechaniſt von vielen Dingen zugeben; aber „Impavidi progrediamur!*“ („Wir ſchreiten unverzagt vorwärts!“) rief der tapfere Moniſt Haeckel. Allmählich mehren ſich die Mittel, die ſicher in unſerer Hand ruhen; je genügſamer wir anfangs mit den wenigen haushielten, deſto raſcher erblühen aus ihnen die neuen: neue Methoden, neue In— ſtrumente zur Herrichtung und Beobachtung, die die Grenzen unſeres Erkennens ſchier ins Angemeſſene erweitern.
Soll ich ſchließlich noch kundgeben, was mir perſönlich am wahr— ſcheinlichſten dünkt, und damit — eigentlich über die Schranken des Er— laubten hinaus — ein unbewieſenes, jetzt unbeweisbares wiſſenſchaft— liches Glaubensbekenntnis ablegen, ſo muß ich ſagen: die Exiſtenz einer beſonderen Lebenskraft kommt mir durchaus wahrſcheinlich vor! Alſo einer Energie, die weder Wärme, noch Elektrizität, Magnetismus, Bewegung leinſchließlich Schwingung und Strahlung), noch chemiſche Energie, noch ein Moſaik von allen zuſammen darſtellt, ſondern eine Energie, die ſpezifiſch nur denjenigen natürlichen Abläufen zukommt, die wir „Leben“ nennen. Deswegen beſchränkt ſie ſich aber nicht auf die— jenigen Naturkörper, die wir „Lebeweſen“ heißen, ſondern iſt mindeſtens auch im geſtaltenden Geſchehen der Kriſtalle zugegen. Weshalb man ſie, um Mißverſtändniſſe auszuſchalten, vielleicht beſſer ſtatt Lebens— energie „Formenergie“ benennen ſollte. Aber nichts Aberphyſikaliſches hätte ſie an ſich, obwohl ſie ſich mit bisher bekannten phyſikaliſchen Energien nicht identifizieren ließe; keine myſteriöſe „Entelechie“ (Ariſtoteles, Drieſch), ſondern eine echte natürliche „Energie“; nur, gleichwie elektriſche Energie an elektriſche Erſcheinungen, chemiſche Energie an chemiſche Amwandlungen, ſo an Lebens-, Formgeſtaltungs— und Formwandlungserſcheinungen gebunden. Untertan vor allem dem Geſetze von der Erhaltung der Energie: in adäquater Weiſe umſchaltbar in andere Energiearten, wie etwa Wärme in Bewegung und Bewegung in Wärme ſich verwandelt.
Doch dies klingt nach Zukunftsmuſik. Der reale Standpunkt des Verfaſſers, nochmals zuſammengefaßt, iſt folgender: man hätte Inner— afrika nicht erforſchen können mit ſtetem Hinweis, dort drüben liegt eben „Innerafrika“, und damit Schluß; ſtatt die zwar bekannten und noch nicht „innerafrikaniſchen“ Wege ſorgſam weiter zu verfolgen, bis zum Zentrum, welches Ziel war! Im vollen Bewußtſein deſſen, daß wir damit nicht die ganze Welt erſchöpfen — wie ja unſere Sinne gewiß nicht alle in der Welt exiſtierenden Dinge und die wahrgenommenen nicht von all ihren Seiten her zeigen —, müſſen wir unſeren geläufigen
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Sinnesbahnen folgen. Wir wiſſen genau, daß wir ſie dadurch ſchärfen, aufnahmsfähiger, weitreichender, empfindſamer machen; wohl mögen wir fie mit der Zeit jo weit ausbauen und durch „ſinnreich“ () erdachte Inſtrumente erweitern, daß das alte Sinnesorgan nicht mehr zu erkennen iſt. Daß der Menſchheit im Laufe der Jahrtauſende zur erhöhten Senſi— bilität der urſprünglichen noch neue Sinneswerkzeuge erſtehen, erſcheint auf dieſem und nur auf dieſem Wege angeſtrengter Empirie durchaus denkbar! And ſomit gibt ſchon die heutige Erfahrung uns das Recht zur ſtolzen Behauptung: Vieles iſt unerforſcht, doch nichts iſt unerforſchlich!
3. Methoden biologiſcher Forſchung
Da die Grundbeſtimmung der Lebens- wie der geſamten Natur— erſcheinungen die urſächliche (kauſale) iſt, ſo müſſen auch die Methoden der Lebensforſchung darum bemüht ſein, in erſter Linie die Arſachen, die den beobachteten Wirkungen zugrunde liegen, klarzulegen. Die ſonſtigen Richtungslinien, in denen das Leben verläuft, ſo die zeitliche (temporale) und zweckliche (finale) ergeben ſich dann nahezu „von ſelbſt“, d. h. durch einfache Gedankenoperationen oder doch ohne daß neue Hilfs— mittel nötig würden: man findet mit denen, die zur Arſachenforſchung dienten, auch zur Ergründung des ihr untergeordneten Zeit- und Zweck— geſchehens das volle Auslangen.
Was weiter hierüber zu ſagen iſt, gilt ſtrenge genommen nicht für die Biologie allein: es iſt ja das Endziel jeder wahren Wiſſenſchaft, die Arſachen der Erſcheinungen zu erkennen. Die Arſachen beherrſcht man aber nur dann, wenn man die Erſcheinungen (Wirkungen) mit ihrer Hilfe willkürlich ablaufen laſſen kann. Nur wenn man weiß: gebe ich den und den Anſtoß, ſo wird das und jenes die Folge ſein. Hier bewährt ſich Oſtwalds Wort, es ſei Aufgabe der Wiſſenſchaft, die Zukunft vorauszuſagen.
Darin aber, die Arſachen jo planmäßig zu ſetzen, beſteht das Weſen der wertvollſten naturwiſſenſchaftlichen Methode, des Verſuches oder Experimentes. Der Experimentator läßt die Faktoren, die er für eine beſtimmte Erſcheinung als urſächlich vermutet, einerſeits iſoliert ein— wirken, — anderſeits ſchaltet er ihre Wirkſamkeit ganz aus oder erſetzt ſie durch andere Faktoren, die von den mutmaßlich ſchuldtragenden ab— weichen; mit einem Wort, er ändert die in der Natur vorgefundenen, für ihr Durchſchauen allzu komplexen Bedingungen nach verſchiedenen Richtungen hin künſtlich ab.
Jede andere wiſſenſchaftliche Methode bleibt hinter dieſem Endziel (mindeſtens in bezug auf Exaktheit) zurück und dient nur als Notbehelf in Gebieten, die der experimentellen Behandlung noch nicht zugänglich oder für alle Zeit entrückt find. So erweiſt ſich die Unterlegenheit der anderen Methoden, wenn ohne Experiment, nur durch einfache Be— obachtung auf die Arſachen eines Geſchehens geſchloſſen wird. Das vollzieht ſich mit Hilfe eines „Post hoc — propter hoc“: weil zwei
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Ereigniſſe zeitlich aufeinander folgen, jollen fie auch urſächlich miteinander verknüpft ſein, ſoll das zuerſt eintretende Ereignis Arſache, das zweite deſſen Wirkung, ſelbſt aber wieder Arſache des dritten fein ufw. Es leuchtet ein, daß dies oft ein Trugſchluß ſein muß und im beſten Falle nur eine fruchtbare Arbeitshypotheſe liefert, deren Beſtätigung erſt das Experiment zu erbringen hat. Denn jedes kann ſeine beſondere Arſache haben; die zeitliche Aufeinanderfolge beſitzt dann keine andere als eben nur zeitliche Beziehung — ein Zuſammentreffen, das wir „zufällig“ nennen. Die aufeinanderfolgenden Ereigniſſe können aber auch eine gemeinſame, dritte, der Beobachtung entzogene Arſache haben. Im erſten Fall wird Wiederholung der Beobachtung bald das Zufällige und nicht Arſachengemäße der Beziehung ergeben; im zweiten Falle jedoch, dem der gemeinſamen Arſache, kann auch das nichts helfen: je öfter wir die Beobachtung wiederholen, deſto näher wird der Trugſchluß auf kauſale Beziehungen gelegt werden.
Durch bloße Beobachtungen und deren Vergleich wird uns alſo zwar offenbar, daß Ereigniſſe durch irgendwelche Beziehungen mit— einander verknüpft (korreliert) ſind. Aber dieſe Beziehungen brauchen keine unmittelbar urſächlichen zu ſein. Ihre Kenntnis führt daher nicht zur Beherrſchung des Vorgangs, führt nicht zum oberſten Ziele jedweder Wiſſenſchaft. In einem Satz läßt ſich das ſo ausdrücken: die ver— gleichende Beobachtung macht uns mit Häufigkeitsverhältniſſen (Nor— relationen), aber nur der Verſuch mit urſächlichen Verhältniſſen (Kauſalitäten) bekannt. Hier iſt auch die Statiſtik inbegriffen, die den Einzelbeobachtungen nur quantitativ, durch ihre tauſendfältige Wiederholung, überlegen iſt, qualitativ aber denſelben Fehlerquellen unterliegt, ſowie fie als Arſachenforſchung benützt werden ſoll.
Stellt demnach die experimentelle Methode die gegenwärtig höchſte Form wiſſenſchaftlicher Anterſuchung dar, ſo folgt daraus, daß ſie in der Geſchichte jeder Wiſſenſchaft immer zuletzt an— gewendet wird. Auch die Wiſſenſchaft ſelbſt, nicht bloß die Dinge, von denen ſie handelt, hat ja ihre geſchichtliche Entwicklung: und man könnte ſie ebenſo wie die ſogenannte „Weltgeſchichte“ und ebenſo wie die ungleich umfaſſendere „Erdgeſchichte“ in drei Epochen: Altertum, Mittelalter, Neuzeit einteilen — beſchreibende, vergleichende, erklärende (experimentelle) Epoche. Dem könnte man noch eine Arzeit voraus- ſchicken, die, von reiner Mythe ausgefüllt, dennoch oft phantaſtiſche Vorahnungen ſpäterer fruchtbarer Gedanken erkennen läßt.
In der erſten, ernſt zu nehmenden Periode werden die einzelnen Objekte und Erſcheinungen einfach beſchrieben, die zahlreichen Einzel— beobachtungen häufen ſich zum Berg des Wiſſens, aber er iſt eigentlich noch keine Wiſſenſchaft, er liefert nur die Keime, die Anlagen dazu. Jene ſpeziell beſchreibende (deſkriptive) Naturgeſchichte, verbunden mit Sammeln der beſchriebenen Naturobjekte, die nach ihrem hauptſächlichen Betriebsort, den Muſeen, den Namen „Muſeologie“ erhalten hat, gehört vorwiegend noch dieſer erſten wiſſenſchaftlichen Periode an. Doch 10
betrachtet der moderne Muſeumsbetrieb als feine Hauptaufgabe die natürliche Ordnung der aufgeſtapelten Naturſchätze, die Syſtematik, und reicht mit dieſer Pionierarbeit ſchon weit in die nächſte Periode hinein.
In der zweiten Periode werden die Einzelbeſchreibungen zueinander in vergleichsweiſe Beziehungen geſetzt, was zur Auffindung gemeinſamer Züge führt, die einer Gruppe von Erſcheinungen anhaften, in weiterer Folge daher zu einer Einteilung in Gruppen hinleitet. Je höher in der erſten Periode der „Berg des Wiſſens“ angewachſen war, deſto mehr und eher erwacht das Bedürfnis, ihn leichter beſteig- und überblickbar zu machen. Das eben gelingt durch Vergleich, und die Vergleiche führen zum Syſtem. Die aufgedeckten Beziehungen oder Korrelationen zwiſchen den Einzeltatſachen können oft bereits urſächlicher Natur ſein; mit Beſtimmtheit anſehen kann man es ihnen niemals auf Grund der vergleichenden Methode allein. Indem ſie verſucht, zur Er— kenntnis von Kauſalitäten zu gelangen, entfernt ſie ſich ſtets ſchon vom feſten Boden der Empirie und wird zur geiſtigen Spekulation, die nicht zu irren braucht, aber leicht irren kann und unkontrollierbar iſt. Daher unterliegen die ſpekulativen Ausdeutungen der Vergleichsreſultate fortwährend wechſelnden Moden, während es nach Loebs diesbezüglich vielleicht ſogar allzu optimiſtiſcher Meinung in der experimentellen Wiſſenſchaft keinen Rückſchritt gibt. — Wenn wir, ohne natürlich ſcharfe Grenzen ſetzen zu wollen, die Muſeen als eigentliche Stätte der be— ſchreibenden Naturgeſchichte bezeichnen, ſo dürfen wir die Hochſchulen mit ihren Inſtituten und Seminaren als Pflegeort der vergleichenden Naturgeſchichte betrachten.
Erſt die dritte Periode, die des analytiſchen Experimentes oder planmäßigen Verſuches unter künſtlich abgeänderten Bedingungen, gibt uns die ſpekulationsfreie, jederzeit durch exakte Nachprüfung kon— trollierbare Beherrſchung der Arſachen und damit auch deren kauſale Erklärung in die Hand. Als Pflegeſtätte der experimentellen Biologie können bis jetzt im allgemeinen nur die ſelbſtändigen Forſchungsinſtitute (biologiſchen Stationen) angeſehen werden.
Hinſichtlich der Geſchwindigkeit, mit der die einzelnen Wiſſenſchaften jene drei Perioden durchmachen, herrſchen große Verſchiedenheiten. Am ſchnellſten hat die Phyſik und Chemie die experimentelle Stufe erklommen; demzufolge begrüßte man, als vor etwa 30 bzw. 40 Jahren die Zoologie und Botanik ebenſoweit kam, dieſen Fortſchritt mit den Worten, man habe gelernt, die Metho— den der Phyſik und Chemie auf die Lehre von den Lebeweſen zu übertragen. Heute gibt es auch ſchon eine experimentelle Minera— logie, Geologie und Paläontologie, und überall, wo das Experiment ſeinen Einzug hält, verjüngt ſich die Wiſſenſchaft trotz Erreichung ihrer Vollreife und gewinnt die überraſchendſten Ergebniſſe. Dabei ſteht jede kleinſte Arbeit in Beziehung zum Ganzen; die experimentelle Epoche kennt nahezu kein unfruchtbar-einſeitiges Spezialiſtentum. Im Gegenſatze dazu mußte z. B. die Meteorologie, der das Experiment
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weniger zugänglich war, im Kreiſe der Naturwiſſenſchaften zurückbleiben. Charakteriſtiſch iſt es auch, daß überall dort, wo unmittelbar praktiſche Zwecke gebieteriſch zu raſchem Aufſchwung drängten, ſeien es techniſche, kommerzielle oder Heilzwecke, die Methodik ſchneller von den unter— geordneten Stufen bloßer Beſchreibung und Vergleichung zur über— geordneten Stufe des Experimentes ihren Fortgang nahm: jo war es in der Bakteriologie und Pathologie und vielen anderen Gebieten der praktiſch angewandten Biologie, wie der Bier-, Wein-, Eſſig- und Teigfabrikation, der das experimentelle Studium der gärungserregenden Hefepilze unentbehrlich war, ſowie in der Gärtnerei, der landwirtſchaft— lichen Tierzucht, der land- und forſtwirtſchaftlichen Pflanzenzucht.
Nun darf man das aber nicht ſo auffaſſen, als ſei erſprießliche experimentelle Tätigkeit ohne die voraufgegangenen Stufen denkbar. Vielmehr iſt jede die notwendige Vorausſetzung für die folgende: die Beſchreibung das unentbehrliche Fundament für den Vergleich, dieſer die Baſis fürs zielbewußte Experimentieren. Beweis dafür ſind ſolche Wiſſenſchaften, wo unvermitteltes Abergehen zum Ex— periment ohne genügende Beſchreibung und namentlich Vergleichung den Fortſchritt hemmt. Eine Zeitlang war dies bei der Tierphyſiologie (nie in gleicher Weiſe bei der Pflanzenphyſiologie) der Fall, mit ihren ewig ſelben Probierobjekten, von denen Froſch, Kaninchen und Meer— ſchweinchen ſprichwörtlich geworden ſind. Erſt ſeit wir eine vergleichende Phyſiologie haben, iſt die Bahn zu weiterer Erkenntnis, ſind die Zu— ſammenhänge mit den übrigen biologiſchen Diſziplinen wieder frei— Darum iſt es unrecht, die Vorteile der einen Methode gegenüber der anderen, wie es oft geſchieht, in tendenziöſer Weiſe herauszuſpielen; ebenſo unrecht, Leuten, denen niedrige Einſchätzung älterer Methoden durchaus ferne liegt, eine ſolche Mißachtung zuzuſchreiben, wie es mir oft geſchah. Es ſei denn, daß Wißachtung ſchon darin erblickt werde, die Aberlegenheit der experimentellen Methode, der, wie geſagt, die be— ſchreibende und vergleichende Methode vollkommen unentbehrlich bleiben, in ruhiger, ſachlicher Weiſe eben nur feſtzuſtellen.
4. Bearbeitung von Grenzgebieten
Wie erwähnt, wurde die Anwendung des Experimentes auf die Biologie als ein Herüberholen aus Phyſik und Chemie bezeichnet; dies beſchränkt ſich nicht auf rein methodiſches Entlehnen, ſondern ſchenkte uns außerdem zwei überaus wertvolle, eigentliche Grenzgebiete, die Biophyſik und Biochemie, die uns geradezu phyſikaliſche und chemiſche Geſetze in den Lebenserſcheinungen wiederfinden laſſen und uns ſo tatſächlich bis an die Grenze deſſen führen, wo das Leben ſolchen, in der unbelebten Natur herrſchenden Geſetzen noch ſicher gehorcht — eine Grenze, die unter der analytiſchen Lupe jener gemeinſamen Wiſſens— gebiete ebenſo zweifellos immer weiter und weiter vorrückt. Genaueres darüber erfahren wir im Kapitel über „Leben und Tod“.
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Anſere im Abſchnitt „Begriffsbeſtimmung und Gebietsabgrenzung“ gegebene Definition der allgemeinen Biologie hatte ſchon berückſichtigt, daß die Bearbeitung von Grenzgebieten ebenfalls durchaus zum Ge— präge allgemeiner Wiſſenſchaft gehört. So ſehr iſt der univerſelle Charakter einer Wiſſenſchaft durch Bearbeitung von Grenzgebieten be— dingt, daß beiſpielsweiſe Oſtwald die von ihm mitbegründete phyſikaliſche Chemie an ſich ſchon „allgemeine Chemie“ nennen durfte; ſie iſt Phyſik der kleinſten Teilchen. In analoger Weiſe findet auch die allgemeine Viologie ihren Inhalt im weſentlichen erſchöpft durch die Kenntnis von den kleinſten Beſtandteilen des ſelbſtändigen Lebens, den Zellen, — und weiter, in biophyſikaliſcher und biochemiſcher Vertiefung, durch die Lehre von den lebenstätigen Elementen, den die Zelle zuſammen— ſetzenden lebenden Eiweiß- oder Biomolekülen. Grenzgebiete der Biologie zu dem von uns gewohnheitsmäßig als „tiefſtehend“ angenommenen Lebloſen hinab ſind alſo Biophyſik und Biochemie; Grenzgebiete zu dem von uns ſo betrachteten „höchſten Geſchöpf“ hinauf ſind Anthropo— logie (einſchließlich Ethnologie, Archäologie und Medizin), Soziologie l(einſchließlich Jurisprudenz), Pſychologie, Ethik und Aſthetik. So um— fängt über die Biologie hinweg ein nirgends unterbrochenes Band anorganiſche und organische Naturwiſſenſchaften und Geiſteswiſſen— ſchaften; ſo gibt ihre Lehre ein getreues Bild von der Einheit und Anzertrennlichkeit des Aniverſums.
Biologiſche Philoſophien:
Albrecht, E., „Vorfragen der Biologie“. Wiesbaden, J. F. Berg— mann, 1899.
Bergſon, H., „Materie und Gedächtnis“. Jena, E. Diederichs, 1908.
Bergſon, H., „Schöpferiſche Entwicklung“. Jena, E. Diederichs, 1912. (Man muß anerkennen, daß Bergſon ſeinen der nüchternen Verſtandes— tätigkeit abgeneigten, gefühlsmäßigen, alſo eigentlich wiſſenſchafts— feindlichen Standpunkt nicht ohne Größe vertritt.)
Drieſch, Hans, „Philoſophie des Organiſchen“. Leipzig, W. Engel— mann, 1909.
Flaskämper, Paul, „Die Wiſſenſchaft vom Leben. Biologiſch-philo— ſophiſche Betrachtungen“. München, E. Reinhardt, 1913.
Fließ, W., „Der Ablauf des Lebens. Einleitung in die exakte Biologie“. Wien, F. Deuticke, 1906.
Fließ, W., „Vom Leben und vom Tod“. Jena, E. Diederichs, 1914. (Die Periodizität und Serialität im Studium der Naturerſcheinungen iſt gewiß bedeutungsvoller, als man heute vermutet.)
Gaule, Juſtus, „Kritik der Erfahrung vom Leben“. 2 Bände. Leipzig, S. Hirzel, 1906.
Haeckel, Ernſt, „Die Lebenswunder. Gemeinverſtändliche Studien über
biologiſche Philoſophie“. Leipzig, A. Kröner. Große Ausgabe 1904. Volksausgabe 1906.
Lamarck, J. B. de, „Zoologiſche Philoſophie“. Deutſch von Arnold Lang, Leipzig 1876. 2. Aufl. 1903. (Vgl. auch F. Kühner, „Lamarck, Die Lehre vom Leben“ in „Wiſſenſchaft und Technik“. Jena, E. Diede— richs, 1913.)
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Locy, W. A., „Die Biologie und ihre Schöpfer“. Deutſch von E. Nitardy— Jena, G. Fiſcher, 1915.
Mackenzie, W., „Alle fonti della vita. Prolegomini di scienza e d'arte per una filosofia della natura“. Genua, A. F. Formiggini, 1912. Reinke, Joh., „Die Welt als Tat“. (Wo Pitalismus entwiclungs- feindlich wird, kann ſeine Schädlichkeit auch der toleranteſten Anſicht
nicht verborgen bleiben!)
Reinke, Joh., „Philoſophie der Botanik“. Leipzig, J. A. Barth, 1906. (Fromm!)
Spencer, H., „Prinzipien der Biologie“. 2 Bände. Stuttgart, Schweizer bart.
Uexküll, J. v., „Bauſteine zu einer biologiſchen Weltanſchauung“. München, F. Bruckmann, 1913. (Der auf nervenphyſiologiſchem Gebiete hoch— verdiente Spezialforſcher gerät in ſeinen geſammelten Aufſätzen auf bedenkliche, durch brillanten Stil leider zur Irreführung weiter Kreife geeignete Abwege.)
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I. Erzeugung (Archigonie)
1. Zeugnis der Kosmologie (Aſtronomie und Geologie)
Soll anſchaulich werden, an welche kosmiſchen Bedingungen und Epochen der Beſtand des Lebens gebunden it, fo muß man ſich die Entwicklungsgeſchichte, das Werden und Vergehen eines Him- melskörpers in Erinnerung rufen.
Im unendlichen, kalten Weltenraume wogt heißer Arnebel, worin alle Stoffe gasförmig ſind. Durch Wärmeabgabe in den Weltraum, der davon doch nie merklich wärmer wird, müſſen ſich die Dämpfe zu— ſammenziehen, muß ſich ſchließlich ein großer Teil davon verflüſſigen. Die Zuſammenziehung (Kondenſation) ergibt eine Kugel, denn das iſt die Form jedes freiſchwebenden Flüſſigkeitstropfens; mit Annahme der regelmäßigen Geſtalt iſt notwendig die einer regelmäßigen Bewegung verbunden; wirbelten die Teile im Arnebel faſt regellos durcheinander, ſo iſt der Flüſſigkeitsball, abgeſehen von ſeiner Weiterbewegung im Raume, nur noch zur Drehung (Rotation) um feine eigene Achſe be— fähigt. Die Endpunkte der Drehungsachſe (Pole) bleiben ruhig, aber von hier aus nimmt die Rotationsgeſchwindigkeit allſeits zu und erreicht in demjenigen größten Kreis, deſſen Ebene auf der Drehachſe ſenkrecht ſteht (Aquator), das Maximum. In der Aquatorialgegend wirkt daher die Schwungkraft am ſtärkſten ein, während ſie in den Polargebieten ſehr gering iſt; der Rieſentropfen erleidet dadurch eine Anderung ſeiner (im flüſſigen Zuſtand ja noch bildſamen) Kugelgeſtalt: Abplattung an den Polen, dementſprechend Vorwölbung am Aquator. Letztere kann ſo weit gehen, daß hier Subſtanzverluſte eintreten: Abſchwingen kleinerer Fetzen oder Abheben eines konzentriſchen Ringes längs des Aquators. Die Fetzen müſſen ſich bald wieder zu Kugeln ballen; aber auch der feurig-flüſſige Ring hat nicht Beſtand, ſondern zerreißt, und ſeine Fragmente nehmen Kugelgeſtalt an; der b Zentralkörper hat kleinere Begleitkörper (Trabanten) erhalten, der Firſtern (Sonne) feine Planeten, der Planet ſeine Satelliten (Monde).
Mittlerweile ſchreitet die Wärmeſtrahlung und mithin die Abkühlung der Himmelskörper fort; nicht alle ihre Subſtanzen können mehr den flüſſigen Zuſtand bewahren, ſondern ſie verdichten ſich noch weiter 8 feſten Zuſtand. Naturgemäß wird dies an der Oberfläche, wo ja die Wärmeverluſte am ſtärkſten ſind, am früheſten eintreten; es bildet ſich eine feſte, kühle Erſtarrungskruſte rings um einen Kern, der heiß genug wäre, um in Schmelze, ja bei ſeinem Zentrum ſogar in
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Dampf zu verharren, falls nicht etwa der ungeheure Druck des auf ihm laſtenden ſtarren Panzers es verhindert und einen zwar ungeheuer über— hitzten, aber gleichfalls ſtarren Zuſtand herbeizwingt. — Die Tempe— ratur, bei der die Körper in ihre verſchiedenen Aggregatzuſtände über— gehen, iſt bekanntlich für die einzelnen Stoffe ſehr verſchieden; Eiſen ſchmilzt erſt bei ungleich höherer Temperatur als Blei, Alkohol ver— dampft ſchon bei weſentlich niedrigerer Temperatur als Waſſer uſw. So kommt es, daß ſelbſt ganz außen Subſtanzen übrigbleiben, die trotz vorgeſchrittener Abkühlung im flüſſigen, ja gasförmigen Zuſtande ver— blieben: die Waſſer- und Lufthülle in dieſem Stadium befindlicher Himmelskörper. Da die Erkaltung auch jetzt nicht innehält, ſo muß es zuletzt dahin kommen, daß auch die ſchwerſt kondenſier- und gefrierbaren Subſtanzen in die feſte Form übergehen; der Himmelskörper iſt dann voll— kommen tot und ſtarr — vorausgeſetzt, daß ihm nicht ſchon vorher eine anders— geartete Störung, etwa der Gravitationsbewegung, ein Ende bereitet hat.
Da der Erkaltungsprozeß deſto raſcher fortſchreitet, je kleiner der erkaltende Körper iſt, ſo erſtarren die Monde raſcher als die Pla— neten, dieſe raſcher als ihre Sonnen, obwohl ſie der Zeit ihrer ſelb— ſtändigen Exiſtenz nach jünger ſind. So beſitzt der Erdenmond keine Atmoſphäre und kein Waſſer mehr; andererſeits iſt unſere Sonne eine feurig-flüſſige (natürlich teilweiſe auch noch gasförmige) Rieſenkugel, an deren Oberfläche die Verfeſtigung in Geſtalt der „Sonnenflecken“ eben erſt begonnen hat. Dazwiſchen liegende Stadien zeigen unſere Erde und andere Planeten unſeres Sonnenſyſtems, ſo der Mars (älter als die Erde), ſo Jupiter und Venus (jünger als die Erde). Auch für das Stadium mit äquatorialer Ringabhebung beſitzen wir in unſerem Planetenſyſtem ein Beiſpiel, den Saturn; und für den gasförmigen Arzuſtand ſtehen uns die Nebelflecke vor Augen.
Die ſchöpferiſche Phantaſie eines Kant und Laplace, von neueren Forſchern ergänzt und verbeſſert, hat dieſe verſchiedenen Formen von Himmelskörpern, die im Weltraum gleichzeitig nebeneinander beſtehen, als Entwicklungsſtadien erfaßt, die der Verlauf ungeheurer Zeit— räume ineinander übergehen läßt. And ſelbſt das Endſtadium ſoll wieder in den Anfang zurückkehren, wenn zwei erſtarrte Himmelskörper aufeinander ſtürzen; kleine Abweichungen in der von gegenſeitiger An— ziehung und Abſtoßung geregelten Bahn — Fehler, die ſich im Laufe der Jahrmillionen ſummieren, müßten mit Beſtimmtheit früher oder ſpäter zum Zuſammenſtoß führen. Der gewaltige Anprall läßt „Funken“ ſtieben, deren Hitze ausreicht, alles wieder in Gas aufzulöſen. Daher ſtamme die hohe Temperatur des Arnebels; und auch zu feiner Be— wegung, die ſich ſpäter in die Rotation der Himmelskugeln verwandelt, gibt jene Kataſtrophe den Impuls. Vielleicht genügt ſchon die enorme Demperaturdifferenz zwiſchen Nebelfleck und Weltraum, um Bewegung entſtehen zu laſſen; ſo würde im „Anfang“ ein Teil der Wärme— energie in Bewegungsenergie, am „Ende“, das zugleich neuer Anfang iſt, umgekehrt ein Teil kinetiſche in thermiſche Energie verwandelt. — 16
Welche Epifode in der Exiſtenz des Himmelskörpers eignet fich nun einzig und allein dafür, daß Lebeweſen ihn beſiedeln? Aus phyſi— kaliſchen Gründen (nachzuleſen im Abſchnitt „Zeugnis der Phyſik“) kann es nur die ſein, während welcher alle drei Aggregatzuſtände vertreten ſind: eine hinlänglich dicke Erſtarrungskruſte über dem heißen Inneren, eine Waſſerhülle über der Kruſte, eine Lufthülle um das Ganze. Es ſei denn, daß es Organismen anderer Konſtitution geben könnte, wie ſie das Märchen in Geſtalt feuerfeſter und feuerſpeiender Drachen erſann; der wiſſenſchaftlichen Vorſtellung ſind ſie entrückt.
Hingegen kann nicht als unwahrſcheinlich bezeichnet werden, daß andere Planeten als die Erde von lebenden Geſchöpfen bevölkert werden. Da zweifellos ſchon einige in unſerem Sonnenſyſtem und ſicher viele in anderen Sonnenſyſtemen die notwendigen Temperatur— und ſonſtigen klimatiſch-meteorologiſchen Bedingungen dafür bieten, fo ſträubt ſich der logiſche Verſtand gegen die Annahme, juſt unſere Erde ſei die einzige belebte Welt. Poſitives darüber vermögen wir freilich nicht auszuſagen. Wegen allzugroßer Entfernung kommen andere Planetenſyſteme für tatſächliche Anterſuchung nicht in Betracht; von den Mitgliedern unſeres Syſtems hat ſich die Meinung, daß Leben vorhanden ſei, am hartnäckigſten vom Mars behauptet. Sein rotes Licht wollte man einer Vegetation zuſchreiben, die rot belaubt ſei; was auf der Erde eher die Ausnahme bilde, wie bei Blutbuche, Notalgen und anderen lichtempfindlichen Gewächſen, ſei dort Regel. Außerdem wollte man zeitweiſe einfach auftretende und dann wieder verdoppelte Streifen von regelmäßigem Verlauf als gigantiſche Kanäle deuten, die intelli— gente, uns techniſch weit überlegene Marsbewohner anlegten, um gegen— über der ſchwankenden Verteilung des Marsmeeres gefeit zu ſein. In Amerika ſoll man ernſtlich daran gegangen ſein, ſich durch rieſige Licht— ſignale mit den Marsleuten ins Einvernehmen zu ſetzen, und ungeheure Summen zu dieſem Zwecke zu ſtiften (Lowell). Moderne Aſtronomen 66. B. Maunder, Evans, Neweomb) neigen dazu, die „Marskanäle“ für optiſche Täuſchungen zu halten; unwillkürlich zieht das Auge Linien zwiſchen ſchwer erkennbaren Objekten in unregelmäßiger Anordnung, oder zwar ſcharf erkennbaren Punkten, die aber durch unbeſtimmt ab— ſchattierte Flächen getrennt ſind. Wenngleich nachgewieſen wurde, daß beiſpielsweiſe auch auf Mondkarten zuweilen ſolche „Kanäle“ zu ſehen ſind, erklärt dieſe „Löſung“ des Rätſels doch nur unvollkommen, inwie— fern gerade der Mars, noch dazu in periodiſchem Wechſel, ein ſo be— vorzugter Gegenſtand der Sinnestäuſchungen war. Demgegenüber ſcheinen die Forſchungen von Svante Arrhenius dem Problem der Marskanäle und des roten Marslichtes näherzukommen; der genannte Kosmologe erblickt die Marsoberfläche als Sandwüſte, die durch Eiſen— oxyd rotgefärbt iſt, — eine Formation, die ja auch auf der Erde, z. B. in der Sahara, reich vertreten erſcheint. Die „Kanäle“ aber ſeien Erd— bebenſpalten, deren Verſchwinden durch Nachſinken des loſen Sandes, deren Wiedererſcheinen durch Weiterreißen des Sprunges hervorgebracht werde.
Kammerer, Allgemeine Biologie 2 17
Die Frage, ob auf anderen Sternen Leben anzutreffen fei, beſitzt, abgeſehen von ihrem allgemeinen Intereſſe, noch Einfluß auf Entſcheidung einer anderen Frage: nämlich ob unſer Erdenleben von fremden Welten hierhergebracht oder bereichert ſein könnte. Ob nicht überhaupt ein belebter Planet den anderen, ſobald er in das dazu gehörige Stadium getreten ſei, koloniſiere und gewiſſermaßen mit ſeinen Lebenskeimen infiziere? Kelvin, Cohn, Richter, Helmholtz, Gümbel, Hahn ſuchten, wie's am nächſten lag, in den auf die Erde herabfallenden Meteorſteinen das Transportmittel für den Verkehr der Lebeweſen von Planet zu Planet. Nach älterer Auffaſſung wären die Meteoriten Reſte zertrümmerter Himmelskörper, nach neuerer (Arrhenius) entſtünden ſie durch Zuſammenbacken von kosmiſchem Staub, der durch Strah— lungsdruck aus Firfternen ausgeſchleudert wird. In beiden Fällen hätten die Meteore Hitzegrade durchgemacht, die ſie zuſammen mit der nachträglich raſchen und tiefen Erſtarrung im Weltraum nur um ſo ungeeigneter machen, Lebenskeime lebensfähig zu beherbergen; zum Aberfluß entzünden ſie ſich beim Herabfallen durch die Reibung in der Atmoſphäre und werden ſo nochmals gründlich ſteriliſiert. — Was außer ihnen noch „vom Himmel gefallen“ ſein ſoll, wie die ſogenannte Meteor— gallerte, alſo organiſche Subſtanz, entpuppte ſich ſtets als ſehr irdiſches Produkt: entweder als Froſcheileiter, von Störchen und Reihern aus— geſpien, oder als Zitteralgen (Nostoc), die bei naſſem Wetter oft un— geheuer raſch das Erdreich überziehen. Noch größer iſt die Täuſchung beim „Froſchregen“, wenn gelegentlich eines Guſſes Tauſende friſch verwandelter Fröſche oder Kröten die Tümpel verlaſſen, wo ſie als Kaulquappen lebten, und Weg und Steg bedecken; oder wenn in Regenpfützen plötzlich in Menge ſeltſame Krebstiere auftauchen, weil der Grund von früherer Füllung der Mulde her zahlreiche, ohne Verluſt ihrer Entwicklungskraft eingetrocknete Dauereier (vgl. S. 238) enthielt. Insbeſondere iſt ja der große Kiefenfuß (Apus) auffällig genug und ſieht ſo fremdartig aus, daß die Vermutung ſeiner außertelluriſchen Herkunft ſich dem Laien aufdrängen mußte.
Dennoch hat neue Forſchung die Hypotheſe der „Weltinfektion“ oder „Planetenimpfung“ wiederum wahrſcheinlicher gemacht durch Maxwells Entdeckung des Strahlendruckes. Die schwingenden Teilchen des Lichtäthers, ſo wenig Materielles an ihnen iſt, beſitzen trotzdem ein meßbares Gewicht; und Arrhenius, der die Lehre vom Strahlungs— druck zur Erklärung einer Reihe bisher ſchwer verſtändlicher kosmiſcher Phänomene verwertet, macht es glaubhaft, daß leichteſte, kleinſte Lebens— keime, wie Pilz- und Algenſporen, eingekapſelte Artierchen, Bakterien u. dgl. durch jenen Druck in die Atmoſphäre gepreßt werden können. Auf geeigneten, feuchten Nährböden würden ſie ihre ſchlummernde Lebens— tätigkeit wieder aufnehmen und Gelegenheit haben, ungeheure Entwick— lungswege — auf der Erde vom Arweſen einerſeits zur Blütenpflanze, andererſeits zum Wirbeltier — zurückzulegen.
Für Arrhenius' Theorie ſpricht die Tatſache, daß Mikrobenkeime ſozuſagen allgegenwärtig find („Panſpermie “); fie finden ſich dem 18
atmoſphäriſchen Staub beigemengt, ruhen überall den Erdſchichten ein— gebettet, ſchweben im reinſten Waſſer und in höchſten Luftregionen; durch ſinnreiche Fangapparate hat man ſie im phyſiologiſchen Labora— torium auf dem Monte Roſa ebenſo feſtgeſtellt wie bei Ballonfahrten. Ihr geringes Gewicht läßt ſie wohl bis an die Grenze der Atmoſphäre gelangen; hier könnten ſie bereits vom Strahlungsdruck erfaßt und in den luftleeren Weltraum getrieben werden, um ſchließlich in der Atmoſphäre eines anderen Planeten zu landen und ſeiner Schwer— kraft anheimzufallen. Die Zeit, innerhalb deren ſie lebensfähig, aber nicht lebenstätig umhergetrieben werden können, ſcheint faſt un— beſchränkt zu ſein und erſtreckt ſich bei manchen jedenfalls auf viele Jahre; gelangen ſie ſchließlich nach langer Irrfahrt auf ein ihnen zu— ſagendes Subſtrat, ſo wächſt augenblicklich eine üppige Mikroflora und fauna heran. Bedeutet die „Weltinfektion“ eine Löſung des Arzeugungsproblems? Sie enthebt jedenfalls zunächſt von der Annahme, daß das Leben auf der Erde ſelbſt erſtmalig entſtanden ſein müſſe; was ſonſt zwingend wäre, da die Erde in ihren gluterfüllten Urzeiten für Lebeweſen un— bewohnbar war. Einige Gelehrte, fo E. Schwalbe und Arrhenius ſelbſt, meinen deshalb, es gebe gar keine andere und eigentliche Löſung des Arzeugungsproblems, d. h. der Frage, wie tote, anorganiſche Subſtanz ſich in organiſierte und lebende verwandle; ſondern das Leben ſei von Ewigkeit her vorhanden, geradeſogut wie die Mineral— ſtoffe. Freilich bliebe zwiſchen dieſen und jenen ein Anterſchied, der, wie Verworn hervorhebt, den logiſchen Verſtand wenig befriedigt: die unorganiſchen Stoffe können an Ort und Stelle beſtanden, von Anfang an die Entwicklung des Weltkörpers, den ſie zuſammenſetzen, begleitet haben; die organiſierten Stoffe aber müſſen immer erſt nachträglich hin— transportiert werden. So ſind andere Forſcher (Weismann, Przibram) zu dem Schluſſe gekommen, mit der „Weltinfektion“ ſei die Amwand— lung toter Subſtanz in lebende nur um undenkliche Zeiträume rückver— ſchoben; irgendeinmal müſſe aber erſtmalige Entſtehung des Lebens ſtattgefunden haben, und das Arzeugungsproblem ſei daher nach wie vor ungelöſt. Dieſer Folgerung ſchließen wir uns um ſo lieber an, als die Entwicklungslehre zeigt, daß auch die unorganiſchen Stoffe in ihrer gegenwärtigen Geſtalt nicht „von Arbeginn“ beſtanden haben; daß nicht ewiger Beſtand, ſondern ewiger Wechſel, ſtete Amgeſtaltung die Loſung des Lebens wie des Todes ſei. Das einzelne Geſchöpf entwickelt ſich aus den Keimzuſtänden zum ausgewachſenen Zuſtand; es ſtirbt dann und zerfällt unter Rückverwandlung in anorganifche Subſtanz; aber auch anorganiſche Elemente zerfallen und bauen ſich wieder auf. Eins geht ins andere über; durch zahlloſe Zwiſchenſtufen iſt verbunden, was in Endgliedern weit getrennt erſchien. And ſo führt auch wohl eine kontinuierliche Reihe herauf von den einfachſten lebloſen Stoffen bis zu den höchſten Stufen des Lebens. Das „Zeugnis der Kriſtallographie“ kann uns bald mehr darüber ſagen. 19
2. Zeugnis der Paläontologie
In den Geſteinsſchichten unſerer Erdrinde find viele Reſte von Tieren und Pflanzen früherer Epochen enthalten; ſchürfen wir bis in die tiefſten hinab, die noch Verſteinerungen („Foſſilien“) ent: halten — vielleicht können wir ſo über die Anfänge des Lebens Aufſchluß erhalten?
Vor kurzem ſah man die verſteinte Fauna und Flora des „Kam— briums“, der tiefſten Formation innerhalb der paläozoiſchen Periode oder des Altertums der Erde als älteſte organiſche Dokumente an. Jedoch enthalten die dortigen Tonſchiefer, Sand- und Kalkſteine bereits eine ſo große Mannigfaltigkeit verhältnismäßig hochentwickelter Formen, daß man die kambriſche Tier- und Pflanzengeſellſchaft nicht als erſt— entſtandene anerkennen darf, es ſei denn, man wolle zu einem über— natürlichen Schöpfungsakt Zuflucht nehmen. Hinſichtlich der Pflanzen— welt ginge es noch: denn ſie tritt zunächſt nur mit Seetangen (Algen) auf; die Tierwelt hingegen iſt ſofort nicht nur durch Artiere, ſondern durch Hohltiere, Würmer, Stachelhäuter und Gliederfüßler vertreten, alſo durch ſämtliche Stämme mit Ausnahme der Wirbeltiere.
Im Laufe des letztverfloſſenen Vierteljahrhunderts ſind nun auch in Schichten, die unter dem Kambrium liegen und den Namen „Al— gon kium“ erhielten, Lebensſpuren von altertümlichem Gepräge gefunden worden. Zwar find Carpenters und Dawſons „Eozoon“, Emmons' „Palaeotrichis“, Matthews Kieſelſchwammnadeln u. a. mit Wahrſchein— lichkeit als „Pſeudofoſſilien“, als ſcheinbare Verſteinerungen entlarvt (das Eozoon z. B. als mit Kalk wellig gebänderte Serpentinballen); und bietet auch das Vorhandenſein von Graphit und Schungit (alſo Kohlenſtoffen, die möglicherweiſe organiſchen Urſprungs ſind) keine unbedingte Garantie: die von Cayau beſchriebenen Kreide- und Strahl— tierchen, ferner Quallenpolypen, Kriechſpuren von Würmern (Walcott), Armfüßler (Tanner), Stachelhäuter, Weichtiere und Krebſe laſſen keinen Zweifel, daß das Algonkium in beſonders urſprünglichen Arten an— nähernd dieſelben Stämme beſeſſen hat wie ſpäter das Kambrium.
Das beweiſt nun zwar die Richtigkeit der gleich anfangs, als die algonkiſche Fauna noch nicht entdeckt war, geäußerten Vermutung: nämlich, daß die kambriſche Fauna nicht die älteſte ſein könne. Allein es bringt uns den wirklich erſten Lebensrepräſentanten der Erde kaum um einen Schritt näher. Denn wenn nicht die meiſten Tatſachen, die uns von anderen Wiſſensgebieten, namentlich von der Entwicklungs— lehre, aufgezeigt werden, falſch ſind, ſo müſſen die erſten Lebeweſen einfachſte, nur aus einer Zelle beſtehende mikroſkopiſch kleine Gebilde geweſen ſein; und ihnen müſſen die ſchon etwas zuſammengeſetzteren größeren Organismen in viel allmählicherer Reihe gefolgt ſein. Ein— fache Überlegungen zeigen denn auch, daß die Verſteinerungskunde (Paläontologie) dem Anſpruch, die erſten Spuren des Lebens aufzu— decken, unmöglich genügen konnte: der Schluß, daß die unteralgonkiſchen
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Formationen, die bereits der Urzeit (archäiſchen Periode) ange— hörenden azoiſchen Schichten keine Fauna und Flora enthielten, weil ſie jetzt keine organiſchen Reſte mehr erkennen laſſen — dieſer Schluß iſt voreilig und bindet nicht. Gerade wenn, wie die Entwicklungslehre es verlangt und die Verſteinerungskunde ſpäterer Perioden beſtätigt, die Entwicklung der Gruppen immer mit ſehr kleinen Formen einſetzt, mußten dieſe bei der allgemeinen Lückenhaftigkeit des uns überlieferten foſſilen Materials am ſchwerſten gefunden werden. Ferner entbehren gewöhnlich die erſten Vertreter der Gruppen ſchützender, erhaltungs— fähiger Hartteile (Schalen, Skelette), — ihre Weichteile aber verweſten natürlich ſpurlos; primitive Artiergehäuſe kommen überdies (ſiehe darüber das folgende Kapitel über „Leben und Tod“) in ſo grobmechaniſcher Weiſe zuſtande, daß man etwaigen Aberbleibſeln nie mit Sicherheit den organiſchen Arſprung anzuſehen vermöchte. Endlich — und dies iſt viel— leicht das entſcheidende Argument — mußten etwaige Verſteinerungen in der älteſten Erſtarrungskruſte durch die ausgedehnten vulkaniſchen und tektoniſchen Kataſtrophen, die von zahlreichen Faltungen, Brüchen und Verwerfungen bezeugt werden, mehrfach umgeſchmolzen und da— durch für unſer Auge vollends unkenntlich gemacht werden.
3. Zeugnis der Phyſiologie
Wir ſehen uns mithin nochmals auf den Standpunkt zurückgedrängt, wonach, was uns die Vergangenheit vorenthält, in der Gegenwart nach— geholt werden müſſe; wenn uns Welt-, Erd- und Verſteinerungskunde verſagen, den Arſprung des Lebens zu enträtſeln, wir trachten müſſen, vor unſeren Augen Leben entſtehen zu ſehen.
In der Kinderzeit der Naturforſchung, noch im 17. und 18. Jahr— hundert, machte man ſich's diesbezüglich gar bequem: da ſollten Regen— würmer und Engerlinge aus feuchter Ackererde, Band- und Spulwürmer aus Fäkalien im Darm, Flöhe aus uringemiſchtem Staub in der Dielenritze, Fliegenmaden aus faulem Fleiſch, Mäuſe aus ſchmutzigen Hemden und Weizenmehl (van Helmont) „von ſelbſt“ entſtehen. Beſſere Beobachtung und Anwendung einfacher Vergrößerungsgläſer ermög— lichte es Swammerdam, Harvey u. a., die bis dahin überſehenen kleinen Eier all jener Tiere an ihren Entſtehungsorten aufzufinden; und Redi wies nach, daß das Fleiſch keine Maden hervorbringt, wenn man den Fliegen durch Gitter den Zutritt verwehrt. „Omne animal ex ovo“ („Jedes Tier entſteht aus einem Ei“) wurde zum wiſſenſchaft— lichen Sprichwort. — Als die Vergrößerungslinſen vervollkommnet und in kombinierter Anordnung, als Mikroſkope, verwendet wurden, tauchte freilich die Wunderwelt der Artierchen auf, die ſich nicht durch Eier, ſondern einfach durch Zerfall ihres winzigen Leibes vermehren. Man bereitete ſich Artierkulturen, indem man ein Bündel Heu mit Waſſer übergoß und ſtehen ließ: das reine Waſſer hatte vorher nichts von ihrer Anweſenheit verraten; mit trockenem Heu konnten doch wohl waſſer—
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lebende Geſchöpfe auch nicht in den Aufguß gelangt fein; alſo mußten ſie aus den dort verweſenden Stoffen erſt entſtanden ſein.
Indeſſen zeigten Spallanzani, Koch und Paſteur, daß in verkorkten oder noch anders und beſſer („keimfrei“) verſchloſſenen Gläſern kein Leben entſteht, falls man den Heuabguß vorher hatte aufkochen laſſen; jetzt erſt wurde man auf die eingekapſelten („enzyſtierten“) Keime auf: merkſam, die am dürren Graſe haften und in dem Augenblicke, da ſie mit Waſſer in Berührung treten, die vor gänzlichem Eintrocknen ſchützende Hülle verlaſſen, nach faſt beliebig langem Trockenſchlaf oder Scheintod ein neues Leben beginnen. Die faulenden Heu- oder Strohhalme — vorzüglich eignet ſich auch in der Luft getrockneter und nachher pulveri— ſierter Salat — ſind nur inſofern Bedingung für das Gedeihen der Kultur, als ſie ihr nunmehr die nötige Nahrung liefern; ſonſt könnte man ebenſogut andere Gegenſtände mit großer Oberfläche, woran ſich viel Staub mit dareingemengten Keimen hängt, — Papier, Fetzen oder ein Häufchen Staub ſelber dazu verwenden. Seitdem durch Schleiden die Pflanzen-, durch Schwann die Tierzelle entdeckt und das glaſig— ſchleimige Klümpchen der Urwefen, wie es den Naturfreunden nach Erfindung des Mikroſkops im Heuaufguß vor Augen kam, als eben— ſolche Zelle feſtgeſtellt war, — als Elementarorganismus gleich den— jenigen, die zu Tauſenden und Abertauſenden die größeren Lebeweſen aufbauen: ſeitdem mußte das alte Sprichwort moderniſiert werden und lautete: „Omnis cellula e cellula“ („Jede Zelle entſtammt wieder einer anderen Zelle”)! E
Durch die Experimente von Spallanzani, Koch und Paſteur war nun aber keineswegs, wie es die Zeitgenoſſen und noch manch Spätere verfochten, die Möglichkeit einer Arzeugung, und ſei es nur für die Gegenwart, widerlegt. Es war nur unwahrſcheinlich geworden, daß Arweſen der Laboratoriumskulturen darin durch Generatio spontanea entſtehen. Mit künſtlichen Aufgüſſen ſind doch wohl die Bedingungen, unter denen Urzeugung ſtatthaben könnte, längſt nicht erſchöpft; und was die Aufgüſſe ſelbſt betrifft, ſo wies ſchon Treviranus, dem der geniale Johannes Müller gefolgt iſt, darauf hin, daß durch Kochen und Luftabſchluß eine Anderung des Aufguſſes bewirkt werde, die ihn fernerhin für das Entſtehen und Beſtehen von Leben untauglich zu machen imſtande ſei. Soweit ſich der Einwand auf die Luft— zufuhr erſtreckt, iſt er zwar von Schröder und Duſch, die durch Baum— wolle filtrierte Luft zuleiteten, und von Hoffmann, der etwa von außen einfallende Keime nur durch 8-förmige Biegung des Flaſchenhalſes abhielt, widerlegt worden. Jedoch der ernſtere Einwand, daß im Subſtrat ſelbſt durch ſeine Steriliſierung nicht bloß bereits vorhandene lebende Keime, ſondern auch zu ihrem Entſtehen nötige Vorſtufen zerſtört, ihres organismenbildenden Zuſtandes beraubt werden, blieb nach wie vor aufrecht.
Die Behauptung, alle Möglichkeiten der Urzeugung ſeien an jenen Steriliſationsverfahren geſcheitert und es ſei damit nachgewieſen, daß 22
Arzeugung, wennſchon vielleicht in phyſikaliſch anders beſchaffener Arzeit, jo doch jetzt nicht mehr vorkomme —, dieſe bei negativen Verſuchs— ausfällen um ſo gewagtere Behauptung werden wir nicht anerkennen; ſchon deshalb nicht, weil es nachweislich einen Ort gibt, wo ſich unter unferen Augen immerfort der Aufbau mineraliſcher Subſtanzen zunächſt in organiſche, noch nicht lebende Subſtanzen und dann in lebendes Plasma vollzieht: die Pflanzenzelle. Insbeſondere beſitzt das Blatt— grün (Chlorophyll) hier die wunderbare Fähigkeit, aus Kohlenſäure den Kohlenſtoff abzuſpalten; aber auch aus Waſſer gewinnt die Pflanzen— zelle den Waſſer- und Sauerſtoff, aus Ammoniak oder Salpeter den Stickſtoff und vereinigt ſpäter, was ihr bisher kein von Menſchenhand betriebenes chemiſches Laboratorium nachmacht, dieſe zum Aufbau der Eiweißkörper notwendigen Elemente im Biomolekül. Würden durch dieſen Prozeß der „Anähnlichung“ (Aſſimilation) neue Lebeweſen geſchaffen, ſtatt bloß bereits beſtehende bereichert und fortgepflanzt, ſo könnte man von Arzeugung ſprechen; jedenfalls beweiſt er aufs ſchlagendſte die phyſiologiſche Möglichkeit, Stoffe, die dem Steinreich angehören, ſo umzubauen, daß ſie in ihrer Syntheſe Leben bekommen.
4. Zeugnis der Chemie
Mit Feſtſtellung der Pflanzenaſſimilation iſt eigentlich ſchon ge— ſagt, daß die lebende Subſtanz keine beſonderen Grund— ſtoffe enthält, die nur in ihr vorkommen; ſondern durchweg ſolche, die wir auch in der unbelebten Natur kennen. Zu den vier vorhin genannten weſentlichſten — Kohlen-, Stick-, Sauer- und Waſſer— ſtoff — kommen als regelmäßige oder mehr gelegentliche Zutaten Eiſen, Schwefel, Phosphor, Natrium, Kalium, Kalzium, Chlor, Magneſium, Silizium, Fluor, Brom, Jod, Aluminium und Mangan. Hier könnte zwar eingewendet werden, daß jene Elemente, wo ſie in der unorganiſchen Welt vorkommen, nur als Endergebniſſe des Zerfalles, als Derivate ehemaligen Lebens aufzufaſſen ſeien, — und am eheſten könnte dies etwa vom Kohlenſtoff gelten; allein der Einwand ſchwebt haltlos unbeweisbar in der Luft, trotzdem er von einem franzöſiſchen Autor, der die ganze Erdoberfläche als ein Produkt von Lebeweſen anſprach, in dieſer Form verſuchsweiſe vorgebracht wurde.
Iſt es ſomit vollſtändig gelungen, lebende Subſtanz in ihre Einzel: teile zu zerlegen (zu analyſieren), ſo iſt es umgekehrt auch gelungen, aus dieſen Elementen organiſche Stoffe künſtlich aufzubauen (zu ſyn— thetiſieren). Nur, ihnen auch Leben einzuhauchen, organiſche Subſtanz zur organiſierten zu machen, iſt nicht gelungen. Wöhler ſchuf ſchon zu Beginn des 19. Jahrhunderts künſtlichen Harnſtoff, alſo wenigſtens ein Abbauprodukt des Lebens; auf ſolche Diſſimilationsſtoffe beſchränkten ſich lange die ſynthetiſchen Verſuche; bis durch Emil Fiſcher u. a. nach— einander Kohlehydrate, Fette und einfachere eiweißartige Körper her— geſtellt wurden, alſo bereits alle Hauptverbindungen, aus denen ſich der
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Geſamtorganismus zuſammenſetzt und die daher auch, behufs Erſatz verbrauchten Materials, ſein Nahrungserfordernis bilden. Doch iſt es wiederum jo, daß nur der ſchon lebende Organismus ſelbſt es vermag, die Nahrungsſtoffe ſeinem Leben dienſtbar zu machen: der Chemiker vollbringt die imponierende Leiſtung, die Lebensſtoffe vorzubereiten; aber ſie zu lebendigem Tun zu mengen, — dieſe höchſte Syntheſe gelang ihm noch nicht.
5. Zeugnis der Phyſik
Das Leben iſt eben nicht allein als chemiſches Problem zu be— greifen: das Lebeweſen beſitzt nicht bloß eine chemiſche, ſondern auch eine phyſikaliſche Struktur. Hier iſt ein Weg offen, auf dem die Er— oberung des Lebens abermals nach einer neuen Seite hin weiter vor— ſchreiten kann. Die Forſchung muß dabei vorgehen wie ein Belage— rungsheer, das der Feſtung eines ihrer Forts nach dem anderen einzeln wegnimmt; hat es alle, ſo hat es auch die befeſtigte Stadt.
Kehren wir flüchtig nochmals zu jener Hypotheſe zurück, wonach Pilzſporen, Bakterien u. dgl. vom Strahlungsdruck in den Weltenraum entführt werden, um irgendwo auf fernem, fremdem Planeten zu landen. Halten wir dieſe kosmologiſche Spekulation zuſammen mit der geo— logiſchen Erkenntnis, daß Leben nur auf einem Himmelskörper erſtehen und beſtehen kann, der eine feſte, eine flüſſige und eine luftige Hülle hat. Die Gründe dafür ſind einfach darin gelegen, daß die Lebeweſen ſelber, wie wir ſie kennen, in ſich die drei Aggregatzuſtände vereinigen: die eigentliche lebenstätige Subſtanz, der Bildungsſtoff oder das Plasma, befindet ſich in einem Zuſtand, der zwiſchen feſt und flüſſig die Mitte hält; das Plasma iſt ein flüſſig-feſtes, zäh-fließendes oder weiches Aggregat, welcher Beſchaffenheit es das „Bildſame“, „Plaſtiſche“ verdankt, das in dem Namen ausgedrückt iſt und in der Vielgeſtaltig— keit der Lebensformen ſeinen realen Ausdruck findet. Das Plasma ſcheidet aber auch ganz ſtarre Produkte ab (Schalen, Knochen, Holz), birgt in ſich flüſſige Produkte (Blut, Zellſaft) und bewahrt Einſchlüſſe gasförmiger Qualität. Ein derartiger Organismus iſt nur denkbar in Medien und Temperaturen, die gleichfalls alle drei Aggregat— zuſtände und deren Abergänge zulaſſen. Damit allein ſind den Tem— peraturbedingungen des Lebens ſchon gewiſſe Grenzen gezogen.
Bedenken wir weiter, daß der Bildungsſtoff demſelben Geſetze ge— horcht, der auch alle anderen Körper zwingt, bei beſtimmter Temperatur— höhe in tropfbar-flüſſigen, bei gewiſſer Temperaturtiefe in ſtarr-feſten Zuſtand überzugehen. Nur daß dieſe Tiefe und jene Höhe der Tem— peratur für jeden Körper anders liegt; nicht einmal alle Plasmen, aus denen die millionenfältigen Tier- und Pflanzenarten und ihre Organe beſtehen, verhalten ſich diesbezüglich übereinſtimmend. Dadurch erfahren die Temperaturgrenzen, denen das Leben gewachſen iſt, erfährt auch die im Maßſtabe der Aonen raſch vorübergehende Epiſode, in der ein 24
Stern bewohnbar bleibt, abermalige Einengung. Die Bäume Sibiriens trotzen einer Winterkälte von — 60° C; in heißen Quellen leben manche Schnecken und Algen noch bei + 60° C; damit dürften fo ziemlich die äußerſten Punkte gegeben ſein, bis zu denen Plasma ſeine zähflüſſige Konſiſtenz noch bewahren kann, ohne nach oben hin, unter Ausſcheidung einer leichtflüſſigen Maſſe, in feſte Form überzu— gehen (zu „gerinnen“), nach unten hin ſtarr zu werden Gu „ers frieren“). Plasma einer polaren Pflanze würde aber ſelbſtverſtändlich ſchon bei weit niedrigerer Temperatur als + 60 C zerrinnen; Tropen— oder Heißwaſſerbewohner ſchon bei weit höherer Temperatur als — 60° eingehen; die angegebenen Grenzen gelten alſo nur für das Leben im allgemeinen, nicht für ſeine einzelnen Vertreter, denen noch engere Grenzen geſteckt ſind. Die Grenzen gelten aber dabei nur für Lebens— tätigkeit, nicht — das ſei jetzt im Hinblick auf die Theorie der „Welt— infektion“ betont — für latente Lebens fähigkeit.
Nach oben hin fallen allerdings die beiden Grenzen, für Lebens— tätigkeit und Lebensfähigkeit, für wirklichen Tod und Scheintod ziemlich zuſammen; die Gerinnung („Koagulation“) beſteht nämlich nicht nur im Feſtwerden vorher halbflüſſig geweſener Eiweißkörper bei der „Hitze— ſtarre“, ſondern es gehen dabei noch andersgeartete, nämlich chemiſche Veränderungen im Plasma vor ſich, die deſſen Entartung („Denaturie— rung“) bedingen. Während bloßer Wechſel des Aggregatzuſtandes jederzeit umkehrbar („reverlibel”) iſt, alſo ein geſchmolzener Körper jederzeit in den früheren feſten Zuſtand zurückkehren kann, ſobald äußere Verhältniſſe es erlauben, find die chemiſchen Zerſtörungen bei der Eiweiß— gerinnung oft nicht rückgängig zu machen („irreverſibel“).
Anders bei der „Kälteſtarre“: das Einfrieren der Plasmen iſt bei vielen niederen Tieren und Pflanzen faſt ebenſo leicht und unbe— ſchränkt aufhebbar, wie etwa Eis jederzeit wieder auftauen kann. Das Außerſte, ſoweit bisherige Beobachtung lehrt, leiſten die Sporen des Milzbrandbazillus, die in Verſuchen von Macfadyen bei den Tempera— turen der flüſſigen Luft (— 190° O) wochenlang, bei der des flüſſigen Waſſerſtoffes (— 252° CO) 10, nach Arrhenius 20 Stunden lang, bei — 200° C 6 Monate und länger ohne Schaden aushielten. Dieſe experimentell bewieſenen Tatſachen ſind es nun gerade, deren die Theorie der Weltinfektion, um überhaupt möglich zu erſcheinen, bedurfte, denn im Weltraum würden die Keime einer Kälte von mindeſtens — 200° C begegnen. Aber nicht bloß erhalten bleibt die Lebens— fähigkeit dem kältefeſten Keim, ſondern ſie wird ihm unvergleichlich länger aufbewahrt, als wenn er ſie in reger Lebenstätigkeit raſch ver— zehren müßte. Ein kalter, luftleerer Raum, wie der Weltraum ihn darſtellt und wie er im Laboratorium unter der Luftpumpe künſtlich nachgemacht werden kann, bietet gar keine Gelegenheit, Lebensenergien für Aſſimilations- und Bewegungszwecke zu verausgaben. Ahnlich wie man eingefrorenes Fleiſch jahrelang friſch und genießbar erhält, während es freiliegend in wenig Tagen verfaulen müßte; ſo konſerviert ſich das
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Bakterium, deſſen individuelles Leben unter normalen Amſtänden viel: leicht kaum nach Stunden zählt, in der Eiſeskälte ſicher monate, wahr: ſcheinlich viele, viele Jahre lang.
So weit alſo erſcheint die Hypotheſe der „Planetenimpfung“ phyſikaliſch gut geſtützt; aber auch die (ihr nicht notwendig wider— ſprechende) Hypotheſe von der erdheimatlichen Entſtehung des Lebens hat jüngſt durch phyſikaliſche Vorgänge große Förderung erfahren. Der osmotiſche Druck, den miſchbare Flüſſigkeiten bei ihrem Durch— tritt durch poröſe trennende Häute („Membranen“) ausüben, läßt in Verſuchen von Leduc, Quincke, Benedikt und Stadelmann anorganiſche
Stoffe zu champignon-, aſt- und gliedmaßenähnlichen Gebilden heran— wachſen, die beſtimmten Gruppen und Arten von Lebeweſen täuſchend ähnlich ſehen (Abb. 1). Bedeckt man z. B. den Boden einer Kriſtalliſier— ſchale mit reinem Sand, ſtreut verſchiedengroße Kriſtalle von chrom— ſaurem Kali, Eiſen- und Kupferſulfat darüber und füllt dann die Schale, die an ruhigem Orte ſtehen bleibe, mit verdünntem Waſſerglas, ſo ent— wickelt ſich ein ſcheinbarer Pflanzenwuchs aus blauen, grünen und braunen Bäumchen. Beſonders frappierend wirkt es, daß die osmoti— ſchen Gebilde, wenn ſie unter Süßwaſſer zuſtandekommen, tatſächlich in Binnengewäſſern vorkommende Formen, Fadenalgen, Schimmelpilze, Mooſe, Malermuſcheln u. dgl. kopieren; wenn ſie aber unter Seewaſſer wuchſen, im Meere lebenden Formen, wie Röhrenwürmern, Napfſchnecken, Auſtern, Hydroidpolypen, Aktinien, Kalkalgen uſw. ähneln. Nicht bloß in den äußeren Formen, ſondern auch in der inneren, zelligen Struktur, 26
in Verhältniſſen des Stoffaustauſches und Wachstums haben die osmoti— ſchen Gebilde viel Abereinſtimmendes mit echten Lebeweſen. Insbeſon— dere Ledue hat denn auch aus ſeinen Erzeugniſſen weitgehende Schlüſſe für Entſtehung des Lebens gezogen: nicht bloß die Arzeugung einzelliger Organismen, ſondern ſelbſt höherer Pflanzen und Tiere bis zu den Wirbeltieren hinauf wäre durch ſein Verfahren klar geworden. Der Amſtand, daß auch die verſteinerten Arkunden des erſten Lebens in der algonkiſchen und kambriſchen Formation gleich mit ſolcher Fülle gut— differenzierter Formen einſetzen, iſt immerhin dadurch einer neuen Be— leuchtung zugänglich. Trotzdem ſchießt jene Folgerung wahrſcheinlich übers Ziel hinaus: es handelt ſich ja nur um Auftreten von Grenz— flächen an Berührungsſtellen verſchiedener Stoffe, wobei umhüllte Teile durch den osmotiſchen Druck der die Membran paſſierenden Flüſſigkeit ausgedehnt werden. Zweifellos aber gebührt Ledue das Verdienſt, die Mannigfaltigkeit der organiſchen Formen unſerem Verſtändnis wiederum weſentlich näher gebracht zu haben.
6. Zeugnis der Kriſtallographie
Am nächſten jedoch von allen gegenwärtigen Erkenntniſſen bringt uns der Löſung des Urzeugungsproblemes die Lehre von den Kriſtallen. In neuerer Zeit wurden eine Menge von Eigenſchaften an ihnen ent—
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aus Monobromnaphthalin. (Nach O. Lehmann im „Prometheus“ XXV, 1.)
deckt, die dieſe regelmäßigſten, man möchte ſagen planmäßigſten Gebilde der unbelebten Natur den Organismen verwandt erſcheinen läßt. Gar aber ſeit Auffindung der flüſſigen Kriſtalle (Abb. 2) durch Vor— länder und Lehmann geht man kaum fehl, in ihnen die eigentlichen Zwiſchenglieder des anorganiſchen und der organiſchen Naturreiche zu erblicken. Tiefere Gründe dafür ſowie die Aufzählung ihrer einzelnen Ahnlichkeiten („Analogien“) und Gleichheiten („Homologien“) mit Organismen ſoll das nächſte Kapitel („Leben und Tod“) beibringen;
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bier find die flüffigen und fließend-weichen Kriſtalle nur inſoweit zu berück— ſichtigen, als ſie bereits unmittelbar in die Geſchichte des Arzeugungs— problems, ſeiner wirklichen oder vermeintlichen Löſung, hineingeſpielt haben.
„Von überwältigender Schönheit,“ ſagt Pauli, „ſind die lebhaften Wachstums- und komplizierten Bewegungserſcheinungen, die Lehmann an flüſſigen Kriſtallen gezeigt hat und bei denen der Beſchauer den Eindruck hat, das Leben und Treiben temperamentvoller Organismen vor ſich zu haben.“ Sie gleichen ſich krümmenden Würmern, gleitenden Schlänglein, kriechenden Amöben, Bakterien und Kieſelalgen, rollenden Infuſorien und rudernden, durch Geißelſchläge ihres „Schwanzes“ fort— bewegten Samentierchen; faſt alle Hauptformen, in denen wir auch Ur- tierchen und Arpflänzchen auftreten ſehen, find unter ihnen zugegen. So wird in der Tat ſogar der geübte Mikroſkopiker, wenn er ins Kriſtall—
gewimmel eines Löſungstropfens blickt, zunächſt glauben dürfen, er blicke
Abb. 3. Künſtliche Zellen („Baryum-Zytoden“), in Meerwaſſer „kultiviert“: links in Teilung, Mitte nach eben vollendeter Teilung, rechts ein Haufen („Kolonie“) bei- ſammenbleibender Baryumzellen.
(Nach Kuckuck.)
ins Protiſtengewimmel eines Sumpfwaſſertropfens. Derartige Irrtümer, die man mit Rückſicht auf den ſozuſagen „halblebenden“ Zuſtand der flüſſigen Kriſtalle nicht einmal grob nennen kann, ſind denn ſchon wiederholt vorgekommen; wiederholt vermuteten Forſcher, die in einer Löſung fließende Kriſtalle ſich formen und bewegen ſahen, Arzeugung echter Lebeweſen entdeckt und hervorgerufen zu haben. Dem nahe— ſtehende Fälle bieten die Radioben von Butler-Burke, entſtanden durch Einwirkung von Radium auf ſterile Gelatine; die Helioben von Ramſay; die Eoben oder Vakuoliden von Dubois, erhalten durch Einwirkung anorganiſcher Baryums, Radium- und Magneſium— ſalze auf organiſche Medien, ſowie die Baryumindividuen von Kuckuck (Abb. 3). Auch die reichhaltigen „Faunen“ und „Floren“, die Baſtian in vorher ſteriliſierten Nährböden nach Erkaltung auftreten ſah, ja ſelbſt Schwefelblumen und die Eisblumen unſerer winterlichen Fenſter als Beweiſe dafür, daß einfachſte anorganiſche Stoffe kom— plizierte organismenähnliche Geſtalten anzunehmen vermögen, gehören hierher oder zu den im früheren Abſchnitt erwähnten osmotiſchen Ge— bilden (Myelinformen).
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nu
Iſt mithin die alte Forderung, künſtlich aus unorganiſcher Subſtanz organiſierte zu ſchaffen, noch immer unerfüllt, ſo iſt doch ein anderer Anſpruch, der befriedigt ſein mußte, wollte man fernerhin ernſtlich über Arzeugung diskutieren, in glänzender Weiſe verwirklicht worden: die Aufſtellung von Abergangsgliedern zwiſchen Mineralien- und Organismenreich. In ähnlicher Art wie recht verſchiedene Gruppen des Tier- oder Pflanzenreiches da— durch, daß man Zwiſchenſtufen entdeckte, ſich als ſtammverwandt zu er— kennen gaben, ſo iſt dies jetzt auch zwiſchen den Naturlörpergruppen höchſten Ranges, toten und lebenden Naturreichen, zutreffend geworden. So gut ſich die Abſtammungslehre z. B. mit Auffindung des bezahnten und geſchwänzten, eidechſenartigen Arvogels (Archaeopteryx) zufrieden geben muß und nicht die experimentelle Amwandlung eines Reptils zum Vogel verlangen kann, fo ſei auch der Arzeugungslehre einſtweilen mit Feſtlegung einer kontinuierlichen Reihe gedient, die Anorganismen und Organismen künftig nicht mehr durch eine jähe Kluft getrennt ſcheinen läßt. Zweifellos iſt das Ideal der Forſchung damit noch nicht erreicht; allein wir ſtehen der Eventualität, daß UArzeugung vielleicht () doch nur in allgemein heißeren Arzeiten der Erde möglich war, nicht mehr reſi— gniert und wehrlos gegenüber.
Literatur über Arzeugung:
Arldt, Th., „Wohnſtätten des Lebens“. Leipzig, Th. Tomas, 1910.
Arrhenius Svante, „Das Werden der Welten“. Leipzig, Akademiſche Verlagsgeſellſchaft, 1908.
Baſtian, H. Ch., „The Evolution of Life“. London, Methuen & Co., 1907.
Butler Burke, I, „The Origin of Life“. London, Chapman & Hall, 1906.
Le Dantee, F., „Theorie nouvelle de la vie“. Paris, F. Alcan, 1896.
Herrera, A. L., „Notions générales de Biologie et de Plasmogenie com— parées“. Aus dem Spaniſchen von G. Renaudet, mit Vorwort von M. Benedikt. Berlin, W. Junk, 1906.
Hirt Walter, „Das Leben der anorganiſchen Welt“. München, E. Rein— hardt. 2. Aufl., 1914. (Durchaus dilettantenhaft, ſehr verfehlte Schlüſſe.)
Kuckuck, M., „Die Löſung des Problems der Arzeugung“. Leipzig, Joh. A. Barth, 1907. (Die „Löſung“ bringt das Buch wohl nicht, aber be— achtenswerte Anregungen.)
Münden, Max, „Der Chthonoblaſt, die lebende biologiſche und morpho— logiſche Grundlage alles ſogenannten Belebten und Anbelebten“. Paſteur, L., „Die in der Atmoſphäre vorhandenen organiſchen Körperchen. Prüfung der Lehre von der Arzeugung“. (1862.) Oſtwalds Klaſſiker
der exakten Wiſſenſchaften, Nr. 39. Leipzig, W. Engelmann, 1892.
Preyer, W., „Naturwiſſenſchaftliche Tatſachen und Probleme“. Berlin 1880.
Schwalbe, Ernſt, „Die Entſtehung des Lebendigen“. Jena, G. Fiſcher, 1914. (Verſtimmt durch Feſthalten des Grundſatzes vom „Ignora— bimus “.)
(Vgl. auch die Literatur zum folgenden Kapitel über „Organismus und
Anorganismus“.)
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1. Leben und Tod (Organismus und Anorganismus)
1. Allgemeine Eigenſchaften der lebenden Subſtanz a) Phyſikaliſch-chemiſche Eigenſchaften
Schon in den vorigen Abſchnitten mußte wiederholt auf allgemeine Charaktere der lebenden Materie Bezug genommen werden; ſie laſſen ſich nach drei Geſichtspunkten anordnen, als phyſikaliſche und chemiſche (ſtoffliche), als morphologiſche (geftaltliche) und als phyſiologiſche (lebenstätige) Eigenſchaften.
In chemiſcher Beziehung gehören alle eigentlich lebenden Stoffe (Plasmen) zur hochkomplizierten Gruppe der Eiweiße (Albumine, Proteine); ihr Hauptkennzeichen iſt die anſehnliche Zahl von Atom— gruppen des Sauer-, Stick-, Kohlen- und Waſſerſtoffes, die in ein Molekül zuſammentreten, weshalb man das Biomolekül als das größte unter ſämtlichen Verbindungen anſehen muß. — Die Plasmen ver— ſchiedener Tier- und Pflanzenarten ſind untereinander nicht gleich; ſondern ebenſo, wie ſich äußere Merkmale finden, an denen man z. B. einen Buchfinken von einem Kanarienvogel unterſcheiden kann, ſo exi— ſtieren auch chemiſche Verſchiedenheiten ihrer Körperſtoffe. Innerhalb ein und derſelben Art ſind wiederum die Plasmen der einzelnen Raſſen und Individuen, die wir ja auch an beſtimmten Kennzeichen, ſo bei Menſch und Haustieren an minimalen Zügen, Charakter und Gewohn— heiten auseinanderzuhalten wiſſen, chemiſch untereinander nicht gleich; dies erſtreckt ſich noch weiter auf die einzelnen Körperteile, wo ſich ſtellen— weiſe ſogar ſehr ſtarke chemiſche Differenzen finden, wie zwiſchen Muskel— und Nerven-, zwiſchen dieſer und Leberſubſtanz uſw. Ja innerhalb des— ſelben Gewebes, derſelben Zelle ſind noch regionäre Abgrenzungen chemiſcher Natur nachweisbar, ſo zwiſchen Zelleib und Zellkern. (Genaueres über dieſen Punkt unter „Morphologiſche Eigenſchaften“.) Man darf darin einen zumindeſt graduellen Anterſchied zwiſchen Organismen und anorganiſchen Kriſtallen ſehen, die meiſt in all ihren Regionen chemiſch gleich ſind. Die in Farbe, Form und Funktion gelegenen Kennzeichen der Arten, Individuen, ihrer Organe und Elementarbeſtandteile laſſen ſich vielfach auf chemiſche Anterſchiede zurückführen; doch ſpielt auch die phyſikaliſche Struktur dabei eine große Rolle. Der Nachweis chemiſcher Verſchiedenheiten im Plasma gelingt durch Analyſe, welche die quali— tativen ſtofflichen Anterſchiede aufdeckt; dann durch die Präzipitin— 30
methode, — Bildung eines Niederſchlags, deſſen Menge einen Schluß auf die quantitativen, gradweiſen Anterſchiede erlaubt (genaueres darüber im Kapitel „Abſtammung“); endlich durch Hofmeiſters Methode des Auskriſtalliſierens, wobei ſich die Eiweißkriſtalle ſelbſt nahe verwandter Arten deutlich verſchieden geſtalten, — hier wird der ſtoffliche Anter— ſchied in einen geſtaltlichen übergeführt und dadurch gleichſam in eine uns verſtändlichere Sprache überſetzt.
Die Komplexheit der Eiweißmolekel bedingt es, daß ihr Aufbau leicht geſtört werden kann; die Proteine ſind außerordentlich labile Verbindungen. Schon Zuſatz eines Salzes bewirkt, daß Eiweiß aus einer Löſung verdrängt wird; derart ausgeſalzenes Eiweiß kann aber neuerdings in Löſung treten, der Vorgang iſt umkehrbar, — während Zuſatz von Alkohol, Formol, Schwermetallſalzen („Giften“) gleich der Hitzegerinnung nicht rückgängig zu machende Zerſtörung hervorbringt. Mit der Größe der Eiweißmolekel und dem Aggregatzuſtande hängt es zuſammen, daß Eiweißlöſungen ſchwer in andere Flüſſigkeiten dringen („diffundieren“) und ſchwer durch Häute von der Beſchaffenheit des pflanzlichen Pergaments und der Tierblaſen hindurchtreten („dialyſieren“).
Das iſt eine Eigenſchaft, welche die lebende Subſtanz mit den „Kolloiden“ gemeinſam hat und ſie in Gegenſatz bringt zu den „Kriſtalloiden“, die ſich leicht miſchen und leicht auch durch Membranen wandern. Anter dem kolloiden Zuſtand eines Körpers verſteht man ſeine ſo feine Zerſtäubung, daß die Teilchen ſich in einer Flüſſigkeit (worin er ſich nicht löſen darf) ſchwebend erhalten. Die Teilchen ſind nicht ſo klein wie Moleküle, die bei einer gelöſten Subſtanz im Löſungsmittel ſuspendiert wären; aber ſie geben der in Kolloidform verteilten Subſtanz eine ſehr mächtige Oberflächenentfaltung. Gleichwie z. B. Staubzucker mit Waſſer inniger in Berührung tritt als Stückzucker (und ſich aus dieſem Grunde raſcher löſt), beſitzt auch das Kolloid mit der Flüſſigkeit, worin es ſchwebt, beſonders viele Grenzflächen. Wir werden immer beſſer einſehen, daß die meiſten Lebenserſcheinungen ſich an Flächen äußern, wo zwei verſchiedene Medien, ohne jedoch einander löſen zu können, aneinander grenzen. Die großartigſte Grenzflächenentwicklung leiſtet, wie erwähnt, ein kolloidales Stoffſyſtem.
Die lebenden Stoffe verraten ihre kolloidale Natur noch durch mancherlei andere Eigenſchaften, fo durch ihre Quellbarkeit, d. i. die Eigentümlichkeit, Waſſer nicht bloß in chemiſcher Bindung, ſondern auch zwiſchen die Moleküle aufzunehmen. Im gequollenen Zuftande werden auch die feſteſten Plasmen („Gelee“ im Gegenſatz zur flüſſigen Phaſe oder „Sol“) ſo weit flüſſig, daß ſie einigermaßen den für Flüſſig— keiten geltenden Geſetzen der Oberflächenſpannung folgen. Dies zeigt ſich einesteils in abgerundeten Formen, andernteils in der Fähigkeit, hinter eingedrungenen Fremdkörpern (3. B. Nahrungspartikeln) keine klaffenden Spalten freizulaſſen, ſondern ſich ſofort wieder zu ſchließen.
Vorhin wurde erwähnt, daß die lebenden Stoffe infolge der unge— heuren Zuſammengeſetztheit ihrer Moleküle leicht aus dem chemiſchen
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Gleichgewicht geraten. Darauf beruht ja auch, neben dem weichen, plaſtiſchen Aggregatzuſtand, ihre Bildſamkeit, Veränderlichkeit und Mannigfaltigkeit, wie ſie im Artenwandel und der Stammesentwicklung zum ſinnfälligſten Ausdruck gelangt. Andererſeits wiſſen wir, daß chemiſche Amſetzungen im Plasma, ſoweit ſie nicht zerſtörender (deſtruk— tiver) Beſchaffenheit ſind und demzufolge von übermächtigen Reagentien (beftigen Giften, ſtarken Säuren, hohen Temperaturen) hervorgerufen werden, zugleich mit großer Langſamkeit verlaufen. Im lebenden Plasma, wo wir regen Aufbau und Abbau (Aſſimilation und Diſſimilation) der Stoffe beobachten, find daher Einrichtungen getroffen, um die chemi— ſchen Amgeſtaltungen zu beſchleunigen, hier und da allerdings noch zu verzögern. Beides geſchieht durch eine beſondere Gruppe von Eiweiß— körpern, die Enzyme oder organiſchen Fermente. Anter einem Fer— ment im allgemeinen verſteht man ein chemiſches Reagens, das ſelbſt nahezu unverändert bleibt, während in feiner Anweſenheit und Mitwir— kung große Mengen anderer Stoffe zerlegt oder aufgebaut werden. Der von Fermenten beherrſchte Vorgang iſt nur eine Anderung der Reak— tionsgeſchwindigkeit („Katalyſe“), und die Fermente ſelbſt ſind je nach Amſtänden Reaktionsbeſchleuniger oder -verzögerer („Katalyſatoren“). Sie „wirken auf die chemiſchen Vorgänge ungefähr ſo, wie das Ol auf eine Maſchine, deren Teile rauh ſind und ſtark aneinander reiben. Während die Maſchine bei gegebener Kraft nicht von der Stelle gehen will, ſolange dieſer Zuſtand beſteht, wird ſie ſofort beweglich, ſobald man die rauhen Teile mit Ol glättet und dadurch die Geſchwindigkeit der Bewegung erhöht“. Die Katalyſatoren, alſo auch die Enzyme, „haben niemals die Eigenſchaft, Vorgänge zu ermöglichen, die an und für ſich nicht ſtattfinden könnten, ſondern ſie haben immer nur die Eigen— ſchaft, daß ſie an und für ſich mögliche und wirkliche Vorgänge auf ein anderes Tempo bringen, daß fie ſozuſagen das Pendel ihrer Ahr in mehr oder weniger ſtarkem Maße verkürzen oder verlängern“
(Oſtwald). b) Morphologiſche Eigenſchaften
Fertigen wir, ſehr zweckmäßig mit Hilfe des Raſiermeſſers, einen recht dünnen Schnitt durch ein lebendes Gewebe — vorzüglich eignet ſich dazu pflanzliches Gewebe, etwa ein Laubblatt —, ſo ſehen wir vor uns eine in zahlreiche kleinere Abteilungen geſchiedene Fläche, die an den Plan eines Hauſes mit dem Grundriß der Zimmer erinnert. In ihrer oft mehreckigen Form haben die Abteile auch mit den Zellen einer Bienenwabe einige Ahnlichkeit, die ſchon den erſten Beobachtern ſolcher Gewebsſchnitte (dem Botaniker Schleiden, dem Anatomen Schwann) auffiel, und woher der wiſſenſchaftliche Name „Zelle“ (Abb. 4) beibehalten wurde. Pflanzengewebe eignet ſich aus dem Grunde beſonders gut zur Beobachtung von Zellen, weil ſie darin viel ſchärfer voneinander abgegrenzt ſind als in tieriſchen Geweben; die Zellen um— geben ſich nämlich an ihrer Oberfläche mit einem Häutchen, der Zell—
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membran; dieſe enthält im fan zen reich den — im Tierreich ſeltenen — Holzſtoff (Zellulose), wodurch ſie feſter und dicker wird, während tieriſche Zellen häufig membranlos, nackt erſcheinen. Ein anderer, im Inneren des Zellplasmas gelegener Beſtandteil iſt es jedoch, der mit größter Regelmäßigkeit bei den Zellen zugegen iſt: ein Stückchen feſteres, waſſer— ärmeres, auch chemisch verſchiedenes Plasma — der Kern (Nukleus). Wir dürfen demnachell— leib (Cytoplas— ma) und Zellkern (Karyoplasm a) als ſtändig wieder— kehrende Beſtand— teile anſprechen, die ſich an jeder Tier-, Pflanzen- und Ar- weſenzelle irgendwie vorfinden müſſen, damit man von einer vollwertigen Zelle ſprechen kann; und die es auch ermöglichen, jene kleinen Plasma—
EURER
gebilde als weſens— a RN ae: gleiche Bauſteine ER 6; RR 1 N *
der Organismen wieder zu erkennen. Dazu tritt noch, wie bemerkt, in vielen ( T
Fällen 4 beſonders Abb. 4. Zelle (Schema): k = Kern, p= Protoplasma (Zell: an Pflanzenzellen, leib), worin Filarſubſtanz und Farbkörnchen ſichtbar. Im Kern die den Zellenleib ſieht man links oben das Kernkörperchen, Chromatinkörper und
BR: Achromatinfäden. einhüllende Zellhaut (Aus Guenther, „Vom Urtier zum Menſchen“.)
oder Zellwand.
Die Arweſen (Lrtiere und Arpflanzen) beſtehen nur aus einer ein— zigen Zelle, alle übrigen Tiere und Pflanzen aus vielen Zellen; eine Zelle iſt ſonach das wenigſte, was dazu gehört, um ein Lebeweſen aus— zumachen; wir können fie deshalb mit Recht als „Elementarorga— nismus“ bezeichnen. Nur die Arweſen ſind, von dieſem Standpunkte aus geſehen, einfache Organismen, alle anderen ſind zuſammengeſetzte Organismen.
Die Angabe, daß jede Zelle aus Kern und Leib beſteht, bedarf ſogleich einer gewiſſen Beſchränkung; überhaupt iſt es ja in der Biologie ſelten möglich, wie in den anorganiſchen Naturwiſſenſchaften von ausnahmslos gültigen „Geſetzen“ zu ſprechen, an deren Stelle „Regeln“ häufigſten Vorkommens treten müſſen. In unſerem Falle
Kammerer, Allgemeine Biologie 3 33
foll dies beſagen, daß es Zellen gibt, in denen Unterfcheidung von Kern und Leib nicht ohne weiteres möglich iſt. Von mancher Seite freilich wird die Exiſtenz ſolcher Zellen beſtritten; man beruft ſich darauf, daß in etlichen, ſcheinbar kernloſen Zellen mit Hilfe verbeſſerter Färbe— methoden doch noch ein Kern gefunden wurde; oder daß (wie bei manchen Bakterien) umgekehrt der Zellenleib überſehen wurde, weil er nur in ganz dünner Schicht den Kern umgibt, der die Hauptmaſſe der Bakterien— zelle abgebe. In wieder anderen Protiſtenzellen indes ſteht die Sache ſo, daß man recht gut die den Kern charakteriſierenden Stoffe, beſonders die leicht färbbaren („chromatiſchen“) Nukleinſubſtanzen im Plasma nachweiſen kann; aber ſie haben ſich noch nirgends zur Bildung eines beſonderen, ſcharf umſchriebenen Körperchens verdichtet. Gewiſſermaßen alſo iſt in derartigen Zellen die Gliederung in Leib und Kern auch be— reits vorbereitet; aber nicht in Form einer Lokaliſierung der Maſſen, ſondern nur einer Differenzierung von (vorläufig noch vermiſchten) Stoffen durchgeführt. Dieſe Verhältniſſe trifft man ausſchließlich und mit großer Wahrſcheinlichkeit bei Arweſen, die Haeckel zur Klaſſe der „Moneren“ vereinigte; nach dem gegenwärtigen Stande der (For: ſchung gehören hierher wohl nur noch die Chromaceen (ſogenannte „Spaltalgen“) und Bakterien (ſogenannte „Spaltpilze“). Vielleicht dürfen ſie als urſprünglichſte der jetzt bekannten Lebeweſen aufgefaßt werden: von den Anorganismen wurde geſagt, daß ſie in Geſtalt flüſſiger Kriſtalle Abergangsſtufen zum Lebenden heraufſenden; dann ſind wohl die Moneren, mit diffus im Zelleib verteilten Kernſtoffen und daher größter, in Plasma überhaupt erreichbarer Gleichartigkeit der ſtofflichen Zuſammenſetzung, als Zwiſchenglieder annehmbar, die jene Reihe fortſetzen und daher, wenn man es ſo ausdrücken will, umgekehrt vom Lebenden zum Toten hinabreichen. Wenn wir unſerer Ausdrucks— weiſe Vorſicht auferlegen, ſo geſchieht es nicht, weil wir einen un— überbrückbaren Spalt zwiſchen Organismen und Anorganismen für möglich halten, ſondern weil wir ſeit Erfindung des Altramikroſkopes belehrt worden ſind, daß auch noch die Zellen, gleichwie ſie ſelbſt durch haufenweiſes Zuſammentreten einen Organismus höherer Ordnung kon— ſtituieren, ihrerſeits Konglomerate noch niedrigerer Einheiten ſind, der „Energiden“, die außerdem wahrſcheinlich wieder als ſelbſtändige, ultramikroſkopiſche Lebeweſen („Arenergiden“) den Lebensraum be— völkern.
Zellen, die keine oder nur eine zarte Zellwand haben (alſo vor— wiegend Tierzellen), ſcheiden mit größerer Leichtigkeit als ſtarr umhäutete ihre Abſonderungsprodukte aus, die ſich, wenn von ſchwer zerſtörbarer Beſchaffenheit, rings um die Zelle aufſtapeln und nur langſam oder gar nicht hinweggeſchafft werden. Die Ausſonderung ſolcher Plasma— abſcheidungen muß die Zellen mit der Zeit auseinandertreiben, ja unter Amſtänden ſo bedrängen und drücken, daß ſie auf vorgerücktem Stadium zugrunde gehen, und nur jene Zellenzwiſchen- oder Interzellular— ſubſtanz übrigbleibt. Binde-, Knorpel- und Knochengewebe der 34
Wirbeltiere, die gallertige Stützlamelle der Neſſeltiere u. a. ſind Bei— ſpiele dafür.
Amgekehrt bleibt von Zellen, die harte, zelluloſereiche Wände haben (alſo Pflanzenzellen), nach Zugrundegehen des Zellinhaltes nur die Wand übrig: Holz, Kork und Baſt ſind bekannte Exempel dafür. Es kann ſich auch ereignen, daß die Membran, von der die Zelle um— ſchloſſen wird, nicht allſeits gleich widerſtandsfähig iſt oder in beſtimmter Richtung von beſonderen Druckkräften angegriffen wird. Geſchieht dies bei einer Reihe übereinanderliegender Zellen mit den quer gelagerten Zellwänden, ſo entſteht, da die längs gelagerten Wände übrigbleiben, eine Röhre. Sind die Querwände noch nicht völlig aufgelöſt, ſo iſt das Ergebnis eine Siebröhre; ununterbrochen offene Röhren hingegen ſtellen die Holzgefäße und Milchröhren der Pflanzengewebe dar.
Zelleib und kern find nicht etwa die letzten, ſichtbaren Strukturen des Lebensſtoffes; ſondern jeder Beſtandteil weiſt ſelbſt wieder einen zuſammengeſetzten Bau auf. Zwar die „Wabenſtruktur“, die von Bütſchli und Hofmeiſter für eine allgemeine Eigenſchaft jedes Plasmas gehalten, von erſterem mit Hilfe ſchaumiger Flüſſigkeiten nachgeahmt wurde, hat ſich durch ultramikroſkopiſche Anterſuchung als ſpezielle Eigentümlichkeit zahlreicher Artiere erwieſen; nach Bütſchlis „Waben— theorie“ ſollte feſteres Plasma die Wabenwände errichten, flüſſigeres den Wabeninhalt abgeben und jede ſolche Kammer laut Hofmeiſter ein chemiſches Laboratorium für Herſtellung beſonderer, vom Organismus benötigter Stoffe ſein. Iſt die Annahme einer derartigen Intimſtruktur, ſeitdem wir die Vergrößerungsgrenzen der gewöhnlichen Mikroſkope überſchritten haben, hinfällig geworden; ſo iſt doch in vielen Zellen eine Art gröberer, ſchon mit den üblichen Linſen ſichtbarer Wabenſtruktur vorhanden, deren Gerüſt aus Filarſubſtanz („Spongioplas ma“) beſteht, deren Zwiſchenräume von Interfilarſubſtanz („Hyaloplasma“) erfüllt werden. Hierzu geſellen ſich mancherlei Einſchlüſſe, wie Flüſſig— keits- und gaserfüllte Hohlräume („Vakuolen“), flüſſiger „Zell— ſaft“ in wechſelnder Menge, Ol- und Fetttröpfchen, Dotterkörnchen uſw. Inſoferne die Einſchlüſſe, wenn nicht zu ſehr vorübergehend, ſondern beſtändig, der Zelle wichtige Dienſte zu leiſten haben, alſo kleine Lebens— werkzeuge darſtellen, bezeichnet man ſie als „Organellen“ (Einzahl „organulum“:; der Name „Organ“ wird ihnen vorenthalten, weil er für ein aus vielen ganzen Zellen aufgebautes Lebenswerkzeug reſerviert bleiben ſoll).
Als wichtigſtes Organulum iſt der Zellkern ſelber anzuſehen. Auch er iſt keineswegs einheitlich, ſondern beſitzt ſeinerſeits oft eine Kern— membran aus „Amphipyrenin“ und einen Kern im Kern, nämlich eines oder mehrere Kernkörperchen (Nukleolen) aus „Pyrenin“ oder „Plaſtin“. Weitere Kernſtoffe bilden ein Netzwerk von Fäden, die, weil ſie ſich durch gewöhnliche Farbſtoffe nicht ſichtbar machen laſſen, „Achromatin“ genannt werden. Ihnen ſind ſtark färbbare, ver— ſchiedengeſtaltige Körper ein- und angelagert, die insgeſamt „Chro—
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matin“ heißen. Noch verbleibende Zwiſchenräume werden von einer Flüſſigkeit eingenommen, dem Kernſaft; wenn einigermaßen reichlich vorhanden, verleiht er dem Zellkern das Gepräge eines Bläschens, weshalb man z. B. die Kerne der Eizellen ſtatt „Eikerne“ auch als „Keimbläschen“ bezeichnen hört.
Der Geſamtkern iſt kugelig oder ellipſoidiſch; öfter auf einer Seite gebuchtet und dann bohnen-, nieren- bis hufeiſenförmig; zuweilen ſtab— oder ringförmig; ſeltener perlſchnurförmig oder veräſtelt. Als Regel gehört zu einer Zelle ein Kern; doch gibt es mehrkernige Zellen (Abb. 5, Detail 4) in der Leber, im Knochenmark, bei Aufgußtierchen ein Groß- oder Hauptkern (Makronukleus) und ein bis zwei Klein- oder Nebenkerne (Mikronuklei). Bei Schleimpilzen (unter den Arpflanzen) und Wurzelfüßern (unter den Artieren) iſt Mehrkernigkeit dadurch leicht vorgetäuſcht, daß (vgl. S. 174) nicht auf jede Kernteilung eine Teilung des Zelleibes folgt; ſondern Zellvermehrung in der Weiſe erfolgt, daß ſich zuerſt der Kern mehrmals teilt und dann erſt ſich das Plasma um jedes neugebildete Kernzentrum zerſchnürt. Das iſt alſo dann keine ſtändige, ſondern nur eine durch TFortpflanzungsprozeſſe bedingte, vor— übergehende Vielkernigkeit.
Schließlich iſt eines bis auf den heutigen Tag ziemlich rätſelhaft gebliebenen Zellbeſtandteiles zu gedenken, der wahrſcheinlich allen Gu— mindeſt tieriſchen) Zellen zukommt, wenn er auch manchmal dem Kern eingelagert und dann kaum ſichtbar erſcheint: des Zentralkörper— chens (Zentroſoma), zuweilen in doppelter Zahl, als „Diploſoma“ vertreten. Auf alle Fälle liegt es gerne in ziemlicher Nähe des Kernes, bisweilen ihm in einer Bucht eng angeſchmiegt. Nicht ſelten wird das Auffinden des Zentralkörperchens dadurch erleichtert, daß das Zytoplasma feiner engeren Umgebung als „Zentroplasma“ abweichende Struktur beſitzt.
Schwimmt ein einzelliges Lebeweſen frei in ſeinem flüſſigen Wohn— medium, jo nimmt die Zelle ſtets nach Möglichkeit Kugel- oder doch, durch beſtimmte, rotierende Bewegungsarten bedingt, ſphäroidiſche, ellipſoidiſche Form an; „nach Möglichkeit“ bedeutet eine Be— ſchränkung mit Rückſicht auf das Vorkommen von ſtarren Hüllen und Schalen, die der Zelle eine abweichende Form aufzwingen. Daß aber die Kugel Ar- und Grundgeſtalt der freiſchwebenden Zelle iſt, wird verſtändlich, wenn wir uns an den zähflüſſigen Aggregatzuſtand des Plasmas erinnern; letzten Endes iſt die Zelle ein Flüſſigkeitstropfen und unterliegt deſſen Formgeſetzen. Kriecht der Einzeller auf einer Anterlage, ſo erfährt ſeine Rundgeſtalt eine Abplattung.
Mannigfaltigere Beeinfluſſungen finden ſtatt, wenn die Zelle ihre Selbſtändigkeit verliert und in Gemeinſchaft mit ihresgleichen auftritt (Abb. 5); der Druck von Nachbarzellen läßt dann ebene, erhabene und
vertiefte Flächen entſtehen, während an wieder anderen Stellen ein.
Zug ausgeübt wird und das Zuſtandekommen von Ecken, Spitzen und Zipfeln zur Folge hat. Eine Vereinigung annähernd gleichartiger Zellen nennt man „Gewebe“; abgeſehen von ihrer Verrichtung, wo— 36
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Abb. 5. Verſchiedene Zellformen, im gleichen Maßſtabe vergrößert: la und b weiße, 2a und b rote Blutkörperchen (in b etliche geldrollenförmig aneinanderhaftend, Seitenanſicht), 3 Blutplättchen, 4 mehrkernige Rieſenzelle, 5 Eizelle, 6 Samenzelle, 7 Platten-, 8 polyedriſches Epithel, 9 u. 10 Zylinderepithel, 11 Leberzellen, 12 Spindel- zellen aus Gallertgewebe, 13 Sternzellen, 14 Fettzellen aus Bindegewebe, 15 Knorpels, 16 Knochenzellen, 17 glatte, 18 quergeſtreifte Muskelzellen, bzw. Stück einer quer— geſtreiften Muskelfaſer, 19 motoriſche Ganglienzelle aus dem Rückenmark, 20 Pyramiden— zelle aus dem Gehirn, 21 Ganglienzelle aus dem ſympathiſchen Nervenſyſtem, 22 Stück einer Nervenfaſer mit Markſcheide (innen) und Schwannſcher Scheide (außen); letztere eine röhrenförmig gewachſene Bindegewebezelle. (Nach Fürbringer, aus H. Schmidts Wörterbuch.)
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nach die Gewebe erſt in den Spezialkapiteln „Reizbarkeit“, „Beweg— barkeit“ uſw. zu beſprechen ſein werden, erhielten ſie auch nach der Form der ſie aufbauenden Zellen und nach ihrer Lagerung verſchiedene Namen: flächenhaft angeordnete Gewebe heißen Epithelien (Abb. 5, Detail 7—10), wenn fie Organismen und einzelne Organe außen be— decken; Endothelien, wenn fie fie innen auskleiden. Epi- und Endo— thelien können ein- oder mehrſchichtig ſein, d. h. aus nur einer oder mehreren Lagen von Zellen beſtehen. Nach der Form der einzelnen Epithelzellen unterſcheidet man Platten-, Pflaſter-, Würfel-, Zylinder— und Paliſadenepithel, je nachdem die Zellhöhe geringer iſt als die Breite, ihr gleich oder in zunehmendem Ausmaße größer.
Wie wir im Kapitel „Entwicklung“ genauer hören werden, bilden ſich von Epithelien (und Endothelien) aus vielzellige Wucherungen, die ſich abſpalten; und Einſtülpungen, die ſich abſchnüren. Dadurch ent— ſtehen neue Gewebe, die aber von Epithelien abſtammen und deshalb epitheloide Gewebe genannt werden. Zuweilen verlaſſen einzelne Zellen den epithelialen Verband, wandern durch Ausſtrecken von Lappen eine Zeitlang umher und ſchließen ſich allenfalls ſpäter zu einem „meſenchymatiſchen Gewebe“ zuſammen. Neben den Meſenchym— zellen gibt es im vielzelligen Organismus ſtets auch ſolche, die dauernd ein verhältnismäßig freieres Einzeldaſein führen und ſich nach ihrer Loslöſung nicht wieder den Feſſeln eines geweblichen Zellverbandes anſchließen; es ſind dies die verſchiedenen Sorten von Blut- und Lymphezellen (Abb. 5, Detail 1—3), ſowie vom Momente ihrer Ab— löſung vom „Keimlager“ bis zu ihrer ſelbſtändigen Entwicklung auch die Geſchlechtszellen (Abb. 5, Detail 5 u. 6).
Wie durch Zuſammenſchluß von Zellen ein Gewebe entſteht, ſo vereinigen ſich mehrere verſchiedene Gewebe zu einem Organ, mehrere Organe bold zu einem „Syſtem“, bald zu einem „Apparat“. Ein Organſyſtem bilden zuſammenarbeitende Organe, die den ganzen Körper nach allen Richtungen, gewöhnlich in langgeſtreckter Form als Röhren und Faſern durchziehen (Nerven, Gefäß-, Muskel- und Knochenſyſtem); als Apparat trennt man hiervon Organe, die ebenfalls ein zuſammen— gehöriges Ganzes bilden, aber in konziſerer Abgrenzung (Atmungs-, Verdauungsapparat). Beſondere morphologiſche Wiſſenſchaften, die ſich mit den Geſtalten der Zellen, Gewebe und Organe beſchäftigen, deren ungeheures Erkenntnismaterial aber in der „Allgemeinen Bio— logie“ nur summa summarum verwertet erſcheint, find Zytologie (Zellen— lehre), Hiſtologie (Gewebelehre) und Organographie (Organlehre).
c) Phyſiologiſche Eigenſchaften In der nun folgenden Aufzählung, die nicht viel mehr geben will, als zur Begriffsableitung (Definition) der allgemeinſten phyſiologiſchen Eigenſchaften nötig iſt, ſind die elementaren Fähigkeiten des lebenden Stoffes ſo angeordnet, daß tunlichſt jede die Vorausſetzung für die nächſtfolgende abgibt; Vorausſetzung aller übrigen, — Grundbedingung, 38
die erfüllt fein muß, damit wir überhaupt „Leben“ feſtzuſtellen vermögen, iſt die Reizbarkeit (Irritabilität).
Man begreift darunter die Fähigkeit des Plasmas, auf äußere und innere Einwirkungen mit Erregungen zu antworten, zu reagieren. Am beſten wiſſen wir von uns ſelbſt, daß wir nicht gleichgültig und untätig bleiben, wenn ein beliebiger Reiz uns trifft: das Wetter be— einflußt unſere Stimmung, Muſik oder geſprochene Worte dringen uns zu Gemüt, die Flamme wärmt oder ſchmerzt uns, Farben erfreuen das Auge .. . Daß wir dies und noch mehr empfinden, wiſſen wir von uns ſelbſt in jedem Augenblick, auch wenn wir dabei äußerlich ganz ruhig bleiben. Von einem Nebenmenſchen, der bewegungslos daſitzt, wiſſen wir aber ſchon nicht, ob er heiter, ärgerlich, gerührt, müde iſt, ob er ſich wohl fühlt, Mitleid empfindet uſw. Nur die Sprache ver— mittelt uns dann die Erkenntnis, wie es mit dem Gefühlsleben unſeres Nebenmenſchen beſchaffen iſt. Läßt aber ein greller Lichtſtrahl ſein Augenlid zucken, ein Stoß ihn zurückfahren, ein Wohlgeruch ihn tiefer atmen, dann werden ſeine Worte entbehrlich: aus ſeinen Bewegungen erkennen wir, daß äußere Einwirkungen ihn getroffen und „gereizt“ haben. Faſt ausſchließlich auf Bewegungsäußerungen ſind wir, um auf ſtattgefundene Erregungen zu ſchließen, bei ſämtlichen Lebeweſen an— gewieſen, die nicht ſprechen können — und Sprache iſt ja ſchließlich ebenfalls mit Bewegungen verbunden —; von der Reizbarkeit eines Tieres, einer Pflanze überzeugen wir uns letzten Endes durch deren Bewegung, mag ſie ſich in Ortsveränderung oder geändertem Wachs— tum, oder auch nur in einem Stoffwechſelvorgang, etwa einer Entleerung oder Drüſenabſcheidung, offenbaren. Nur das eigene Ich vermag durch Selbſtbeobachtung, durch „Schauen in ſein Inneres“ (Intro— ſpektion) ein anderes, direkteres Mittel zur Feſtſtellung einer Erregung anzuwenden, welches indes von Fehlerquellen eben wegen ſeiner zu großen Subjektivität geradeſowenig frei iſt wie die indirekten Methoden ver— möge ihrer zu großen Objektivität. Du Bois-Reymond iſt es zwar gelungen, die ſtattgefundene Erregung in der reizbaren Subſtanz durch deren geändertes elektromotoriſches Verhalten unmittelbar zu konſtatieren, ohne auf das geänderte Bewegungs-, Wachstums- und Stoffwechſel— verhalten in davon mehr minder entfernten „Erfolgsorganen“ an— gewieſen zu ſein; aber einmal bezieht ſich dieſe Errungenſchaft nur auf höhere Tiere, bei denen die reizbare Subſtanz ſich bereits in Geſtalt eigener Nervenzentren und Nervenbahnen ſpezialiſiert hat, — und ferner ſagt uns der Nervenſtrom etwas darüber aus, daß eine Erregung vor— handen iſt, und allenfalls noch etwas über deren Quantität; aber ge— wöhnlich nichts über deren Qualität, die wir nach wie vor aus Be— wegungserſcheinungen (im weiteſten Sinne) erſchließen müſſen. Sie find und bleiben wertvollſte Hilfsmittel für die Reizphyſiologie.
Daß Beweglichkeit (Motilität) nur den Tieren, nicht den Pflanzen zukomme, iſt ein weitverbreiteter Irrtum. Allerdings iſt die Fähigkeit zur Fortbewegung, wobei das Lebeweſen als Ganzes den
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Ort wechſelt, unter den Tieren verbreiteter; aber gewiſſe Pilze kriechen träge auf der Erde, Kieſelalgen auf ſchlammigem Grunde der Gewäſſer; die „ſchwärmenden“ Fortpflanzungskörper vieler Sporenpflanzen ſchwimmen ſogar hurtig im freien Waſſer. And allerdings ſind die meiſten Pflanzen zeitlebens an beſtimmten Stellen im Boden verankert, eingewurzelt; aber es gibt doch auch feſtſitzende Tiere, z. B. die Korallen und Schwämme. Bei ſolchen an den Ort gefeſſelten Lebeweſen vollzieht ſich die Be— wegung für unſer Auge ſchwerer erkennbar, mehr im Inneren; in jeder Zelle, auch der pflanzlichen, iſt das Plasma in ſteter Umlagerung und Strömung begriffen. Statt „Beweglichkeit (Motilität)“ iſt für die in Rede ſtehende Grundeigenſchaft des lebenden Stoffes auch der Name „Zuſammenziehbarkeit Gontraktilität)“ eingebürgert; jede Fortbewegung im Lebenden beruht nämlich darauf, daß ſich das Plasma hier zuſammenzieht, verkürzt, — dort wieder ausdehnt, er— ſchlafft. Auch die Ortsbewegung (Lokomotion) der höheren Tiere kommt durch abwechſelndes Verkürzen und Verlängern der Muskel— gruppen zuſtande.
Am die Erregungsabläufe und daran ſchließenden Bewegungs— reaktionen zu leiſten, muß die lebende Subſtanz Kraft verbrauchen; dieſe Energieverluſte müſſen erſetzt werden, und das geſchieht durch kahrungsaufnahme. Die Ernährung (Nutrition) iſt aber nur ein Teil des geſamten Stoffwechſels (Metabolismus), worin auch der Gas— wechſel (Atmung, Reſpiration) und die Entfernung unbrauchbarer Stoffe aus dem Körper (Ausſcheidung, Exkretion) inbegriffen iſt. Die Hauptſache bei der Ernährung beſteht darin, daß das Lebeweſen Stoffe, die es von außen aufnimmt, in Gubftanzen feines Leibes verwandelt (Aufbau, Aſſimilation). Nur die grünen, chlorophyllführenden Pflanzen und einige Bakterien find imftande, dieſe Leiſtung mit einfachen, an— organiſchen Stoffen zu vollbringen: meiſt unter Vermittlung des (direkten wie des zerſtreuten) Sonnenlichtes wird die gasförmige Kohlen— ſäure, werden die flüſſig gelöſten Mineralſalze ſo zerlegt und aus ihren Grundſtoffen anders wieder zuſammengeſetzt, daß ſie ſchließlich die Pflanzenſubſtanz aufbauen, — den lebenden Stoff derſelben Pflanzenart, die jene toten Stoffe mit ihren Blättern der Luft, mit ihren Wurzeln dem Grundwaſſer entnahm. Pflanzen, die kein Blattgrün beſitzen (die Pilze, manche ſchmarotzende Blütenpflanzen), ſowie alle Tiere müſſen organiſche Stoffe zur Verfügung haben, um ſich zu erhalten; nur was bereits Beſtandteil eines anderen tieriſchen oder pflanzlichen Körpers geweſen ift, alſo Eiweiß, Fett und Kohlehydrate, kann von ihnen jo weit umgebaut werden, daß es ſich nunmehr den Beſtandteilen ihres eigenen Körpers gleichartig einfügt. Daher nähren ſich alle Tiere und nichtgrünen Pflanzen entweder vom friſchen lebenden Plasma anderer Tiere und Pflanzen (Räuber, Paraſiten, Vegetarier), oder wenigſtens von totem, wennſelbſt ſchon zerfallenden Plasma (Fäulnisfreſſer, Saprophyten). Der Aufbau lebender Stoffe iſt ſtändig von ihrem Ab— bau (Diſſimilation) begleitet, der unter reger Verbindung mit Sauer— 40
ſtoff (Oxydationen) ſtatthat als Folge ihres Verbrauches bei den Lebens— verrichtungen (Erregung, Bewegung).
Solange ein Lebeweſen jung iſt, beſchränkt es ſich nicht darauf, nur ſo viel Stoff aufzunehmen, als zum Erſatz des verbrauchten nötig iſt; der Metabolismus iſt noch kein genauer Ausgleich, und noch weniger geht er mit Verluſten einher (Katabolismus), ſondern iſt mit Gewinn verknüpft (Anabolismus). Wenn das Lebeweſen ſich mit Stoffen bereichert, muß dies in ſeiner äußeren Erſcheinung irgendwie zum Ausdruck kommen; Stoff-, Maſſenzunahme muß ſich naturnot— wendig in Größenzunahme, Wachstum, manifeſtieren. Aber nicht wie beim Schneeball, der übers Schneefeld rollt und dem ſich dabei außen immer neue Schneeflocken anſchmiegen; ſchon daß das Lebeweſen ſein Wachstum der Nahrungsaufnahme dankt, lehrt den Weg, den hier neue Stoffteilchen gehen, wenn ſie Größenzunahme bewirken. Sie gelangen zuerſt ins Leibesinnere und werden dann in verwandelter Geſtalt überall zwiſchen ſchon vorhandene Teilchen eingefügt; bleiben alſo keineswegs dort, wo ſie zuerſt hinkamen, ſondern wandern von innen nach außen unter ſteter Wahrung der Proportionen und ſtän— diger Berückſichtigung des gerade Nötigſten.
Das Wachstum kann aber nicht grenzenlos weitergehen. Die lebende Subſtanz iſt ja eine zähe Flüſſigkeit; ein Tropfen, den wir durch Zuſatz weiterer Flüſſigkeit wachſen laſſen, zerfließt oder — und das geſchieht eben gerade bei zähen Flüſſigkeiten — zerfällt in zwei Tropfen oder endlich zerſtäubt in viele kleine Tröpfchen; die geringe Stärke der die Flüſſigkeitsteilchen zuſammenhaltenden Kraft (Kohäſion) erlaubt ihm nicht mehr, ſeine einheitliche Form bei weiterer Größen— zunahme beizubehalten. Ahnlich beim Lebeweſen: wenn es die Größe erreicht hat, die das einzelne Exemplar, das „unteilbare“ Individuum, kraft der phyſikaliſchen und chemiſchen Eigenſchaften ſeines lebenden Stoffes, in letzter Linie kraft ſeiner Kohäſion, erreichen kann, ſo wird weiterer Maſſengewinn keinen Größengewinn mehr bedeuten, ſondern die überſchüſſigen Stoffteilchen werden abgeſtoßen, — es hat „Wachs— tum über individuelles Maß hinaus“ oder Vermehrung (Repro— duktion) ſtattgefunden. Geradeſogut nun, wie zerſprengte Tropfen ſogleich wieder die urſprüngliche Tropfenform annehmen und auch zur urſprüng— lichen Größe bis zu neuerlichem Zerfließen heranwachſen können, falls ſie Gelegenheit haben, neue Flüſſigkeit in ſich aufzunehmen, — geradeſo wachſen auch die abgetrennten Fortpflanzungskörper durch Nahrungs— aufnahme zur alten Form und Größe heran, um ſchließlich ſelber wieder fortpflanzungsfähig zu werden. Das Geſagte gilt zunächſt für den Grundorganismus, die Zelle; hier zeigen ſich in ſtrenger Ahnlichkeit mit dem zähen Tropfen die für letzteren genannten Möglichkeiten ſeiner Vermehrung: der Zerfall in zwei Stücke („Zweiteilung“ der Zelle) oder in mehrere bis viele („Zerfallsteilung“), wobei die Stücke einander gleichgroß (echte „Zellteilung“) oder die ſich ablöſenden, gleichgültig ob in Ein- oder Mehrzahl, weſentlich kleiner fein können als das zurück—
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bleibende größte, das dann den Sprößlingen gegenüber als ihr Eltern— organismus erſcheint („Zellſproſſung“). Man hat mir vorgeworfen, daß Kohäſionsverluſt als Urſache der Zellteilung und mittelbar der Fortpflanzung überhaupt eine allzu mechaniſche Erklärung dieſes Lebens— vorganges ſei; und gewiß ſpielen noch andere Kräfte dabei eine Rolle, die, ſoweit wir ſie kennen, in den Kapiteln „Wachstum“ und „Ver— mehrung“ zur Sprache kommen; ebenſo gewiß iſt es aber allerletzten Endes ein Verluſt der zuſammenhaltenden Kraft, der die Trennung ſich teilender Zellen und ſich ablöſender Fortpflanzungs körper überhaupt er— möglicht; denn wäre die Kohäſion ihnen verblieben, fo müßten ſie eben beiſammen bleiben.
Fortpflanzung iſt auch definiert worden als Fähigkeit der Lebeweſen, ihresgleichen zu erzeugen. In dieſer Amſchreibung iſt ſchon eine weitere elementare Fähigkeit der lebenden Subſtanz mitbegriffen: das Aber— gehen der elterlichen Eigenſchaften auf die Nachkommen, die Ver— erbung Geredität). Daß Fortpflanzungskörper demjenigen Körper gleichen, von dem ſie abgeſtoßen werden, erſcheint uns zwar faſt ſelbſt— verſtändlich bei ſolchen Lebeweſen, die ſich durch ſimple Zwei- oder Mehrteilung vermehren, denn hier iſt jeder Nachkomme nur ein Stück ſeines Vorfahren, — die Tochterzellen ſind abgerundete Stücke der Mutterzelle, deren Eigenſchaften den Stücken bei ihrer Loslöſung er— halten bleiben müſſen, ſolange nichts Fremdes hinzukommt. Schon weniger ſelbſtverſtändlich erſcheint es unſerem Nachdenken, daß aus dem Hühnerei immer nur ein Huhn entſteht; ſolch ein Ei iſt zwar auch ein vom elterlichen Organismus abgegebenes Leibesſtück, aber es iſt vorderhand dem Elternindividuum ſo unähnlich wie nur möglich. Wäh— rend es wächſt, an Größe zunimmt, — entwickelt es ſich auch, verändert ſeine Form ſo lange, bis wieder ein Huhn vor uns ſteht. Damit noch nicht genug: wir ſprachen von der Reizbarkeit und wiſſen ſehr wohl, daß die Wirkung eines Reizes, den wir empfanden, nicht ſofort ſpur— los vorübergeht. Noch nach Jahren erinnern wir uns an Erlebniſſe, — noch wochenlang nach Heimkehr vom Lande bleibt unſere Haut ge— bräunt, allmählich nur weichen die Folgen einer Krankheit. All das wäre nicht möglich, wenn die lebende Subſtanz nicht die Fähigkeit hätte, ſolche Eindrücke lange oder dauernd aufzubewahren; irgendwie iſt ſie durch den empfangenen Reiz verändert worden, und die Veränderung bleibt — zunächſt oder für immer — erhalten. In vielen Fällen er— liſcht die Veränderung auch dort nicht, wo eine Generation aufhört und die nächſte beginnt, ſondern wenn der Keim ſich zum fertigen Lebeweſen entfaltet, erkennen wir an ihm die Erlebniſſe ſeiner Vorfahren wieder. Die Abſtammungslehre zeigt, daß eigentlich all unſere Merkmale den geformten Niederſchlag von Reizwirkungen aus früheren Epochen dar— ſtellen, daß letzten Sinnes alle Kennzeichen der zahlloſen Arten von Lebeweſen in dieſer Weiſe einmal „erworben“ werden mußten, um zum dauernden, formbeſtändigen „Erlebnis“ zu werden. So gelangen wir dazu, die „Vererbung“ — ein dem Abergehen des äußeren Erbes in
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Menſchenbeſitz entlehntes Gleichnis — als ganz ſpezielle Phaſe eines in Wirklichkeit ſtreng kontinuierlichen Vorganges (und zwar als Phaſe beim Abergang einer Generation in die nächſte) zu erkennen; und nicht die Vererbung, ſondern die Aufbewahrung bei Reizwirkungen (Ge⸗ dächtnis im weiteſten Sinne oder mnemiſche Fähigkeit) iſt die allge— meinere elementare Fähigkeit der lebenden Subſtanz. Gleichwie die Fortpflanzung nichts anderes iſt als ein Wachstum über perſönliches Maß hinaus, ſo die Vererbung nichts anderes als ein Konſervieren gegebener und empfangener Eigenſchaften über die Grenzen einer Generation hinweg. Entwicklung und Bewahrung bedeuten das— ſelbe im individuellen wie Vermehrung und Vererbung im generellen Sinne. — —
Verſuchen wir, die Summe deſſen, was wir über die allgemeinen, insbeſondere die phyſiologiſchen Eigenſchaften der lebenden Subſtanz gehört haben, in einer Geſamtdefinition des Lebens auszudrücken, fo kann es nicht beſſer als mit Worten von Wilhelm Nour gejcheben: „Eine ſeit langem geſuchte rein chemiſche Definition des Lebens iſt nicht möglich, weil auch phyſikaliſches Geſchehen weſentlich mitbeteiligt iſt, das nicht bloß die Folge der chemiſchen Konſtitution iſt, ſondern auch auf beſonderer phyſikaliſcher Struktur beruht. Die Definition der Lebe— weſen kann zurzeit nur auf Grund der uns bekannten Leiſtungen der Lebeweſen geſchehen. Die Lebeweſen ſind danach im Minimum Natur— körper, welche 1. fremd beſchaffene Stoffe in ſich aufnehmen (Selbſtauf— nahme) und 2. dieſe in ihnen, den Lebeweſen, gleiche Subſtanz um— wandeln, ſie aſſimilieren (Selbſtaſſimilation), 3. ſich aus in ihnen ſelbſt liegenden Arſachen verändern (Diſſimilation, z. B. Verbrauch von Ei— weiß, Fett uſw.), gleichwohl aber 4. durch Selbſtausſcheidung des Ver— änderten (Ausſcheidung von Kohlenſäure, Harnſtoff uſw. bei den Tieren, Sauerſtoff uſw. bei den Pflanzen) und 5. durch Selbſterſatz desſelben durch Nahrungsaufnahme und Selbſtaſſimilation ſich ganz oder faſt ganz unverändert erhalten können, und 6. durch Aberkompenſation i im Erſatze des Verbrauchten wachſen können (Selbſtwachstum), ferner 7. aus haupt— ſächlich in ihnen liegenden Arſachen ſowohl ſich zu bewegen (Selbſt— bewegung, Reflerbewegung) als auch 8. ſich zu teilen (Selbſtteilung, Selbſtvermehrung) vermögen, und dabei 9. ihre Eigenſchaften vollkommen auf die Teilungsprodukte übertragen (Vererbung). Es erübrigt noch zu betonen, daß alle dieſe längſt bekannten Leiſtungen zuſammengehören, und daß ſie ihrer beſonderen Art nach weſentlich in den Lebeweſen ſelber beſtimmt, „determiniert“ ſind, wenn auch ihre „Vollziehung“ viel— fach von äußeren Faktoren abhängig iſt und die Leiſtungen ihrer Art nach etwas durch äußere Einflüſſe modifiziert werden können. Ihre Ge— ſamtheit bewirkt das Beſondere der Lebeweſen und zugleich ihre hoch— gradige „Selbſterhaltungsfähigkeit“. Die Lebeweſen beſorgen in der Hauptſache alles zur Herſtellung und Erhaltung ihrer Eigenart und, bei Gegenwart von Nahrung, das zur Forterhaltung ihrer Exiſtenz Nötige ſelber.“
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2. Anorganiſche Nachahmung der Lebenserſcheinungen
Die eben zitierten Sätze müſſen uns ſicher davor bewahren, leicht— fertig eine Identität oder auch nur Kontinuität zwiſchen Lebendem und Totem zu behaupten und im beſonderen bloße Ahnlichkeiten der äußeren Abläufe für Abereinſtimmungen des inneren Weſens zu nehmen. Indeſſen darf man ſich auch umgekehrt nicht von der Tradition, Lebendes und Totes müſſe geſchieden bleiben, verblüffen laifen, ſondern ſoll in nüchterner Arbeit etwaige Abergänge freizulegen ſuchen. Halten wir alſo jetzt Amſchau, ob die aufgezählten Eigen— ſchaften lebender Subſtanz wirklich ihr ausſchließliches Eigentum ſind; ob ſich nicht mindeſtens Annäherungen und Vorbereitungen dazu auch bei anderen Naturkörpern vorfinden. Die Rourfche Lebensdefinition enthält oft und mit einer gewiſſen Betonung das Wörtchen „ſelbſt“: Selbſtbewegung, Selbſternährung, Selbſtwachstum, Selbſtvermehrung uſw. And wirklich empfangen wir bei faſt allen Lebensäußerungen den Eindruck, als ob fie ſpontan und von innen heraus erfolgen; wenn ſchon die Beziehung eines Reizerfolges zu dem von außen kom— menden Reiz klar zutage tritt, ſo ſieht es nichtsdeſtoweniger ſo aus, als ob Reizurſache und Reizwirkung zueinander in keinem „richtigen“, äqui— valenten Verhältniſſe ſtehen, ſondern letztere infolge der Eigengeſetzlich— keit des Lebeweſens unverhältnismäßig größer wäre. Zweifellos beruht dieſer Eindruck autonomer Fähigkeiten, ſelbſtändiger Initiative der Lebe— weſen auf unwillkürlicher Gleichſetzung unſerer hochkomplizierten menſch— lichen Tätigkeitsimpulſe, bei denen unter anderem frühere Wahrneh— mungen bei ehemaligen Entſchließungen mitſpielen, mit denen anderer, auch niedrigſter Organismen.
Aberlegen wir alſo im engen Anſchluſſe daran zunächſt wieder für die „Reizempfänglichkeit“, ob ſie durchaus immer rein autonom, von innen heraus zuſtande kommen muß und nicht auch rein äußerlich be— dingt ſein kann. Wir vernahmen ſchon von der Beweglichkeit flüſſiger Kriſtalle, die ſo groß iſt, „daß man einen von lebenden Mikroorganismen erfüllten Waſſertropfen zu ſehen glaubt, in welchem ein tolles Leben und Treiben herrſcht“. Dieſe Bewegungen nun werden gleich denen der Lebeweſen von äußeren Einwirkungen hervorgerufen, die ſich Reiz— wirkungen vergleichen laſſen: „Bei ſchwankender Temperatur ändert ſich die Krümmung der flüſſigen Kriſtalle fortwährend; es entſteht eine ſchlängelnde Bewegung, zu welcher ſich auch wohl eine vor- und zurück— ſchreitende geſellt, die vermutlich auf Differenzen der Oberflächenſpan— nung beruht, während die Schlängelbewegung eine Wirkung der mole— fularen Richtkraft und Attraktionskraft iſt, welche die neuankommenden Moleküle zwiſchen die vorhandenen hineindrückt“ (Lehmann). Auch amorphe (nicht kriſtalliſierte) Tropfen wandern auf eine Wärmequelle los; die ſtärker erwärmte Seite dehnt ſich und zieht den Reſt nach — und einen ähnlichen Effekt vermag Flächenanziehung, vergleichbar einem Berührungsreiz, hervorzubringen. Eine Ledueſche „künſtliche Zelle“
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wandert in ungeſättigter Kaliumnitratlöſung gegen einen darin befinde lichen Kaliumnitratkriſtall und wird durch Alkoholdämpfe zur Amkehr bewogen. Tuſchekörner in einem Waſſertropfen, der zur Hälfte be— leuchtet, zur Hälfte verdunkelt iſt, fliehen eiligſt aus dem Lichte und ſammeln ſich im Finſtern. Freilich iſt in dieſen Fällen leicht offenbar, daß allgemein geläufige phyſikaliſche Kräfte am Werke ſind, um bei einem anorganiſchen Körper die Antwort auf einen Reiz nachzu— ahmen; aber nichts ſpricht dagegen, daß die Reizreaktionen und Be— wegungen der primitivſten Arweſen anderen Triebkräften gehorchen. Iſt man aber einmal endgültig zu ſolcher Einſicht vorgedrungen, dann be— dürfen auch die komplizierteſten Inſtinkte und Willens— handlungen der höchſten Organismen keiner neuen Er— klärung mehr; denn ſie ſind ja nur Häufungen jener Elementar— organismen, deren elementares Kräfteſpiel mit all ſeiner Divergenz im einzelnen und erſtaunlichen Konkordanz im totalen unüberſehbar ge— worden iſt.
Fügen wir gleich einige Fälle an, in denen empfangene Reize gleichſam gedächtnismäßig aufbewahrt werden. „Streichen wir einen Stahlſtab mit einem Magneten, ſo zieht er Eiſenfeilicht an und läßt ihn bei Entfernung des Magneten wieder fallen. Wiederholen wir aber den Prozeß, ſo zieht er ſchließlich den Eiſenfeilicht bleibend an, auch wenn der Magnet nicht angenähert iſt. Der Phyſiker nennt dies „remanenten“ Magnetismus; die Verſchiedenheit des Ablaufes bei Wiederholung desſelben Prozeſſes erklärt er durch eine Verände— rung der Intimſtruktur des Stahlſtabes. And um nichts anderes handelt es ſich in den biologiſchen Beiſpielen“ (Przibram). Leimgallerte läßt ſich durch ſchwaches Erwärmen verflüſſigen, durch neuerliches Ab— kühlen wieder feſt machen. „Wiederholt man dieſen Vorgang hinter— einander, ſo nimmt allmählich die Schmelztemperatur ab, die Gelatine wird immer leichter flüſſig, und bei genügend häufiger Wiederholung würde ſie ſchließlich auch bei Zimmertemperatur nicht erſtarren. Ver— hält ſich die Leimgallerte nicht ſo, als ob ſie ein Gedächtnis für die Wärmeeinwirkung gewonnen hätte, die jedesmal eine ſpurenweiſe Veränderung, eine Erinnerung zurückgelaſſen hat? Als ob ſie es geübt hätte, immer leichter auf den „Wärmereiz“ anzuſprechen?“ (Pauli). „Zwei Bleiplatten in Schwefelſäure „formieren“ ſich mehr und mehr, je häufiger ſie elektriſch geladen und entladen werden: hier geht der Vorgang der elektriſchen Ladung in der Tat um fo leichter und reichlicher vor ſich, je häufiger dieſe Reaktion ſtattgefunden hatte“ (Oſtwald).
Bei Erörterung dieſer Reizungserſcheinungen und ihrer Nach— wirkungen haben wir ſchon mit Bewegungen anorganiſcher Körper zu tun gehabt, da ſie ja das untrüglichſte Kennzeichen ſtattgefundener Reizungen abgeben. Frappierend im Hinblick auf ſcheinbar ſelbſtändige Beweglichkeit wirkt noch das von Gad und Duinke ermittelte Beiſpiel des Oltropfens, der in einer ſodahaltigen Löſung gleich einem der
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niederſten Tiere, der Amöbe, beſtändig Fortfäge ausſtreckt; er „zieht fie wieder ein, umfließt gewiſſe Stoffe, wie die Amöbe ihre Nahrung, und nimmt ſie in ſein Inneres auf. Kurz, der Oltropfen zeigt alle Merk— male der ſogenannten amöboiden oder Plasmabewegung. Es hat ſich gezeigt, daß für die Erklärung dieſer Bewegungserſcheinungen bei der Amöbe ſehr gut die phyſikaliſchen Geſetze der Grenzflächenſpannung heran— gezogen werden können, die wir vom Oltropfen her genau kennen“. — Der Vorgang, den die Amöbe, jenes einfach gebaute Schleimtröpfchen mit Kern, vollführt, um einen allenfalls nahrhaften Fremdkörper in das Zelleninnere zu befördern, wurde hier „Amfließen“ genannt; bei ge nauerer Beobachtung erweiſt ſich aber der Vorgang recht mannigfaltig, als ob die Amöbe verſchiedene Methoden hätte, um ihre Beute einzu— fangen, von denen bald die eine, bald die andere zweckmäßiger erſcheint. Dem ſimplen Amfließen entſpricht am beſten der „Zirkumfluenz“ genannte Teilvorgang, wobei die anſcheinend zielbewußt ausgeſendeten lappenartigen Plasmafortſätze der Amöbe lihre „Scheinfüßchen“ oder Pſeudopodien) dem Fremdkörper adhärieren. Der Prozeß gleicht etwa dem langſamen Herabrollen eines Gummitropfens über eine ſanft ge— neigte Fläche, wobei dem Tropfen ein feſtes Körnchen im Wege liegt und mitgenommen wird. Schwieriger ſchon erſcheint die rein mechaniſche Erklärung beim „Import“: „Hierbei rückt der Nahrungskörper in den Plasmaleib der Amöbe hinein, nachdem er mit deren Oberfläche in Kontakt gebracht worden iſt, ohne daß die Amöbe ſelbſt irgendwelche nennenswerten Bewegungen auszuführen braucht“. Die „Zirkum— vallation“ (vgl. S. 92, Abb. 15) ähnelt inſoferne der Zirkumfluenz, als gleichfalls zu beiden Seiten des Fremdkörpers Scheinfüßchen vor— gehen; aber diesmal ſind ſie nicht im Kontakt mit ihm, ſondern um— gehen ihn, fließen hinter ihm zuſammen, ſo daß rings um den Körper ein Wall entſtand, und ziehen jetzt erſt den ganzen Lappen ſamt Fremd— körper zurück; man erhält dadurch völlig den Eindruck eines liſtigen, aktiven Einfangens der Beute. Bei der „Invagination“ endlich erfaßt die klebrige Oberflächenſchicht den Fremdkörper und ſtülpt ihn ins Innere. Die beiden zuletzt genannten Aufnahmeprozeſſe finden ſich überall dort, wo die äußere Schicht (das „Ektoplasma“) feſt, hautartig wird. Iſt dieſe Zellhaut kontraktiv oder gar nicht geſpannt, ſo erfolgt „Amwallung“ (Zirkumvallation); iſt fie expanſiv geſpannt, jo führt Verflüſſigung der Berührungsſtelle zur „Einſtülpung“ (Invagination). Das Vorkommen von Spannungen einander entgegengeſetzten Sinnes erklärt ſich aus der Eigenſchaft der betreffenden lebenden Kolloide, vom flüſſigen Sol- in den feſten Geleezuſtand (ogl. S. 31) und umgekehrt grad— weiſe übertreten zu können: der erſtere Prozeß verläuft mit kontraktiver, der Gegenprozeß mit expanſiver Spannung. Rhumbler hat all dieſe Bewegungen, die ſich bei der Nahrungsaufnahme einer Amöbe abſpielen können, durch Paraffintropfen und andere anorganiſche Körper, an denen ſich die richtigen phyſikaliſchen Bedingungen herſtellen laſſen, nachgeahmt.
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Eine den Amöben naheſtehende Gruppe von Artierchen, die Teſta— zeen, nehmen auch ungenießbare Fremdkörper auf und behalten ſie bei ſich, um ein ſchützendes Gehäuſe daraus zu formen: ſpritzt man Chloro— formtröpfchen, die mit Splittern dünnen Glaſes verrieben wurden, ins Waſſer, ſo findet man etwas ſpäter ihre Oberfläche dicht überzogen von einer regelmäßig angeordneten Splitterdecke, die der Teſtazeenſchale täuſchend ähnlich ſieht (Abb. 6, Detail 2—4). Handelt es ſich hier — beim lebenden wie beim toten Modelltropfen — nur um ein ihm auf— liegendes lockeres Moſaik von Fremdkörpern, ſo laſſen ſich weiterhin auch feſtgefügte kugelige, flaſchenförmige und ſpiralige Gehäuſe, wie ſie
Abb. 6. „Nahrungsaufnahme“ und „Gehäuſebau“ des Chloroform⸗ tropfens. Obere Reihe: ein mit Schellack überzogener Glasfaden wird vom Tropfen aufgenommen (a, b), ſeines Schellackmantels beraubt (c) und nachher wieder ausgeſtoßen (d). Antere Reihe: 1 „Pulſierende Vakuole“ im Chloroformtropfen, 2 Chloroformtropfen im Waſſer mit „ſelbſtgebautem“ Gehäuſe aus Glasſplittern, 3 Waſſertropfen in Chloroform nach Berührung mit einer Nadel aus verriebenen Glasſplittern ein Gehäuſe bildend, 4 Chloroformtropfen in Waſſer baut ohne jede Berührung aus ſchellacküberzogenen Splittern ein künſtliches Gehäuſe auf. (Nach Rhumbler aus Przibram, Experimentalzoologie IV.)
einkammerige Kreidetierchen (monothalame Toraminiferen) haben, nach folgendem Rezept Rhumblers nachahmen: Abergießt man Queckſilber— tröpfchen in flacher Schale mit Waſſer und fügt dann ſo viel kriſtalli— ſierte Chromſäure zu, als nötig iſt, um eine fünfprozentige Löſung zu erhalten, ſo bedecken ſich die Tröpfchen mit einer feſten kriſtalliniſchen Hülldecke (der Hauptſache nach von Queckſilberoxydulchromat), unter deren Druck die Tropfen ihre urſprüngliche Geſtalt aufgeben und alle weſentlichen Formen der Kreidetierarten annehmen, deren Schalen von
der feſtwerdenden Hülldecke oft mit größter Treue kopiert werden. Wir ſprachen vorhin von anorganiſchen Modellen, die den von Amöben befolgten Vorgang der Nahrungsaufnahme nachahmen, zu— vörderſt nur den damit verbundenen Bewegungserſcheinungen zuliebe. Wirklicher Nahrungsaufnahme gegenüber beſtand da noch der Anter— ſchied, daß Fremdkörper, wenn organifcher Natur, von der Amöbe verdaut werden, von unſeren anorganiſchen Tropfen nicht. Selbſt 47
wenn ich einen Gummitropfen wähle und ihm ein Korn feſten Gummi zu „freſſen“ gebe, worauf ſich das Körnchen im flüſſigen Gummi löſt, ergibt es noch keine vollkommene Analogie, weil die Amöbe ſich einen fremden Stoff einverleibt, der Gummi aber nur eigenen Stoff aufgelöſt hätte. In folgender Art jedoch kann man, wieder nach Nhumbler, ſich ganz das Bild verſchaffen, als ob die Amöbe eine ſchlanke Kieſelalgenzelle verſpeiſen würde: wird ein Glasfaden mit einem Schellackmantel überzogen und in die Nähe eines im Waſſer ſuspen— dierten Chloroformtropfens gebracht, ſo ergreift der Tropfen den Glas— faden, beraubt ihn ſeines Aberzugs und wirft den nackten Faden wieder nach außen ab (Abb. 6 a—d). Wie bei der Amöbe erſcheint die Einfuhr an die Anweſenheit, die Ausfuhr an die Abweſen— heit einer löslichen Subſtanz geknüpft. „Da zwiſchen der löslichen und der zu löſenden Subſtanz große Adhäſion beſtehen muß, erleichtert dieſe den Import von Fremdkörpern, welche lösliche Teile enthalten; ſobald aber letztere entfernt ſind, wird die Adhäſion zwiſchen dem Reſt des importierten Körpers und dem aufnehmenden Körper geringer als zwiſchen deſſen Teilen untereinander, und der Fremdkörper muß hinaus— befördert werden. So erklärt es ſich, daß Amöben an Kieſelpanzern, die keine lebende Alge mehr enthalten, achtlos vorüberkriechen, während ſie lebende Kieſelalgen ſofort aufſuchen und aufnehmen.“ — Bei Amöben und anderen Artieren verſieht die „pulſierende Vakuole“ den Dienſt eines Ausſcheidungs- und Atmungswerkzeuges, indem ſie flüſſige und gas— förmige Abgänge aus allen Regionen des Zelleibes ſammelt und ſchließlich nach außen entleert; im gefüllten Zuſtand iſt ſie groß, im friſch entleerten klein, — aus dieſem rhythmiſchen Volumwechſel erklärt ſich der Name „pulſierende Vakuole“. Rhumbler vermochte ſolche eben— falls an Chloroformtropfen in Waſſer zu beobachten (Abb. 6, Detail 1): „Offenbar beſitzt das in den Tropfen ein- und austretende Waſſer ver— ſchiedene Stoffe gelöſt, die ſeine Adhäſion verändern; nimmt es im Tropfen Alkohol und ſaure, durch Licht entſtandene Zerſetzungsprodukte auf, ſo wird es wieder hinausbefördert, — und dies muß ſich in regel— mäßigem Rhythmus wiederholen.“
Wir hatten ſchon bei Beſprechung des „Gedächtniſſes“ anorganiſcher Materie Gelegenheit, die Eignung der Gallerten für Demonſtration lebensähnlicher Vorgänge zu erwähnen. Wir kommen jetzt bei Kopierung von Vorgängen der Nahrungswahl, Nahrungsaufnahme und Nahrungs verwertung neuerlich auf fie zurück. Anter Gallerte ver: ſteht man ein Kolloid (vgl. S. 31), deſſen feinſte Teilchen untereinander und mit ihrem flüſſigen Medium aufs engſte zuſammenhängen. „Gallerten können die verſchiedenſten Formen annehmen, wie feſte Körper, unter— ſcheiden ſich aber von ſolchen, indem ſie, wie die Zellen, chemiſche Re— aktionen nicht nur an der Oberfläche, ſondern im ganzen Inneren und mit großer Geſchwindigkeit zulaſſen. Man kann an ihnen das der lebenden Subſtanz eigene Vermögen einer ſpezifiſchen Auswahl unter dargebotenen Stoffen demonſtrieren, indem ſie manche Körper leicht,
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andere gar nicht eintreten laſſen“ (Pauli). Auch ein Kriſtall, der fich in einer Löſung befindet, die noch andere Subſtanzen als ſeine enthält, zieht nur letztere, für ſein Wachstum allein brauchbare an ſich. Sind von dieſer ſelben Subſtanz in der Löſung noch andere feſte, aber nicht kriſtalliſierte Abſcheidungen vorhanden, ſo werden ſie in dem Maße, als der Kriſtall wächſt und dadurch den Sättigungsgrad der Löſung herab— ſetzt, aufgezehrt, d. h. dazu verwendet, die Löſung immer wieder zu über— ſättigen. Auch kleine Kriſtalle verfallen dieſem Schickſal, wenn ſich mit ihnen zugleich ein großer Kriſtall in der Löſung befindet: er frißt auf dieſe Weiſe, die der Verflüſſigung (Verdauung) feſter Nahrungsſtoffe ſeitens der Lebeweſen ähnlich iſt, ſeine kleineren Genoſſen auf. Wem die Analogie durch die räumliche Entfernung zwiſchen Freſſenden und Gefreſſenen geſtört erſcheint, ſei daran erinnert, daß es auch unter den Tieren ſolche „Fernfreſſer“ gibt: die Seeſterne, die eine fürs Verſchlingen zu große Beute außerhalb ihres Magens mit Magenſaft überſpülen, der den Biſſen auflöſt, worauf er ſich im flüſſigen Zuſtande mühelos einſchlürfen läßt. — Von ſeinen flüſſigen Kriſtallen ſchreibt Lehmann: „Die Kriſtalle ſcheinen in einem lebhaften Kampfe begriffen zu ſein, wobei die kleineren, ſchwächeren Individuen von den größeren, ſtärkeren ohne weiteres verſchlungen werden. Das Einfließen eines kleinen Kri— ſtalles in die Mitte eines großen erzeugt eine um die Achſe ſymmetriſche Anſchwellung; und wenn ſich der Vorgang an verſchiedenen Stellen wiederholt, entſtehen puppenartige Gebilde, deren poſſierliche Bewegungen einen ſehr beluſtigenden Anblick gewähren.“
Schon die Definition des Wachstums als allgemeine Eigenſchaft der Lebeweſen wurde uns zum Anlaß, zwei Arten der Größenzunahme ſcharf zu ſcheiden: die rein mechaniſche Anlagerung („Appoſition“), worauf ſich das „Wachſen“ der meiſten feſten Mineralien beſchränkt, und die Zwiſchenlagerung („Intusſuszeption“), in der man noch vor kurzem eine ausſchließliche Eigentümlichkeit der Organismen zu ſehen wähnte. Indeſſen läßt jeder Tropfen, den wir mit irgendeiner leichten, pulveriſierten Subſtanz vermengen, unter dem Mikroſkop beobachten, daß fein Wachstum bei weiterem Flüſſigkeitszuſatz nicht durch äußere Anlagerung, ſondern dadurch erfolgt, daß die neuen Teilchen (die wir durch darin ſchwebende Partikel ſichtbar gemacht haben) ins Innere ge— riſſen und dann erſt überallhin zwiſchen die anderen eingelagert werden. Am vollkommenſten zeigt ein derartiges, mit dem des Lebeweſens über— einſtimmendes Wachstum der Kriſtalltropfen, wie abermals Worte Lehmanns bezeugen mögen: „Das Wachstum vollzieht ſich alſo derart, daß die neu hinzukommenden Moleküle infolge der Adſorptionskraft ſich zwiſchen die vorhandenen hineinſchieben und dieſelben auseinander— drängen.“ Aber ſogar der feſte, geformte und nur noch dabei quellbare Kriſtall wächſt, ſehr zum Anterſchied von den feſten amorphen Körpern und ſehr im Gegenſatz zu dem, was man bisher von Kriſtallen glaubte, durch Innenaufnahme. Man verſtümmle einen Kriſtall, breche ihm die Spitze ab, ſo daß an ihrer Stelle eine neue Fläche mit neuen Kanten
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zurückbleibt; wüchſe der Kriſtall nur dadurch, daß ſich Subſtanz aus der Löſung außen auf die Kriſtallfläche niederſchlägt, ſo müßte die Bruch— fläche ihrer Form nach erhalten bleiben, dürfte durch Aufſchichtung von außen nur ſelbſt immer größer werden; das aber geſchieht nicht, ſondern es bildet ſich eine neue Spitze. Schützen wir die Löſung, in der ein verletzter Kriſtall ruht, durch eine darübergegoſſene Olſchicht vor dem Verdunſten, jo kann überhaupt kein Subſtanzniederſchlag ſtattfinden, der Kriſtall kann nicht größer werden. Trotzdem wird die verlorene Spitze ergänzt; nur konnte das Erſatzwachstum (die Regeneration) diesmal nicht durch Entnahme neuer Subſtanz aus der Löſung, ſondern nur durch Amordnung der dem Kriſtall bereits früher einverleibten Stoff— teilchen geſchehen. Wägungen nach Abſchluß dieſes von Przibram ausgeführten Verſuches beweiſen, daß der Kriſtall ohne Spitze geradeſo ſchwer iſt wie nachher mit wiederhergeſtellter Spitze: an Maſſe hat er alſo nichts gewonnen, nur die Geſtalt reguliert; brachen von einem großen Kriſtall viele Ecken ab, ſo wird nach ihrer Herſtellung ſein Rumpf im ganzen merklich kleiner geworden ſein. Dadurch wird ein auch von niederen Lebeweſen bekannter, dort „Morphallaxis“ genannter Vorgang nachgeahmt, wobei kleine Bruchſtücke wieder zu einem ganzen, aber proportional verkleinerten Organismus umgeſchmolzen werden. — Starre, nicht quellbare Kriſtalle wachſen zwar durch Appoſition, aber die Form kann trotzdem nach Verletzung und ſelbſt bei Verdunſtungs— unmöglichkeit wiederhergeſtellt werden, indem Auflöſung an nicht ver— letzten Stellen die für das Nachwachſen einer gebrochenen Spitze not— wendige Subſtanz aufbringt.
Wie früher die Bewegungs-, fo zeigen wir jetzt auch Wachstums— erſcheinungen als Folge von „Reizempfänglichkeit“ anorganiſcher Sub— ſtanzen. Vortrefflich eignen ſich dazu die „osmotiſchen Vegetationen“, die wir im Kapitel über Arzeugung aus Verſuchen von Ledue, Quincke, Stadelmann und Benedikt kennen gelernt haben. Ihre Zuwendung zum Licht, alſo ein der wirklichen, organiſchen Vegetation analoges Verhalten, zeigte Quincke an blaugrünen Aſten von Kaliumferrozyanid, die ſich in einem Glastrog mit Ferrozyankaliumlöſung aus Eiſenvitriol— kriſtallen entwickelt hatten. Bei Sonnen- und ſtarkem Auerlicht neigt ſich die ganze Maſſe nach der belichteten Trogwand und klebt endlich dort feſt; ähnliches zeigen Kalkſalzvegetationen. Duincke erklärt dieſen anorganiſchen „Heliotropismus“ (ogl. S. 67) durch abnehmende Dick— flüſſigkeit (Viskoſität) der Gebilde bei ſteigender Erwärmung durch die Lichtſtrahlen, wodurch ein Vorfließen zu den erwärmten bbelichteten) Stellen ſtattfindet. Die osmotiſchen Gebilde ſind zugleich ausgezeichnete Objekte, um zu beweiſen, daß anorganiſches Wachstum nicht in bloßer Größenzunahme, ſondern nebenher, wie das der Lebeweſen, auch in Differenzierung, „Entwicklung“ beſtehen kann. Erſte Entwicklungsſtadien, wie fie die Eier in Geſtalt der ſogenannten „Furchung“ (vgl. S. 144) durchlaufen, ſind überdies mit Seifenblaſen und anderen Schäumen ſowie mit Oltropfen demonſtriert worden; bei ihrer Verteilung ordnen 50
ſich die Blaſen oder Tropfen in einer Weiſe an, welche an die Grup— pierung der „Furchungskugeln“ bei der Eientwicklung erinnert: beide Prozeſſe gehorchen nämlich dem Plateauſchen Geſetze, wonach Flüſſigkeitstropfen ſich ſo aneinander legen, daß ſie ein Minimum von Oberfläche darbieten.
Zuletzt noch darin gleicht das Wachstum der Kriſtalle und anderer durch Zwiſchenlagerung wachſender Anorganismen dem der Organismen, daß fie über eine gewiſſe Grenze nicht hinauswachſen; iſt dieſe erreicht, ſo muß ſich wie beim Organismus ein neues Indi— viduum bilden. Damit wären wir alſo bei den fortpflanzungsähn— lichen und =gleichen Erſcheinungen der Anorganismen angelangt. Wenn übermäßig herangewachſene Tropfen zerfallen und ſich gleich nach ihrer Trennung wieder abrunden, jo gibt uns das ein Bild der Fortpflan- zung einfacher Lebeweſen durch Teilung. Beſonders gilt dies wieder von flüſſigen und fließenden Kriſtallen, die ja nämlich nicht nur die äußere Tropfenform, ſondern auch im Inneren die einheitliche Struktur ihrer feinſten Teilchen wiederherſtellen müſſen, wenn ein Kriſtallindi— viduum ſich in zwei oder mehrere geteilt hat. Noch zwingender erſcheint die Ahnlichkeit mit der Teilung organiſcher Zellen bei den künſtlichen Zellen, die, wie Kuckucks Baryumindividuen, Ledues durch Diffuſion einer Ferrozyankaliumlöſung entſtandene Gelatinezellen, auch Burkes Radioben, in ihrer flüſſigen Sphäre einen feſteren Kern tragen. Ja ſelbſt die komplizierten Kernteilungsfiguren in jenen, die Mehrzahl bil— denden Fällen, wo der Kern nicht einfach durchtrennt, ſondern in ſeine Einzelbeſtandteile aufgelöſt wird, die nun einen förmlichen Reigen tanzen, ehe ſie zu den zwei Tochterkernen wieder zuſammentreten (Tei— lungsfiguren, die wir im Kapitel „Fortpflanzung“ erſt noch näher kennen lernen müſſen), ſelbſt ſie ſind durch anorganiſche oder zwar organiſche, aber nicht mehr lebenstätige Modelle veranſchaulicht worden: am beiten durch Ledue, der hierzu zwei Tropfen Tuſche oder Blut ver— wendet, die in Kochſalzlöſung ſchwimmen; die Tuſche bzw. das Blut diffundiert in die Kochſalzlöſung und bildet dabei zweipolige Strahlungs— figuren, wie ſie bei der „indirekten Kernteilung“ (S. 175) in Erſcheinung treten.
Wie wir gleichfalls im Kapitel „Fortpflanzung“ des Näheren er— fahren werden, iſt es zur Erhaltung der Teilungsfähigkeit zuweilen nötig, daß manche Zellindividuen das Gegenteil einer Teilung vor— nehmen: ſtatt daß aus einem zwei werden, verſchmelzen zwei zu einem (Kopulation); auch dieſe Vereinigung iſt ein bei Tropfen geläufiger Vorgang, und indem er bei Kriſtall- gleichwie bei Zellindividuen damit endigt, daß die feinſte Anordnung der Teilchen im Inneren des ver— ſchmolzenen Gebildes nichts Doppeltes, ſondern nur ein zweimal ſo voluminöſes Einfaches erkennen läßt, unterſcheidet ſich die Kriſtall— kopulation nicht von der Zellkopulation. Wenn zwei Kriſtalltropfen zuſammenfließen, die verſchiedenen Subſtanzen angehören, ſo entſtehen Miſchkriſtalle, an denen ſich die Eigenſchaften der Stammkriſtalle
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vereinigen; je nachdem, ob die daran beteiligten Subſtanzen nah ver: wandt ſind oder nicht, iſt die Struktur des Miſchkriſtalles ebenmäßig oder erleidet Störungen. Die Baſtardierung zweier verſchiedener Arten von Tieren oder Pflanzen, die einen mehr oder minder vollkommenen und geſunden Miſchling liefern, je nachdem die Stammarten ſich inner— halb gewiſſer Grenzen näher oder ferner ſtehen, iſt jener Kriſtallmiſchung ſtrenge vergleichbar. — 8
Wir find am Ende unferer Aberſicht anorganiſcher Nachahmungen des Lebens angelangt, die, wenn ſie vollſtändig beſprochen werden ſollten, das vorliegende Buch allein ausfüllen müßten. Wir dürfen aber ſchon auf Grund der engen Auswahl ſagen: ſämtliche elementaren Fähig— keiten, die wir den Lebeweſen gewohntermaßen als exkluſives Eigentum zuſchreiben, find ſchon an nicht lebenden Naturkörpern vorbereitet; nur eben in einfachſter, anfänglichſter Geſtalt, die erſt in der wirklichen organiſchen Subſtanz höchſte Ausbildung erlangt. Die vollkommenſte Annäherung daran vollbringen die fließenden Kriſtalle; und man könnte die Frage aufwerfen, worin denn nun ſolch Kriſtallindividuum ſich von einem einfachiten Lebeweſen noch unterſcheidet. Lehmann ſieht die Anterſchiede beim Kriſtall in deſſen unbegrenzter Lebensdauer, unbeſchränkter Regenerationsfähigkeit ſelbſt aus kleinſten, kernloſen Bruch— ſtücken, in der Entſtehungsmöglichkeit frei aus der Löſung ohne geformten Keim ſowie in der Amkehrbarkeit des Wachstums, das nach teilweiſer oder gänzlicher Auflöſung jederzeit wieder beginnen kann. Hinſichtlich letzteren Punktes iſt aber fraglich, ob ein Kriſtall, der zum zweiten Male in der Löſung auftritt, noch als dasſelbe Individuum bezeichnet werden darf, welches inzwiſchen gelöſt geweſen war. Tiefgreifendere Anterſchiede liegen in der auch von uns ſchon hervorgehobenen chemiſchen Gleichartigkeit des Kriſtalles in all ſeinen Regionen, während ſelbſt das einfachſte Plasma ungleichartige Schichtungen aufweiſt. An erſter Stelle diesbezüglich befindet ſich der Kern, auch wenn er bei den Moneren noch nicht als geformter Beſtandteil, ſondern nur ſubſtantiell in der Zelle vertreten iſt; in kernhaltigen, anorganiſchen „Zellen“ beſteht der „Kern“ nur aus einer weniger flüſſigen Phaſe des „Zelleibes“, iſt aber von ihm nicht nachweislich chemiſch verſchieden. Nach wie vor bleibt erklärungsbedürftig, wie verſchiedene Stoffe von einer Beſchaffenheit, die am eindringlichſten als Kern- und Zelleibſubſtanzen zum Ausdruck gelangen, zum einheitlichen, ſo präziſe arbeitenden Syſtem zuſammentreten können; mit dieſer Erkenntnis halten wir eben wiederum da, wo wir das Problem der Urzeugung als vorläufig un— gelöſt verlaſſen mußten. Insbeſondere iſt es charakteriſtiſch für die Beobachtung lebensähnlicher Erſcheinungen bei anorganiſchen Stoffen und für ihre experimentelle Nachahmung durch künſtliche Modelle, daß immer nur eine einzelne oder wenige Seiten des Lebens— geſchehens damit getroffen werden können, während für andere wiederum neue Modelle erſonnen werden müſſen. Erſt die Verknüpfung aller würde uns aber ein vollkommenes Bild des Lebens bzw. dann
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ſchon das Leben ſelber geben, und das eben iſt wieder jenes alte Pro— blem, um das ſich die Forſcher bisher vergeblich bemüht haben, obſchon die gewonnenen Anläufe für die Zukunft zu beſſeren Hoffnungen be— rechtigen als jemals zuvor.
Ungeduldige Geiſter haben die Ausſicht auf Erfolg für den Erfolg ſelbſt genommen und ſind der Problemlöſung vorausgeſtürmt: nicht im Beſtreben, die undurchſichtige Verwicklung der Lebensprozeſſe durch all— mähliche Einſetzung bekannter anorganiſcher Vorgänge aufzuhellen, ſei das Heil zu ſuchen, ſondern umgekehrt darin, die Elemente und Tätig— keiten des Lebens in die ſcheinbar unbelebte Welt hineinzutragen. Die phantaſtiſche Vorausſetzung Preyers, „die Erde ſei von vornherein in all ihrer Glut ein organiſches Weſen mit Leben und Stoffwechſel ge— weſen und die anorganiſche Subſtanz ſei als Ausſcheidung der orga— niſchen entſtanden,“ hat in neueſter Zeit ihre Auferſtehung gefeiert in den Lehren von Walter Hirt und Max Münden, die alle unorganiſchen Körper als lebendig oder als aus Lebeweſen (Mündens „Chthono— blaſten“) zuſammengeſetzt behaupten. Das Körnchen Wahrheit, welches gewiß all dieſen, zurzeit nicht hinlänglich begründeten Ausdeutungen zugrunde liegt, iſt das theoretiſch-logiſche Poſtulat der Allbeſeelung oder Panpſychie; die einfachſten Empfindungselemente, als all— gemeine Eigenſchaft der lebenden Subſtanz, müſſen in den ein— fachſten Lebensträgern noch zugegen ſein; in der Zelle, wo wir ſie direkt beobachten, nicht minder als in den ſie zuſammenſetzenden Biomolekülen; daher weiter auch in deren Atomen, die aber nichts Organiſches mehr darſtellen. Die „Atomſeele“ wäre dann als all— gemeine Eigenſchaft der Elemente, die Empfindung (in faſt unend— lich niedriger Vorſtufe) als allgemeine Eigenſchaft der Materie anzu— erkennen.
Literatur über „Leben und Tod“
Bechhold, H., „Die Kolloide in der Biologie und Medizin“. Dresden— Leipzig 1912.
Benedikt, Moriz, „Biomechanik und Biogeneſis“. Jena, G. Fiſcher, 1912.
Bütſchli, O., „Anterſuchungen über mikroſkopiſche Schäume und das Protoplasma“. Leipzig, W. Engelmann, 1892.
Grafe, V., „Einführung in die Biochemie“. Leipzig und Wien, F. Deu— ticke, 1913.
Krompecher, E., „Kriſtalliſation, Fermentation, Zelle und Leben“. Wies— baden, J. F. Bergmann, 1907.
Ledue, St., „La biologie synthétique“. Paris, A. Poinat, 1912.
Lehmann, O., „Die neue Welt der flüſſigen Kriſtalle“. Leipzig 1911.
deumeiſter, R., „Betrachtungen über das Weſen der Lebenserſchei— nungen. Ein Beitrag zum Begriff des Protoplasmas“. Jena, G. Fiſcher, 1903.
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Oſtwald, Wilhelm, „Vorleſungen über Naturphiloſophie“. Leipzig, Veit & Co., 1902.
Pauli, Wolfg., „Kolloidchemie der Muskelkontraktion“. Dresden und Leipzig, Th. Steinkopff, 1912.
Polimanti, O., „II Letargo‘. Rom, Tipografia del Senato, 1912.
Schoenichen, W., „Biologie und Phyſik“. Leipzig, N. Voigtländer, 1909 N
(Vgl. auch die Literatur zum vorhergehenden Kapitel über „Arzeugung“ ſowie die Schrift von Della Valle im Literaturverzeichnis des VIII. Kap. über „Zeugung und Vermehrung “.)
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III. Reizbarkeit (Srritabilität)
1. Reize und Erregungen
Als Reiz pflegt man jede Einwirkung auf die lebende Subſtanz zu betrachten, die darin eine Erregung hervorbringt. Dieſe alltägliche Definition bedarf einiger wiſſenſchaftlicher Analyſe, die wir ihr im An— ſchluſſe an Semon geben. Hiernach müſſen vor allem die als Reize auftretenden Einwirkungen einer näheren Gruppierung unterzogen werden: man iſt geneigt, darunter nur jene energetiſchen Einwirkungen zu ver— ſtehen, die ſich außerhalb des Lebeweſens, in feiner „Umwelt“, ab— ſpielen und die insgeſamt ſeine „äußeren Lebensbedingungen“ aus— machen; und gewiß nehmen ſie ſtarken erregenden Einfluß auf die reiz— bare Subſtanz. Allein ſolche Erregungswirkungen gehen auch inner— halb des Lebeweſens vor ſich: man denke an den Druck, den die Körperteile aufeinander ausüben; an die Wärme, die ſie bei ihrer Tätigkeit erzeugen; an die chemiſchen Wirkungen der im Körper er— zeugten inneren Sekrete, Fermente und Säuren. Endlich muß man noch ſolche Erregungswirkungen einbeziehen, die bereits ſelbſt wieder von anderen Erregungen ausgelöſt werden.
Die Geſamtheit der äußeren und einen Teil der inneren Reiz— wirkungen bilden alſo phyſikaliſch-chemiſche Energien; Davenport hat ihnen mit Rückſicht auf ihre Beziehungen zur lebenden Subſtanz (nur in anderer Reihenfolge) folgende Einteilung gegeben, die ja im großen und ganzen mit der in der Phyſik üblichen Einteilung übereinſtimmt:
1. Licht, wirkt quantitativ als hell und dunkel in den verſchie— denen Intenfitätsgraden, qualitativ in den verſchiedenen Farben auf die Lebeweſen ein; und zwar entweder als auffallendes oder durchfallen— des Licht.
2. Temperatur, als kalt und warm,
3. Feuchtigkeit, als naß und trocken auf den Organismus wirkſam.
4. Chemiſche Agentien, mit denen das Lebeweſen am meiſten in Geſtalt ſeiner Nahrung (qualitativ der Nahrungsſtoffe, quantitativ als Hunger und Maſt), aber auch ſeines Wohnmediums in Berührung tritt: Zuſammenſetzung des Bodens, worauf es lebt, des Waſſers, worin es ſich aufhält.
5. Mechaniſche Agentien: Zug, Druck, Stoß, Schnitt, wellen— förmig ſchwingende Erſchütterung (Schall u. a.).
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6. Dichte des Mediums, ob Luft, Waſſer oder Erde, ob Süß— oder Salzwaſſer (jetzt nicht mit Rückſicht auf chemiſche, ſondern auf Dichteverhältniſſe). ö
7. Schwerkraft und
8. Elektrizität und Magnetismus.
Dieſe achterlei elementaren Energien machen insgeſamt die energetiſche, und zwar die elementar-energetiſche Situation des Lebeweſens aus. Gemäß dem Vorhergeſagten hätten wir darin ſeine äußere und innere, elementar-energetiſche Situation zu unterſcheiden.
Eine analoge Einteilung läßt ſich mit denjenigen Reizen, die ſelbſt ſchon Erregungen, alſo nicht mehr offenkundig chemiſch-phyſikaliſch, ſon— dern phyſiologiſch ſind, viel ſchwerer vornehmen; die Energiearten der reizbaren Subſtanz ſind uns unbekannt. Zwar wiſſen wir heute einiges Negative darüber, ſo z. B., daß es ſich nicht um elektriſche Ströme handelt, die ſich ungleich ſchneller fortpflanzen müßten, als die Reiz— leitung es tut. Manche Forſcher glauben, daß weſentlich chemiſche Vorgänge, andere, daß jedenfalls Kombinationen der bekannten ele— mentaren Energien maßgebend ſind, noch andere, daß beſondere Lebens— oder phyſiologiſche oder lentſchieden zu eng gefaßt) Nervenenergien exiſtieren. Semon nennt fie zuſammen „Erregungsenergie“ und gelangt zu folgender Aberſicht der reizwirkſamen Geſamtlage (Situation), in der ſich der Organismus befindet, ſolange er lebt:
1. Die elementar-energetiſche Situation (Licht, Wärme, Feuchtigkeit, Nahrung uſw.).
a) Die äußere, b) die innere elementar-energetiſche Situation.
2. Die erregungs-energetiſche Situation (Einteilung höch— ſtens nach Körperteilen, welche Erregungsbezirke abgeben, eventuell alſo nach Sinnesgebieten).
Man wird gut tun, außerdem von zwei Ausdrücken Kenntnis zu nehmen, womit wichtige Reizgattungen bezeichnet werden, die vorſtehen— der Aberſicht nicht eingegliedert ſind, weil ſie ſich im allgemeinen über mehr als eine der dort aufgeſtellten Kategorien erſtrecken: die forma— tiven Reize, nach Herbſt und Jaques Loeb jene, die Zellteilungen, im vielzelligen Organismus alſo Wachstum hervorrufen; ſie können natürlich außen und innen, elementar- oder erregungssenergetiſch wirken. Ferner die Poſitions- oder morphogenen Reize, nach Semon ſolche, die durch das Vorhandenſein der Körperteile ſelbſt bedingt find: ſie gehören zwar insgeſamt der inner-energetiſchen Situation an, mögen aber hier elementar- oder erregungssenergetiſcher Natur fein.
Noch iſt mit Roux und Semon zu bedenken, daß ſtets allgemeine Bedingungen in der energetiſchen Lage erfüllt ſein müſſen, damit ein Reizfaktor feine beſonderen Wirkungen zu entfalten vermag: es will z. B. ein Touriſt den Großglockner erſteigen und erwarb hierzu jedes erforderliche Training; da fällt Neuſchnee, und er muß ſein Vorhaben aufgeben. Oder Waſſer befindet ſich bei einer Temperatur von mehr
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als 100 Graden und follte ſchon ſieden; allein der Druck im Gefäß iſt zu groß. Im Falle des Bergſteigers war die ſpezielle Körperübung der beſtimmende (determinierende) Faktor fürs Gelingen des Anter— nehmens, günſtige Witterungsverhältniſſe, Ausrüſtung, Verproviantie— rung uſw. aber wären vorausſetzende (realiſierende) Faktoren; die Siedetemperatur iſt für das Aufkochen des Waſſers der ſpezifiſche De— terminationsfaktor, das Verharren unter einem gewiſſen Druckmaximum der allgemeine Realiſationsfaktor, der in unſerem Beiſpiel nicht er— füllt war.
Da nun das Lebeweſen, ſolange es überhaupt lebt, aus einem als Reizſumme wirkſamen Milieu, wozu ſogar ſein eigener Körper gehört, nicht herauskann, ſo iſt ſelbſtverſtändlich, daß ein Zuſtand von Erregungs— loſigkeit, ein abſoluter Ruhezuſtand, nie vorkommt. Abgeſehen von logiſcher Erſchließung kann man dafür auch direkten Nachweis führen. So hören im Dunkeln oder bei geſchloſſenen Augen nicht etwa die Geſichtsempfindungen auf, vielmehr ſehen wir mindeſtens ein mittleres Grau. Wir ſind uns ferner ſtets der Stellung unſerer Glieder im Raum bewußt, was unmöglich wäre, wenn von ihnen keine Erregungs— wirkungen ausgingen. Zu ſolchen uns zu Bewußtſein kommenden (ober— bewußten) Erregungen kommt noch die unkontrollierbare Menge unterbewußter Erregungen. Endlich wurde auf kolloid-chemiſchem Wege (Pauli) erwieſen, daß auch im erſchlafften „raſtenden“ Muskel Arbeit geleiſtet wird, alſo Erregungsenergien am Werke ſind.
Daraus folgt zunächſt methodiſch, daß wir bei unſeren Forſchungen, aus jenem allgemeinen und ununterbrochenen Erregungszuſtand immer erſt willkürlich die eine oder andere Komponente herausſchälen müſſen. Das bleibt unter allen Amſtänden ein Gewaltakt und in ſeinem Ge— lingen Stückwerk, iſt aber dennoch das einzige Mittel zu fruchtbarer Erkenntnis. Vergegenwärtigen wir uns die Schwierigkeit ſolcher Iſo— lierung zuerſt auf elementar-energetiſchem Gebiete: bricht ein Sonnen— ſtrahl durch die Wolken, fo iſt damit allein ſchon ein Komplex von mindeſtens drei Energieſorten reizwirkſam, Licht-, chemiſche und Wärme— energie. Hier kann es noch annähernd gelingen, die thermiſche Wirkung durch zwiſchengeſchaltete Eisſchichten, die chemiſche durch Vorſchaltung roter Gläſer auszuſchließen. Noch ſchwieriger jedoch iſt die Iſolierung der dazugehörigen Erregung: wir empfangen zwar oft den Eindruck, als ob ſie über ihren zuſtändigen Bezirk nicht hinausginge, z. B. eine Berührung nicht über die berührte und eng angrenzende Hautſtelle, eine Schallempfindung nicht über die Hörſphäre uſw., — und auch der anato— miſche Befund unterſtützt zunächſt, wie wir bald hören werden, eine ſolche Annahme. Aber bei geſteigerter Reizbarkeit, wie ſie als Begleit— erſcheinung krankhafter Prozeſſe (3. B. Strychninvergiftung, Tetanus, Waſſerſcheu, Nervenleiden) auftritt, oder zwar bei normaler Irritabilität, aber geſteigerter Reizintenſität ſieht man ſofort, daß die Abſchließung der Reizgebiete eine unvollkommene iſt; daß die Erregungen über ihren engeren Bezirk hinaus bewußt werden, wohin fie jedenfalls ſchon unter
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normalen Verhältniſſen, nur unterbewußt und in zunehmender Ab— ſchwächung, vordrangen. Beiſpiele dafür find die „Mitbewegungen“, ferner die „Irradiationen“, Ausſtrahlungen von Empfindungen, befonders Schmerz- und Kitzelgefühlen; ein bekannter Nefler dieſer Art iſt der Kitzel im Kehlkopf bei Berührung des Trommelfelles. Anter Zugrundelegung einer außerordentlichen Abminderung der Erregungs— ſtärke gelangen wir zur Folgerung, daß jeder Reiz die geſamte reizbare Subſtanz eines Organismus, alſo ſeine geſamte lebende Subſtanz, in Erregung verſetzen kann.
Daraus, daß der Organismus beſtändig in einer reizwirkſamen Lebenslage und folglich auch lebenslänglich in einer Erregungsſituation ſich befindet, folgt weiter biologiſch, daß nicht bloß die Anweſenheit, ſondern unter Amſtänden auch die Abweſenheit einer energeti— ſchen Einwirkung (etztere auf mehr indirektem Wege) als Reiz auftreten kann. In unſerer Aberſicht der elementaren Reizenergien (S. 55) ſollte dies bereits dadurch ausgedrückt ſein, daß möglichſt ſtets Gegenſätze aufgezählt ſind: nicht nur Licht, ſondern auch Finſternis; nicht nur Hitze, ſondern auch Froſt uſw. Die vorhin erwähnte Grau— empfindung in dem vor Lichteinfall geſchützten Auge iſt ein Beweis dafür, ferner die gewaltige Menge der Hemmungen, bei deren Fortfall ein beſtimmter Erregungs- oder Empfindungsvorgang erſt ein— ſetzen kann.
Der Sprachgebrauch bezeichnet den Reiz als Arſache, die ihm folgende Erregung als Wirkung. Man darf ſich das aber nicht ſo vorſtellen, als ob ſich die Reizenergie direkt und äquivalent in Erregungs— energie umwandelte, alſo etwa im Falle eines äußeren Reizes phyſika— liſche in phyſiologiſche Energie. Schon unſere Feſtſtellung, daß auch Abweſenheit einer Energie als Reiz wirken kann, ſchließt die gegen— wärtige Konſequenz in ſich ein. Es iſt alſo ſtrenge genommen unrichtig, wenn man ſagt, „der Reiz ſetzt ſich in die Erregung um“, richtig da— gegen: „der Reiz löſt die Erregung aus“. Man darf, um ſich dies anſchaulich zu machen, an eine Spieluhr denken, die ein Muſikwerk abſchnurren läßt, wenn ſich ein Sperrhaken öffnet; die geringe Kraft, die zur Offnung des Hakens erforderlich war, iſt gewiß nicht das energetiſche Aquivalent der Energie, die zur Hervorrufung der Tonfolgen und Akkorde dient; dieſe iſt vielmehr in dem Ahrwerk ſelber enthalten und wurde durch Entfernung des Hakens nur freigemacht. In einem Punkte hinkt dieſer Vergleich: wie wir ſofort noch vernehmen werden, dauert nämlich die deutlich oberbewußte Erregung ungefähr ebenſo lange, wie der Reiz einwirkt; das Muſikſtück dauert aber mehrere Minuten, die Offnung des Hakens kaum eine Sekunde. Darum gibt (laut Semon) ein Brett, ſchräg an die Wand gelehnt und dabei auf den Knopf einer elektriſchen Klingel drückend, ein beſſeres Modell: es kann keine Rede davon ſein, daß die Lageenergie des Brettes ſich in die elektriſche Energie der Stromleitung und weiter in die Bewegungsenergie des Glockenhammers umwandelt; ſondern der Druck wirkt nur als Auslöſungsfaktor, der die
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im Läuteapparat ſelbſt vorhandene chemiſche Energie in den Stand fest, elektriſche und als Endglied der Kette Schwingungsenergie zu erzeugen. Obwohl hier das Klingeln ſo lange dauert, als der Druck auf den Knopf andauert, iſt auch dies Gleichnis noch unvollkommen, weil es gleichgültig iſt, ob das Brett ſchwerer oder leichter iſt, wenn es nur im— ſtande iſt, den Klingelknopf genügend weit nach innen zu drücken, um den Strom zu ſchließen. Beim lebenden Objekt dagegen ſtehen Reiz: größe und Erregungsgröße zweifellos in einer feſten, gleichgerichteten Beziehung: je ſtärker der Reiz, deſto ſtärker auch die Er— regung. Das Weber-Fechnerſche Geſetz der Pſychologen verſucht dies Verhältnis zahlenmäßig auszudrücken, was daran ſcheitert, daß wir die Erregungs- und Empfindungsenergie nicht genau berechnen können, denn ihrem eigentlichen Weſen nach iſt ſie uns unbekannt, folglich auch unmeßbar: wir wiſſen im groben, dieſe Empfindung iſt ſchwächer als jene, aber zu exakten Ziffern gelangen wir nicht. Doch das nebenbei: am Beiſpiel der Klingel haben wir trotz ſeiner unvoll— kommenen Vergleichbarkeit mit dem lebenden Objekt doch gelernt, jetzt dieſes ſelbſt beſſer zu verſtehen; ein Gewicht auf unſerer Hand deformiert die im gedrückten Hautbezirk gelegenen Taſtkölbchen, die eine Anderung ihres Stoffwechſels erfahren, und dieſe chemiſche Energie erſt — aus— gelöſt, nicht umgewandelt aus der Druckenergie des Gewichtes — ver— mittelt die Erregung, die ſich uns als Druckempfindung verrät. Durch dieſe grundlegende Erkenntnis fallen die Anſprüche der Vitaliſten auf eine übermechaniſche Lebenskraft (S. 6) in ſich zuſammen, inſoweit fie fie darauf baſieren, daß die Reizerſcheinungen oft jo unverhältnismäßig größer ſind als die ſie bedingenden elementaren Außenwirkungen.
Wir müſſen uns nun mit dem zeitlichen Verhältnis zwiſchen Reiz— urſachen und Reizwirkung beſchäftigen. Wir erwähnten ſchon, daß die Erregung ungefähr ebenſo lange andauert, als der Reiz einwirkt. Die Einſchränkung „ungefähr“ verſteht man durch folgende beiden Zuſätze: erſtens ſchwindet die Erregung, je länger ſie von einem gleichbleibenden Reiz forterhalten wird, deſto mehr aus dem Oberbewußtſein; daß ſie mithin langſam aufhört, bewußte Empfindungen hervorzurufen, beſagt aber keineswegs, daß die Erregung überhaupt aufgehört hat. Es iſt vielmehr nur „Gewöhnung“ eingetreten, aber unterbewußt dauert die Erregung ungeſchwächt fort, ſolange ſich der Reiz gleichbleibt. Durch reizphyſiologiſche Verſuche am Muskel und direkt an Nerven iſt dies überzeugend bewieſen worden, aber auch Reizerfolge laſſen es er— kennen, z. B. wenn Akazienblättchen während der ganzen Dauer der Sonnenbeleuchtung ausgebreitet verharren, während der ganzen Nacht zuſammengefaltet bleiben. Zweitens ſchwindet die Erregung, nachdem der Reiz aufgehört hat, nicht ſofort, ſondern erfährt in rapidem Abfall eine immerhin noch Sekunden oder Minuten dauernde „Nach— wirkung“. Bekannt ſind die „Nachbilder“ der Geſichtsempfindungen, das „Ausklingen“ der Gehörs- oder Muskelempfindungen. Bemerkens— wert iſt, daß das Nachbild (wie beſonders deutlich bei optiſchen Emp—
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findungen zu vergegenwärtigen) zur Empfindung während der Reizdauer oft in einem gewiſſen Kontraſt ſteht: haben wir Rot geſehen, fo ſehen wir im Nachbild Grün, alſo Komplementärfarben; ebenſo nach Wahr— nehmung von Blau Gelb u. dgl. mehr.
Es iſt, demnach irrig, wenn man, wie Verworn es tat, den Reiz als eine Veränderung der Lebensbedingungen definiert. Man wird leicht dazu verführt, weil ſich die Erregung beim Amſchlagen einer Situation in eine andere beſonders ſcharf kundgibt; gewöhnlich iſt ja auch dieſer Moment von den auffälligſten Bewegungs- und Stoff— wechſeläußerungen begleitet. Noch dazu ſteht die Heftigkeit dieſer deutlichſten Reizreaktionen zur Größe der Schwankung, die in den Lebensbedingungen eingetreten war, im geraden Verhältnis. Dadurch darf über die Permanenz der Erregung, ſobald die eingetretene Ver— änderung eine gewiſſe Stabilität erreicht hat, keine Täuſchung entſtehen. Die wiſſenſchaftliche Reizdefinition hat demnach, in Erweiterung und Vertiefung der zuerſt gegebenen trivialen, (vereinfacht nach Semon) folgendermaßen zu lauten: als Reiz bezeichnen wir eine energetiſche Bedingung, deren Auftreten, Dauer und Verſchwinden das Auftreten, die Dauer und das Verſchwinden eines beſtimmten Erregungszuſtandes auslöſt.
2. Reizbare Subſtanz
Reizbarkeit iſt, wie wir ſchon wiſſen, eine Eigenſchaft jeder lebenden Materie. Daß die einzeln lebende Zelle der Aufgabe gerecht werden muß, Reize aufzunehmen und danach zu handeln, iſt ſelbſtverſtändlich, ſonſt wäre ſie ja kein lebendes Weſen; aber auch zuſammenlebende Zellen dürfen die Fähigkeit dazu nicht verlernen. Jedoch beruht die Entwicklung eines vielzelligen, zweckmäßig gebauten Organismus nicht nur auf maſſenhafter Anhäufung von Zellen, ſondern auch auf ſinn— reicher Arbeitsteilung unter ihnen. Die Geſamtfunktionen der lebenden Subſtanz werden dann von jeder einzelnen Zelle nur mehr ſo weit ausgeübt, als zur Erhaltung ihres Lebens wie zum Wohle des ganzen Zellenſtaates unbedingt notwendig iſt; jede Zelle muß ſich er— nähren können, muß zur Teilungsgröße heranwachſen, welche die Ver— mehrung garantiert, muß in Erfüllung dieſer Zwecke reizbar ſein und bis zu einem gewiſſen Grade Eigenbewegung (Plasmaſtrömung) auf— weiſen. Aber jede Zelle, bzw. gewebe- und organbildende Zellengruppe bildet ſich gleichzeitig in nur einer von all den Fähigkeiten zur Spezia— liſtin aus. Das gilt denn auch für die Reizbarkeit. Schon bald nachdem im Tierreich das einſame Leben der Zelle aufgegeben, Zell— aggregaten und damit dem Beginne der Arbeitsteilung Platz gemacht hat — nämlich bei den Hohltieren (Zölenteraten) — treten unter den Epithelzellen ſolche mit geſteigerter Reizbarkeit auf, die man als Nerven— zellen („Neuronen“) bezeichnen muß. Am eheſten macht ſich dieſe Differenzierung naturgemäß dort bemerkbar, wo die Reize zuerſt und am meiſten auftreffen: ganz an der Oberfläche, in der Bedeckungs—
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haut. Schon bei den nächſthöheren Gruppen iſt das Beſtreben folcher Zellen (wenn man ſo ſagen darf) darauf gerichtet, mit tiefer gelegenen Regionen Fühlung zu gewinnen, denen die außen aufgenommenen Eindrücke mitgeteilt werden ſollen.
Die veränderte, ſpezialiſierte Tätigkeit der Nervenzelle kann ihr Ausſehen nicht unbeeinflußt laſſen: das Neuron (S. 37 Abb. 5, Detail 19—21) iſt reich an Plasma, mit großem Kern, und gewinnt eine ſternförmige, in viele Spitzen und Strahlen ausgezogene Geſtalt, die ebenſoviele faſerige Fortſätze („Dendriten“) darſtellen. Auch ſeiner inneren Beſchaffenheit nach iſt dies Plasma anders geworden, wie man bei großer Anhäufung von Neuronen (in der Gehirnrinde und dem Inneren des Rückenmarkes) ſchon mit freiem Auge an ihrer grauen Farbe erkennt; hingegen erſcheinen Anhäufungen von Faſern (wie im Gehirninneren, an der Oberfläche des Rückenmarkes) weiß. Mikroſkopiſch ſieht man feinſte Faſern (Nervenprimitivfibrillen) den Zelleib durchlaufen und ſich in den Dendriten fortſetzen. Einer oder einige von letzteren werden ſtets beſonders lang — die eigentlichen Nervenfaſern („Neuriten“) — und endigen mit dem veräſtelten „Endbäumchen“. Bei höheren Tieren umhüllen ſich die Nervenfaſern mit einer einfachen oder doppelten Scheide; im letzteren Falle mit einer inneren, aus Myelin beſtehenden Mark- und einer äußeren, der aus Bindegewebe beſtehenden Schwannſchen Scheide (S. 37, Abb. 5, Detail 22).
Hat die Nervenzelle dieſe feingegliederte Geſtalt gewonnen, dann iſt auch die Arbeitsteilung in ihr ſchon weiter fortgeſchritten und nicht bei erhöhter Reizbarkeit im ganzen ſtehengeblieben, ſondern der eigent— liche Zellkörper (mit dem Kern) dient zur Reiz aufnahme und -auf— bewahrung, die Faſern dienen der Reizleitung. Das Endbäum- chen, deſſen Veräſtelungen andere Zellen umſpinnen, dient der Aber— tragung des Reizes auf fremde Gewebe oder feiner Abernahme von Sinnesepithelien. Die Scheiden dienen zur Iſolierung der Leitungsbahn, damit die in ihr zirkulierenden Depeſchen möglichſt nicht an unrichtigen Stellen abgegeben werden; wie wir erfuhren, iſt dieſe Iſolierung nur eine relative, bei der allgemeinen Irritabilität lebender Zellen nimmermehr eine abſolute.
Anhäufungen von Nervenzellen bilden Nervenknoten (Ganglien); legen ſich zahlreiche Nervenfaſern in ihrer Längsrichtung aneinander, ſo wird das entſtandene Bündel ein Nerv genannt. Je höher die Entwicklung der Tiere fortſchreitet, deſto gründlicher wird die geſchilderte Zentraliſierung: zuerſt ſind die Ganglien mit den ſie verbindenden Faſern noch ziemlich gleichmäßig im Körper verbreitet, dann werden beſtimmte Bahnen, die ſich mit ihren geometriſch regelmäßigen Längs— und Querkommiſſuren wie weiße Schienenſtränge ausnehmen, bevorzugt (Bauchmark der Gliedertiere); dann wachſen etliche der darin gelegenen Stationen zu beſonderer Größe heran (Schlund-, Seiten-, Fuß- und Eingeweideganglion der Weichtiere); zuletzt überragt eines ſämtliche
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anderen an Größe, ſo daß man von einem einzigen und eigentlichen Zentrum (Gehirn ſamt Rückenmark der Wirbeltiere) ſprechen kann. Vom Ganglienapparat des Zentralnervenſyſtems ſtrahlt dann der Faſerapparat des peripheren Nervenſyſtems aus; daneben verblieben zahlreiche kleinere Ganglien in urſprünglicher Verbreitung, die nun als ſympathiſches Nervenſyſtem in Zwiſchenſchaltung arbeiten.
Bei den Pflanzen, wo der untergeordnete Bewegungsbetrieb kein ſo promptes Ingangſetzen erfordert, iſt es zur Ausbildung eines beſonderen Nervenſyſtems nicht gekommen. Man ſchließt daraus mit einigem Recht auf ein entſprechend untergeordnetes Erregungs- und Empfindungsver— mögen, — wovon wir in der Art, wie ſelbſt der feinfühligſte Menſch, der kein Tier quälen würde, Gewächſe behandelt, Blumen pflückt u. dgl., eine unwillkürliche Nutzanwendung machen. Nach unſeren Begriffen von lebender Subſtanz, woraus ja auch die Pflanzen beſtehen, iſt aber ſelbſtverſtändlich, daß ſie Irritabilität beſitzen; falſch wäre es auch, ihnen jede Senſibilität abſprechen zu wollen. Steht zwar wohl die Reiz— leitung auf gänzlich undifferenzierter Stufe, ſo exiſtieren doch (bald zu erwähnende) reizempfangende Vorrichtungen, die nebſt verſchiedenen Reiz— erfolgen die Exiſtenz einer primitiven Pflanzenſeele und mithin die Be— rechtigung einer Pflanzenpſychologie (Francé, Haberlandt) beweiſen.
3. Reizaufnahme (Senſibilität)
Iſt, wie beſchrieben, das Zentralnervenſyſtem mit anſchließenden Leitungsbahnen in die Tiefe gerückt, ſo muß derjenige Teil des Syſtems, der die äußere elementar-energetiſche Situation beherrſcht und für den Organismus zum Guten lenken ſoll — der die unmittelbar von außen kommenden Reize als erſter aufzunehmen hat, an der Oberfläche bleiben. Das ſind die Sinneszellen, die ſich zu Sinnesepithelien zu— ſammenſchließen, aus denen unter Heranziehung und zweckmäßiger Am— bildung von Nachbargeweben die Sinnesorgane gebildet werden. Eine Aufzählung der „fünf Sinne“, deren Zahl die Wiſſenſchaft frei: lich etwas erweitern muß, lehrt fo recht wieder, daß auch die Reizauf— nahme, die zur Ausbildung hochſpezialiſierter Werkzeuge geführt hat, anfänglich und bis zu dem gewiſſen, unentbehrlichen Grade dauernd allen Teilen des Lebeweſens zukommt.
Denn für den urſprünglichſten aller Sinne, den Organſinn oder das Allgemeingefühl, gibt es noch bei den höchſten Tieren keine be— ſonderen Reizpforten, ſondern da iſt jedes Organ für ſich ſelbſt und in dieſer Eigenſchaft auch für alle anderen die Aufnahmeſtelle derjenigen Empfindungen, die ſich als Wohl- und Anwohlbefinden, Luſt und Schmerz, Hunger und Durſt (Organempfindungen sensu strictiore), Lage und Bewegung (Muskelempfindungen) kundgeben. Es ſei denn, daß man für die Empfindungen der Lage — es iſt dies ein vielum— ſtrittenes Gebiet — das fchon tief unten im Tierreich beginnende, fälſch— 62
lich als „Hörblaſe“ bezeichnete Gleichgewichtsorgan hier ausſondern müßte, das bei den höheren Wirbeltieren in den Bogengängen des Ohrlabyrinths mit ihren „Hörſteinen“ (Otolithen — richtiger Stato— lithen) ſeinen Sitz hat. — Schon eine große Beſonderheit der Organ— ſind die Hautempfindungen: nur ein Organ vermittelt ſie, die Haut, — freilich eines von größter flächenhafter Ausdehnung, das noch recht viel— ſeitig iſt, indem es neben den Sinnesfunktionen noch ſolche der ſchützen— den Bedeckung, der Atmung, Ausſcheidung und Temperaturregulierung
verſieht. Aber beſondere kölbchenförmige Nervenendigungen, die Taſt— und Temperaturkörperchen, vermitteln von hier aus den Zentren Sinnes— eindrücke, die ſich als Taſt- und TDemperaturſinn untereinander wie von den übrigen Organempfindungen deutlich ſondern laſſen, mit— hin ſelbſtändige Sinnesgebiete erſchließen. — Allmählich ſcheiden ſich aus den zu dieſer „Gefühls “vermittlung innervierten Zellen ſolche, die auf noch feinere Anſtöße aus der Amgebung reagieren: etwa auf leiſe Druckſchwankungen des Waſſers, wie vermutlich bei den die Seitenlinie bildenden Lateralorganen der Fiſche; oder ſogar auf raſche Luftwellen, die ſich derartig verfeinerten Sinneszellen als Schall mitteilen; oder endlich in höchſtem Raffinement auf ſchwingende Teilchen des Licht—
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äthers, die ſich in Sehempfindungen äußern. Laſſen fich die fie aus— löſenden Reize in letzter Linie, wenn auch äußerſter Verfeinerung auf mechaniſche Energien zurückführen, ſo geht die Differenzierung der Sinneszellen nach anderer Richtung zur Perzeption chemiſcher Energie über; das dafür geſchaffene Sinnesgebiet treffen wir in ſeiner beſten Aus— bildung und abermaliger Arbeitsteilung graduell, aber keineswegs prinzipiell in Geruchs- und Geſchmacksſinn geſchieden an, den erſteren für Wahrnehmung beſonders verdünnter Stoffe, die ſich daher meiſt in gas— förmigem Zuſtande befinden müſſen, den letzteren zur Aufnahme kon— zentrierterer, daher meiſt flüſſiger Löſungen geeignet. Mit Geſichts— und Gehörſinn und zugehörigen Sinnesnerven ſind die Aufnahmsorgane auf den Gipfel der Spezifität emporgerückt, denn ſie können andere Energiearten als diejenigen, worauf ſie einzig eingeſtellt ſind, auch nur mehr in ihrer ſpezifiſchen Weiſe verwerten: ſo iſt die Reaktion auf einen Stoß, der den Sehnerven trifft, ein Funkenſehen, alſo eine optiſche, keine mechaniſche Empfindung. Geſchmack und Geruch ſind noch nicht in dieſem Grade ſpezifiſch: denn unter die von ihnen vermittelten chemi— ſchen mengt ſich, mit letzteren oft verwechſelt, noch manche taktile Haut— empfindung. Stechende, ſcharfe, beißende, brennende „Gerüche“ und „Geſchmacksempfindungen“ ſind keine echten Empfindungen der Naſen— und Mundſchleimhaut, ſondern ſolche des in die Naſen- und Mund— höhle fortgeſetzten Hautintegumentes im allgemeinen.
Die Pflanzen beſitzen, obwohl ſich bei ihnen nirgends ein reiz— leitendes Syſtem ausgebildet findet, dennoch reizaufnehmende, alſo Sinnesorgane: ſpitze Wärzchen (Papillen) zur Lichtaufnahme auf ſamtigen Blättern; Taſthaare beſonders auf Blättern, die ſich in— ſektenfangend betätigen; Stärkekörner (Abb. 7), die in Wurzelſpitzen die Gleichgewichtsſteinchen der Tiere vertreten und als ſtatiſche Werk— zeuge dienen. Daß manche Pflanzen recht ſenſibel ſind, erkennt man an den prompten Schließbewegungen der Mimoſenblätter, an den ein— wärts ſchnappenden Staubblättern des Sauerdorns, den Schleuder— früchten der Balſamine und Spritzgurke.
4. Reizleitung
Gehen wir diesmal von den Pflanzen aus und ſchließen gleich an die Aufzählung ihrer Sinnesorgane die Beſchreibung ihrer Art, die Sinneseindrücke weiterzuleiten. Da ſie keine hierzu ſpezialiſierte Nerven— ſubſtanz und weder Neuronen noch Neuriten beſitzen, kann nur die all— gemeine Irritabilität, wie ſie jeder Zelle zukommt, dafür herangezogen werden: die Erregung muß von Zelle zu Zelle weitergegeben werden. Auch dieſe Kommunikation iſt erſchwert durch die dicken Zell— wände; indeſſen wird das Hindernis umgangen durch die darin befind— lichen Poren, die dem Zelleib erlauben, Plasmafortſätze in die Nachbar— zelle hinüberzuſtrecken. Daß die Pflanzen des Reizleitungsvermögens nicht entbehren, wird nicht bloß durch den eben gemeldeten anatomiſchen
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Befund, ſondern mit Sicherheit durch das phyſiologiſche Experiment be— wieſen: bekanntlich wenden ſich Stengel und Blätter dem Lichte zu; umhüllt man den Stengel mit lichtundurchläſſigem Stoff (Stanniol- und ſchwarzem Papier), ſo daß das Licht nur von den Blättern aufge— nommen werden kann, ſo tritt die entſcheidende Krümmung dennoch ebenfalls ſchon ganz unten am Stengel ein. Immerhin bleibt die Reiz— leitung der Pflanze eine primitive und langſame, vergleichbar dem Nach— richtendienſt, den eine Kette Menſchen dadurch verſieht, daß einer immer in Hörweite vom anderen ſteht und ihm die Nachricht zuruft.
Demgegenüber erhebt ſich die Reizleitung des Tieres zum Range einer telegraphiſchen oder Telephonverbindung: nötig iſt nur eine Empfangs-, eine zentrale Amſchalt- und eine Abernahmsſtation, zwiſchen denen die Drähte laufen und ihre Ausgangspunkte von Entfernung und Zeit faſt unabhängig machen. Empfangsſtation iſt das Sinnes— organ, Zwiſchenſtation das zentrale Nervengewebe, Abernahmsſtation das periphere „Erfolgsorgan“ (Muskel, Drüſe), das auf die überbrachte Erregung endgültig antwortet. Nun ſtellt ſich der Geſamtverlauf dieſes Syſtems ſo dar: das empfangende Sinnesorgan liegt natürlich an der Körperoberfläche; es iſt durch einen Nerv mit dem zentralen Ganglion verbunden; und dieſes wieder iſt durch einen Nerv mit dem ausübenden Organ verbunden, das ſich gewöhnlich wieder näher der Oberfläche be— findet, um eben der Außenwelt gegenüber zweckmäßig zu reagieren. Die Nervenfaſer, die von einer Sinneszelle zum zugehörigen zentralen Neuron führt, muß daher die Erregung nach innen leiten — ſie leitet zentri— petal; eine Faſer hingegen, welche dies Telegramm nun als Aktions— befehl an den Muskel, an die Drüſe weitergibt, muß eher wieder nach außen führen — ſie leitet zentrifugal. In den mächtigen Nerven— bündeln der höheren Tiere laufen beiderlei Faſern, ſenſible und moto— riſche (die zu Muskeln) bzw. ſekretoriſche (die zu Drüſen führen), auf weite Strecken einträchtig beiſammen, genügend durch ihre Mark- und Schwannſche Scheide iſoliert: ſo entſpringt aus dem Rückenmark unten je eine motoriſch-ſekretoriſche, mündet oben ins Mark je eine ſenſible Wurzel, deren Faſerbündel ſich zum großen Spinalnerven vereinigen. Je ein derartiges zuſammengehöriges Syſtem von Nervenelementen, beſtehend aus Sinneszelle, empfangender (rezeptoriſcher) Bahn, Zentral— zelle, bewirkender (effeftorifcher) Bahn und Erfolgszelle, nennt man ins— geſamt Reflexbogen. Anſchließend an die zentrale Ganglienzelle iſt oft noch eine „Hemmzelle“ eingeſchaltet (oder deren mehrere), die normalerweiſe eine zu große Heftigkeit, Schnelligkeit und Ausdehnung der Erregung über ihr zuſtändiges Gebiet zu verhindern hat. Jedes dieſer Elemente kann für ſich allein erkranken oder durch Gifte (3. B. Alkohol, Koffein, Nikotin) gelähmt werden; betrifft es die Hemmzelle, dann ſind wir eine Beute unbeherrſchter Empfindungen und Be— wegungen — wir ſagen, die „Hemmungen ſind weggefallen“.
Die intimeren Vorgänge in der reizbaren Subſtanz, der Nerven— fluß, ſeine Geſchwindigkeit und ſein elektromotoriſches Verhalten, können
Kammerer, Allgemeine Biologie 5 65
in die „Allgemeine Biologie“ nicht mehr Aufnahme finden; wir weiſen ſie einer ſpezielleren Reizphyſiologie zu, deren Erfahrungen ſich bereits auf anſehnlicher Höhe bewegen.
t 5. Reizbewahrung
Hauptſächlich den Zentralorganen kommt noch die Aufgabe zu, Spuren erfolgter Erregungen, Reizeindrücke oder Erinnerungsbilder („Engramme“ — Semon) zurückzubehalten. Die Subſtanz einer Nervenzelle iſt in ihrer feinſten Struktur nach jedem Erlebnis, das durch ſie hindurchgegangen iſt, nicht ganz dieſelbe wie vorher, ſondern in einer Art verändert, die fie fähig macht, auf denſelben Reiz ein andermal ſchneller, ſtärker und beſſer zu reagieren. Am z. B. einem noch nicht zugerittenen Pferd die verſchiedenen Gangarten beizubringen, bedarf der Dreſſeur anfangs der ganzen Kraft ſeiner Schenkel, wenn deren Druck zur Hervorrufung beſtimmter Bewegungen ausreichen ſoll; all— mählich aber darf der Reiter ſo weit damit nachlaſſen, daß die näm— lichen Stellungen, noch dazu viel prompter als zu Anfang, durch Druck— reize von ſolcher Schwäche ausgelöſt werden, wie ſie urſprünglich über— haupt keine Beachtung fanden. Kaum weniger gut gelingen derartige Experimente bei niedrigeren Tieren: die Waſſerflöhe (Daphnien) ſchwimmen gerne ſonnbeſchienenen Stellen ihres Wohngewäſſers zu; man hat gefunden, daß nach mehrmaliger Einwirkung beſtimmter Licht— ſtärken ein Viertel von demjenigen Reiz, der zu Beginn des Verſuches notwendig war, zur Erzielung der nämlichen Reaktion genügte, ferner, daß bei gleichbleibender Reizſtärke die Tierchen zum drittenmal nur 28 ſtatt 48 Sekunden benötigten, um eine Strecke von 16 Zentimetern zu durchſchwimmen. Gleiches gilt ſogar von Pflanzen: jeder Blumen— beſitzer weiß, daß ſich die Sproſſe dem Lichte zuneigen; von Oltmanns ſind dieſe Krümmungen an Fruchtkörpern von Pilzen gemeſſen worden, und dabei ſtellte ſich heraus, daß ein und dieſelbe Lichtmenge, die am erſten Tage nur ſchwache Krümmung erzeugte, am zweiten eine viel ſtärkere zuwege bringt.
Nochmals ſei die Mahnung ausgeſprochen, deſſen bewußt zu bleiben, daß auch das Gedächtnis der lebenden Materie nicht etwa ausſchließ— liches Eigentum der Neuronen, alſo bei uns vor allem der Rindenzellen im Gehirn ſein kann, ſondern jede Zelle leiſtet Gedächtnisarbeit, die gegenüber derjenigen mnemiſcher Spezialiſten nur graduell minderwertig iſt. Sehr ſchön läßt ſich dies an iſolierten (von ihrer nervöſen Ver— bindung losgelöſten) Muskelfaſern demonſtrieren, die in Zuckungen ge— raten, wenn ein intermittierender elektriſcher Strom ſie durchfließt. Nun iſt die Reizbarkeit glatter Eingeweidemuskeln (S. 75) ſo gering, daß ein ſchwacher Strom nicht genügt, ihre Zuſammenziehung zu bewirken; die erſten elektriſchen Schläge bleiben wirkungslos, der Muskel bleibt in Ruhe. Nach genügend häufiger Wiederholung von Schlägen, die für ſich allein hierzu nicht ausreichten, beginnt der glatte Muskel den— 66
noch zu zucken. Dieſer Effekt kann nur dadurch ermöglicht fein, daß die Muskelſubſtanz Eindrücke der früheren Erregung in ſich aufbewahrt und mit den friſch hinzukommenden derart verbindet, daß die „Reiz— ſummation“ ſchließlich einem viel ſtärkeren Einzelreiz gleichkommt und daher auch deſſen Reaktion hervorruft.
6. Tropismus und Taxis
Wir betonten bereits bei Begriffsableitung der Reizbarkeit (S. 39), daß wir auf ſtattfindende Erregungen teils durch ſubjektive Emp— findungen ſchließen (dies aber nur bei uns ſelbſt), teils durch die Schwankung des Nervenſtromes, teils endlich durch Be— wegungs:, Wachstums- und Stoffwechſel— vorgänge an einem Erfolgsorgan oder dem ganzen Organismus. Was nun die Be— wegungs- und Wachstumsvorgänge in ihrer Eigenſchaft als Reizerfolge betrifft, ſo iſt ihr Wert für die Feſtſtellung be— ſtimmter Erregungen dadurch geſteigert, daß fie zur Reizquelle in ſichtbar geordneter Beziehung ſtehen, daß ſie entweder der Reizquelle zu- oder von ihr abgewendet ſind. Handelt es ſich um eine Wachs— tumsrichtung in bezug auf den Reiz, ſo ſpricht man von Tropismus; bei einer ebenſolchen Bewegungs— richtung von Taxis. Mit Rückſicht darauf, daß letzten Endes eine Syntheſe ſelbſt zwiſchen ſcheinbar ſo verſchiedenen Vorgängen, wie Wachstum
Zellen) nötig ſind, wenden viele, beſonders zeigen den Lichteinfall an. : ; 5 (Nach Frank aus Davenport, Experimental amerikaniſche Forſcher nur den einzigen Morphology.)
Namen „Tropismen“ für beiderlei Er—
ſcheinungen an, deren begriffliche und terminologiſche Trennung uns indeſſen hier zweckmäßig erſcheint. Erfolgt Wachstum und Bewegung zur Reizquelle hin, ſo ſind die Tropismen (Taxismen) poſitiv; im anderen Falle negativ.
Jede Energieart, die als Reiz und folglich erregend zu wirken im— ſtande iſt, ruft auch derartige Bewegungs- und Wachstumsrichtungen her— vor. Folgen wir dabei der Reihe nach unſerer Aufzählung (S. 55), ſo gäbe es alſo einen poſitiven und negativen Phototropismus (Phototaxis, Abb. 8, 9) mit bezug auf das Licht-, Heliotropismus (Heliotaxis), wenn nur
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Sonnenlicht in Betracht kommt; ebenſolchen Thermotropismus (Ther— motaxis — das Wort Taxis laſſe ich in der Aufreihung künftig als ſelbſt— verſtändlich weg) in bezug auf die Wärme; Hydrotropis mus hin— ſichtlich der Feuchtigkeit; Chemotropismus hinſichtlich ſtofflicher Einflüſſe — Trophotropismus, wenn es ſich dabei um Nahrungsein— flüſſe handelt; Stereotropis mus im Hinblick auf Naumeinflüffe — Thigmotropismus, wenn es ſich um Berührungsreize, Rheotropismus, wenn es ſich um Waſſer- oder Luftſtrömungen handelt; Geotropis-⸗ mus beim richtenden Eingreifen der Schwerkraft, Elektro- (Galvano-)
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Abb. 9. Poſitiver Phototropismus von Röhrenwürmern (Spiro-
graphis Spallanzanii) in einem Aquarium, das durchs Fenſter (a, b, c, d) Licht
empfängt: die Tiere waren zu Verſuchsbeginn flach auf den Boden gelegt worden,
mit ihren Köpfen (Kiemenkränzen) gegen die finſtere Seite (e, f, g, h) gekehrt. (Nach Loeb aus Davenport, Experimental Morphology.)
und Magnetotropismus bei (ſelten beobachtetem) Eingreifen der ſchon im Wort bezeichneten noch übrigen Energien. Die richtenden Einflüſſe der Dichte können gewöhnlich nicht vom Chemotropismus oder vom Stereotropismus mit ſeinen Abarten unterſchieden werden.
Die meiſten grünen Pflanzen (Abb. 8 a, b) wachſen zum Licht (poſitiver Heliotropismus) und von der Erde weg (negativer Geotropis— mus); kriechende und kletternde Pflanzen aber nur längs einer Anter— lage (poſitiver Thigmotropismus); Wurzeln hingegen (Abb. 8 d, e) ſind umgekehrt negativ heliotropiſch und poſitiv geotropiſch und zeigen nebſtbei ſtarken poſitiven Stereotropismus. Flutende Pflanzen verlängern ſich in der Richtung des Stromes (alſo entgegen der Reizaquelle!), ſie
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find negativ rheotropiſch. Fiſche hingegen ftellen ſich oft mit den Köpfen ſtromaufwärts ein und find dann poſitiv rheotaktiſch. Amphibien wan— dern zu Beginn der Laichzeit oft weite Strecken zu Gewäſſern, die ſie vermöge ihrer poſitiven Hydro- und Geotaxis (welch letztere fie immer die tiefſten Terrainſtellen aufſuchen läßt) zu finden verſtehen. Inſekten reagieren mit wenig Ausnahmen (Schabe, Ohrwurm, Springſchwänze) poſitiv phototaktiſch und negativ geotaktiſch, wie die hartnäckig an Fenſter— ſcheiben anprallenden und hinauflaufenden Stubenfliegen, ins Lampen— licht flatternde Nachtkerfe beweiſen. Die poſitive Thigmotaxis manch niederer Waſſertiere iſt ſo groß, daß ſie, auf einem Stein ſitzend, der an dünnem Faden mitten in ein volles Gefäß gehängt iſt, den Stein beſtändig umwandern, aber niemals verlaſſen, weil ſie es nicht wagen, durchs freie Waſſer den Boden des Gefäßes zu gewinnen, — wiſſen— ſchaftlicher ausgedrückt, weil ſie ſich dem richtenden und in dieſem Falle feſſelnden Einfluſſe des Berührungsreizes nicht entziehen können.
So wie wir früher die Zuſammengeſetztheit der energetiſchen Situation und Schwierigkeit der Trennung einzelner Komponenten daraus betont haben, ſo iſt jetzt hervorzuheben, daß jedes Lebeweſen auf Lebenszeit zugleich einer ganzen Reihe von Bewegungs- und Wachstumsantrieben in Richtung auf Reizquellen hin und von ſolchen weg gehorchen muß. Manche dieſer gleichzeitigen Tropismen und Taxismen unterſtützen und ſummieren ſich, andere hemmen einander, zuweilen bis zur Auf— hebung. Das Scherzwort vom Eſel, der zwiſchen zwei Heubündeln verhungerte, hat ſeinen Wahrheitsgehalt; bei jedem Hund läßt ſich un— entſchloſſenes Zögern wahrnehmen, wenn man ihm von zwei Seiten je einen gleich leckeren Biſſen gleich weit vorhält. Lehrreich ſind Verſuche am Seeſtern, der überm Rande zweier dicht aneinandergerückter Aquarien liegt; enthält nur das eine Aquarium Waſſer, ſo läßt ihn ſeine poſitive Hydrotaxis unverzüglich hineingleiten; enthält ein Aquarium Seewaſſer, das andere Süßwaſſer, ſo geleitet ihn — ſchon etwas langſamer — die Chemotaxis ins erſtere, als fein heimatliches Element; enthalten aber beide Aquarien dasſelbe Waſſer, und die Arme des Seeſternes tauchen ſeitlich herabhängend genau gleich weit ein, ſo bleibt er über dem Waſſerſpiegel, bis er vertrocknet.
Wie von zwei konkurrierenden Antrieben ſchließlich einer zum Sieg gelangt und den anderen allenfalls ſogar in ſein Gegenteil wandelt, zeigen eigene Verſuche an der Fangſchrecke (Gottesanbeterin): immer ſucht ſie in ihrem Käfig die höchſtgelegene und hellſte Stelle als Ruhe— platz. Zwingt man ſie aber, dem Futter in die tiefſte und finſterſte Ecke nachzugehen, das ſie erſt hier zu faſſen kriegt, ſo iſt ſie nach einiger Zeit ſchon von ſelbſt poſitiv geo- und negativ phototaktiſch geworden. Auf dem Sieg fremder Antriebe über die gewohnten beruht ja auch, nebſt dem Gedächtnis, Drill und Dreſſur.
Schließlich ſoll noch gezeigt werden, wie ohne Wettbewerb ver— ſchiedener Reizqualitäten ein poſitiver Antrieb in einen nega— tiven um geſchaltet werden kann, und zwar durch die Intenſität
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des einwirkenden Reizes ſelbſt. Läßt man in gemeſſener Entfernung eine ſtarke Lichtquelle (Bogenlampe) von der Seite her auf Pflanzen— ſämlinge wirken, ſo ſind die weiteſt entfernten bald deutlich in der Rich— tung gekrümmt, aus der die Strahlen kommen; in der Mitte ſtehende wachſen kerzengerade, nahe der Lampe befindliche wenden ſich von ihr ab. Auf derſelben Regelmäßigkeit beruhen großenteils die periodiſchen Wanderungen, die man an den kleinen ſchwebenden Lebeweſen („Plank— ton“) des Meeres und größeren Binnenſeen wahrnimmt: bald nach Sonnenaufgang trifft man viele Arten maſſenhaft in den oberen Waſſer— ſchichten; ſcheint aber die Sonne bereits zu grell und heiß, ſo ſinken ſie tiefenwärts, um daſelbſt bis zum nächſten Morgen zu verbleiben.
Aus der bisherigen Darlegung konnte es den Anſchein gewinnen, als ſeien im Tierreich ausſchließlich Taxismen, im Pflanzenreich Tro— pismen im Gange. Immerhin mag der Leſer den zutreffenden Eindruck mitnehmen, daß das meiſte, was Tiere durch Fortbewegung beſorgen, bei den Pflanzen durch Wachstum erledigt wird: das Auskeimen des Pollenkornes und ſeine Verſchmelzung mit der Samenknoſpe durch Ein— wachſen des Pollenſchlauches — wahrſcheinlich ein chemotropiſcher Vor— gang — ſteht als weiteres derartiges Beiſpiel dem äußerſt mobilen Aufſuchen des Tiereies durch den Samenfaden — einem vielleicht chemo— taktiſchen Vorgang — gegenüber. Aber es gibt doch auch pflanzliche Taxismen und tieriſche Tropismen: erſteres zeigen alle freibeweglichen Vegetabilien, wie Schwärmſporen, Geißel- und Kieſelalgen; letzteren zeigen feſtgewachſene Tiere wie Korallen und Moostierchen, ſowie ganz beſonders das präzis gerichtete Wachstum der Gewebe innerhalb des Organismus. Wenn nach Verwundung die richtigen Teile wieder zuſammenwachſen, Blutgefäß mit Blutgefäß, Muskel mit Muskel, Haut mit Haut, ſo iſt das den Anziehungen zu danken, die gleichartige Gewebe ſelbſt auf— einander ausüben; eine Abart des Chemotropismus, die Roux, wenn er einzelne, iſolierte Zellen betrifft, Zytotropis mus genannt hat. Am ſchönſten iſt er durch Verſuche neueſten Datums, beſonders Harriſons, beobachtet worden, die das Wachſen des Gewebes, etwa das Aus— wachſen einer Nervenfaſer, außerhalb des Organismus, in ſogenannten „Deckglaskulturen“ verfolgten. Doch darüber ſoll erſt das Kapitel „Wachstum“ berichten.
Literatur über Reizbarkeit:
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France, R. H., „Pflanzenpſychologie als Arbeitshypotheſe der Pflanzen— phyſiologie“. Stuttgart, Franckhſche Verlagshandlung, 1909.
Haberlandt, G., „Sinnesorgane im Pflanzenreich“. Leipzig, W. Engel- mann, 1901.
Haberlandt, G., „Die Lichtſinnesorgane der Laubblätter“. Leipzig, W. Engelmann, 1905.
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Jennings, H. S., „Die niederen Organismen, ihre Reizphyſiologie und Pſychologie“. Deutſch von E. Mangold, Leipzig, B. G. Teubner, 1914.
Loeb, Jaques, „Der Heliotropismus der Tiere und ſeine Abereinſtimmung mit dem Heliotropismus der Pflanzen“. Würzburg, G. Hertz, 1890.
Mach, E, „Beiträge zur Analyſe der Empfindungen“. Jena, G. Fiſcher, 1902.
Maſt, S. O., „Light and the behavior of organisms“. Neuyork, J. Wiley & Sons, 1911.
Nemee, B., „Die Reizleitung und die reizleitenden Strukturen bei den Pflanzen“. Jena, G. Fiſcher, 1901.
Pfeffer, W., „Pflanzenphyſiologie“. 2 Bände. Leipzig, W. Engelmann, 1897, 1904.
Pringsheim, E. G., „Die Reizbewegungen der Pflanzen“. Berlin, J. Springer, 1912.
Rädl, Em., „Anterſuchungen über den Phototropismus der Tiere“. Leipzig, W. Engelmann, 1903.
Semon, R., „Der Reizbegriff“. VBiologiſches Zentralblatt, XXX, Nr. 5, S. 181-210, 1910.
Semon, R., „Die mnemiſchen Empfindungen“. Leipzig, W. Engel— mann, 1909.
Aexküll, J. v., „Leitfaden in das Studium der experimentellen Biologie der Waſſertiere“. Wiesbaden, J. F. Bergmann, 1905.
Verworn, M., „Erregung und Lähmung“. Jena, G. Fiſcher, 1914.
Winterſtein, Hans, „Handbuch der vergleichenden Phyſiologie“. Jena, G. Fiſcher, 1914.
(Vergleiche auch die Schriften von Haberlandt, Mac Dougal,
Sachs und Wiesner im V. Kap. über „Stoffwechſel“, von Joſt im
VIII. Kap. über „Zeugung und Vermehrung“ von Hering, Kammerer
— Muſikaliſches Talent — und Semon — Mneme — im IX. Kap. über
„Vererbung“.)
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IV. Bewegbarkeit (Motilität)
1. Protoplasma- und Wimperbewegung
Die primitivſte Art der Bewegung, die amöboide oder Proto— plasmabewegung, beſteht darin, daß ein Klümpchen lebenden Stoffes — eine einzeln lebende Zelle — an Stellen geringer Oberflächenſpannung Lappen (Scheinfüßchen, „Pſeudopodien“) vorfließen läßt, denen der
Reſt des Klumpens nachfolgt. Dieſe Bewegung führt ihren Namen von einem der ein— fachſten Lebeweſen, das wir kennen, der Amöbe leinem Wurzelfüßer, S. 92, Abb. 15); ihren anderen Namen trägt die Bewegung davon, daß der primitivſte lebende Stoff, woran ſie ſich zeigt, das un— differenzierteſte Plasma (be— ſonders das der Arweſen oder Protiſten) als „Protoplasma“ in die Wiſſenſchaft eingeführt iſt. Profilbilder der wandern— den Amöbe (Abb. 10) zeigen, daß die Hauptmaſſe des Klümp— chens oder zähen Tropfens durchaus nicht der Unterlage aufzuruhen braucht, ſondern daß die Scheinfüßchen auch als Stützen Verwendung finden; einer phyſikaliſchen Erklärung der Lappenbildung ſteht in— deſſen dieſe Beobachtung nicht
im Wege. — Amöboide Bewegung bleibt im vielzelligen Organismus dem Gros derjenigen Zellen erhalten, die ſich aus dem Gewebsverbande befreien: weißen Blutkörperchen, Meſenchymzellen (S. 38) und reich veräſtelten Farbſtoffzellen (S. 299), auf deren Bewegungen der Farb— wechſel vieler Tiere (Krebſe, Kopffüßer, Fiſche, Amphibien) beruht. Bei der Amöbe kann das Vortreten der Scheinfüßchen an beliebigen Stellen der Oberfläche geſchehen; bei anderen Wurzelfüßern, die ein
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Gehäuſe bauen, können aus rein mechaniſchem Grunde nur deſſen Off: nungen dazu benützt werden. Beſchränken ſie ſich auf feine Löcher und Poren, ſo fallen die Pſeudopodien entſprechend dünn, aber dafür ſehr
lang aus und geben der Zelle das Anſehen einer mikroſkopiſchen,
von
Strahlen umſäumten Sonne (daher die Namen „Sonnentierchen“,
„Strahltierchen“). Frei im Waſſer treibenden („planktoniſchen“) Formen gewähren jene lang aus— gezogenen Protoplasmafäden behufs Minderung der Sinkgeſchwindigkeit eine paſſiv wirkende Schwebe— vorrichtung, wie ſie ſich bei vielen anderen ſchweben— den Organismen (Geißelalgen, Quallen, niederen Krebſen) in anderer Form, aber nach gleichem Prinzip wiederholt. Darum ſinken die Gehäuſe abgeſtorbener Planktonweſen fortwährend wie ein organiſcher Regen zu Boden, wo fie mächtige Schichten von Kalk- und Kieſelſchlamm bilden, aus deren Verkittung ſogar mächtige Felſen (wie die Kreide Rügens und der Küſten am Armelkanal) hervorgehen.
Das Vortreten von Scheinfüßchen wird un— möglich, ſobald die äußere Plasmaſchicht genügende Starrheit angenommen hat, um dem Zellkörper Formbeſtändigkeit zu geben. Dies Reſultat iſt bei den Aufgußtierchen oder Wimperinfuſorien (Ziliaten, Abb. 11) und den meiſten Geißelträgern (Flagel— laten, Abb. 12) erreicht. Jetzt muß alſo für die Bewegung anders vorgeſorgt werden: es geſchieht durch haarförmige Fortſätze des ſtarren Außen— plasmas, die nicht gleich amöboiden Lappen ihren Ort wechſeln, ſondern ſtabil ſind. Entweder ſind die Fortſätze kurz und ſtehen dann meiſt in großer Zahl dicht nebeneinander (Wimpern, Zilien, Abb. 11); oder fie ſind lang und ſtehen nur zu 1—2 an jeder Zelle (Geißeln, Flagellen, Abb. 12). Wimpern und Geißeln wirken als Ruder, indem ſie be— ſtändig in einer (im Bedarfsfalle umkehr— baren) Richtung ſchlagen und fo in der um— gebenden Flüſſigkeit einen Strom erzeugen. Wie
cium): c Zellmund (Cytoſtom), cy Zell ſchlund ( Cytopharynx /, n Nahrungsvakuolen, a eine Kotvakuole nach außen entleert, v pul- ſierende Vakuolen, oben deren zuführende Kanäle ziemlich leer, die zentrale Blaſe voll, unten umgekehrt, t Neſſelſtäbchen (Tri⸗ chozyſten), ma Haupt— kern (Makronukleus), mi Nebenkern (Mifro- nukleus).
(Aus Guentber, „Vom Ur⸗ tier zum Menſchen“.)
der Name jagt, iſt ein Wimperkleid das Fortbewegungsmittel der Ziliaten, der Geißelbeſatz das der Flagellaten, auch der Bakterien. Wimpern und Geißeln bleiben vielen Zellen im zuſammengeſetzten Organismus erhalten, und zwar erſtens einem Teil derjenigen, die ge— legentlich den Gewebsverband verlaſſen: die Samenfäden vieler Tiere tragen eine, die männlichen Sporen mancher Algen ſowie der Mooſe (Taf. I, Fig. 40) zwei Geißeln („Schwänze“), die „Schwärmer“ anderer Algen einen Wimperkranz. — Zweitens behalten mitunter auch ſolche Zellen, die im
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epithelialen Verbande bleiben, Wimpern oder Geißeln: wenn Keimlinge niederer Tiere (Hohltiere, Stachelhäuter) ſchon ſehr bald — auf dem „Blaſen“- oder dem „Becherſtadium“ (S. 146) — nicht mehr von der
Abb. 12. Geißelträ⸗ ger(Flagel- laten): oben
Oicomonas termo, nyNah⸗ rung aufneh- mende Vaku⸗— ole, v pulſie— rende Vaku— ole, k Kern; unten Chilo- monas para-
maecium, m Membran, c Zellmund, k Kern, ch Chlo⸗ rophyllkörner. (Aus Guenther, „Vom Urtier zum
Menſchen “.)
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Eihaut umſchloſſen werden, ſondern frei umherſchwimmen, ſo umgeben ſie ſich mit Wimperkränzen und Wimper— ſchöpfen, oder es wachſen Geißeln aus den oberflächlichſt gelegenen Zellen hervor, die das ſphäroidiſche bis ellip— ſoidiſche Gebilde weitertreiben. Hier ragen Wimpern oder Geißeln an einem Epithel nach außen; nach innen gekehrt find fie dagegen an freien Flächen hohler Organe: Darmrohr, Gefäße, Geſchlechtswege ſind vielfach mit Wimper („Flimmer-“) oder Geißelendothelien ausgekleidet. Dort dienen ſie natürlich nicht zur Fortbewegung, ſondern nur dazu, die Flüſſigkeit des Hohlraumes in Strömung zu verſetzen, wodurch ſie allen Zellen gleichmäßig zugeführt und darin enthaltene Nährſtoffe allſeitig zugänglich ge— macht werden. Tiere, denen ſolche Gewebe und Organe gehören, ſind ja auch nicht mehr auf primitive Wimpern und Geißeln als Bewegungswerkzeuge angewieſen, ſon— dern verfügen bereits über einen eigenen Muskelapparat, von deſſen Entſtehung wir im nächſten Abſchnitt gleich ſprechen werden.
Feſtſitzende oder ganz langſame Tiere bedienen ſich noch weiterhin des Wimperſchlagens, um einen Waſſer— ſtrom zu erzeugen, der ihnen Nahrungspartikel heran— wirbelt. Die Wimpern finden ſich dann mehr oder weniger in die Umgebung der Einfuhröffnung und aufs Schlundrohr zuſammengedrängt: ſo bereits bei den an ihren kontraktilen Stiel feſtgewachſenen Glockentierchen unter den Infuſorien, weiter bei Schwämmen, Nöhren— würmern, Muſcheln, Moostierchen und Seeſcheiden.
2. Zuſammenziehbare Subſtanz
Dieſelbe Art der Arbeitsteilung, die einem Teil des bis dahin gleichmäßig alle Funktionen erfüllenden lebenden Stoffes erhöhte Reizbarkeit verlieh, bildet einen anderen Teil dazu aus, ſich in beſonderem Maße und Tempo zuſammenzuziehen (u kontrahieren). Dieſe Ausbildung geſchieht, indem die dazu erſehenen Zellen Faſern ent— wickeln, — die Muskelprimitivfibrillen, die ſich in ihrer Längsrichtung ſtark verkürzen können. Ahnlich wie wir es von Nervenfaſern gehört haben, vereinigen ſich auch jene feinſten Muskelfaſern zu Bündeln; und da ſich dieſe wiederum aneinanderlegen, entſtehen ſchließlich in mehrfacher Häufung die mächtigſten Muskelſtränge. Die
einzelnen Fibrillen werden von nicht faſerig differenziertem Stoff (Sarkoplasma“) begleitet und zuſammengehalten; die zum Muskel zuſammentretenden Bündel werden von einem der Zellmembran gleichen Stoff („Sarkolemma“) eingehüllt; die ganzen Muskeln endlich ſind von Bindegewebe bedeckt und geſchieden.
Je nachdem nun, ob die faſerige Struktur der Muskelzellen an einer Körperſtelle entſtand, wo raſche Zuſammenziehungen erforderlich ſind, oder wo langſamere genügen, verfolgt man eine abermals weiter— gehende Arbeitsteilung in glatte (S. 37, Abb. 5, Detail 17) und quergeſtreifte (Abb. 5, Detail 18) Faſern. Erſtere beſtehen nur aus einerlei kontraktiler Subſtanz; bei letzterer wechſeln zwei Subſtanzen, die ſich durch verſchiedenes Lichtbrechungsvermögen (einfach- und doppeltbrechend) mikroſkopiſch leicht unterſcheiden laſſen, regelmäßig mit— einander ab. Die doppeltbrechenden Fleiſchteilchen („Sarcous elements“) liegen innerhalb eines Faſerbündels alle in einer Ebene. Je nach dieſem feineren Bau fällt auch die Nervenverſorgung anders aus: die quer— geſtreiften Muskeln erlangen direkteren Anſchluß ans Zentralnerven— ſyſtem; die motoriſchen Nerven bilden an der Längsſeite des Bündels ein Endbäumchen, das bei höheren Wirbeltieren einer körnigen, flach kegelförmigen Endplatte aufliegt. Die glatte Muskulatur hingegen ver— ſorgt unmittelbar das ſympathiſche Nervenſyſtem. Legen wir den uns vom eigenen Leibe her wohlbekannten Maßſtab an, ſo äußert ſich die Verſchiedenheit der Innervierung, indem die geſtreiften Muskeln unſerem Willen untertan (willkürliche oder animale Muskeln), die glatten dagegen der Willkür entzogen ſind (unwillkürliche oder vegetative Muskeln). Aus erſteren rekrutieren ſich die Skelett- und ein Teil der Hautmuskeln (wie diejenigen, die das Mienenſpiel beherrſchen, und die Ringmuskeln [Sphinkter], welche die Körperöffnungen, wie Mund, After und Augen, abſchließen); aus letzteren die übrigen Muskeln in der Haut (welche ſie zur „Gänſehaut“ zuſammenziehen) ſowie die Eingeweide ein- ſchließlich der Gefäßrohrmuskeln. Doch iſt die Scheidung in bezug auf das pſychiſche Moment der Willkür keine ſtrenge: gleich der zentrale Gefäßmuskel, das Herz, iſt quergeſtreift und arbeitet dennoch unwill— kürlich, — noch dazu mit einem Aufwand von Energie und Dauer, der wohl unter ſämtlichen Organen einzig daſteht. Direkte Reizung moto— riſcher Nerven durch äußere Inſulten löſt unabhängig von einem zen— tralen Willensakt auch an Skelettmuskeln die „Reflerbewegungen“ aus. Ferner entbehren Gliederfüßler der glatten, Weichtiere und Würmer der geſtreiften Faſern. Man ſieht ſchon aus dieſer Gegenüberſtellung, daß die Schnelligkeit der Kontraktion die ausſchlaggebende Beziehung zwiſchen Struktur und Funktion abgibt.
Auch bei der kontraktilen (wie bei der ſenſiblen) Subſtanz knüpft die erſte Durchführung der Organiſation an das erſte Auftreten viel— zelliger Tiere, der Hohltiere, an — obſchon ſich ein Beginn dazu (lang— faſeriges Plasma im ungemein raſch und ſtark zuſammenziehbaren Stiel der Glockentierchen) ſchon unter den Infuſorien findet. Das geſamte
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Pflanzenreich ift wieder leer ausgegangen: da ſich die Fortbewegung dort auf Arpflanzen und ebenfalls einzellige Keime (Schwärmer) höherer Pflanzen beſchränkt, vielzellige Gewächſe aber durchweg an den Ort gefeſſelt ſind, iſt auch nirgendwo die Ausbildung einer beſonderen Be— wegungsſubſtanz in Gang gekommen: noch weit mehr als das Kapitel „Reizbarkeit“ iſt dasjenige über „Bewegbarkeit“ ein vorwiegend zoo— logiſches Kapitel, ſelbſt im Rahmen einer „Allgemeinen Biologie“. Außer dieſer negativen iſt noch eine wichtige Gemeinſamkeit in Durchführung der nervöſen und muskulöſen Arbeitsteilung feſtſtellbar: ſie ſchreitet von den Außenſchichten des Körpers ins Innere vor; die Muskulatur der niederen Tierſtämme bis zu den Würmern ſind Hautmuskeln. Der doppelte Hautmuskelſchlauch (S. 199, Abb. 50) eines Regen-, eines Spulwurmes beſteht aus einer äußeren Rings, einer inneren Längsmuskelſchicht, die der Verlängerung und Verkürzung, Verdünnung und Verdickung des Wurmleibes dienen und durch abwechſelndes Eintreten dieſer Volumverſchiebungen ein langſames Vorwärtsſchieben, namentlich in ſelbſtgebohrten Löchern vom knappen Durchmeſſer des Wurmleibes, ermöglichen. Bei Würmern, die, wie der Blutegel, in Schlängelbewegungen hurtig durchs freie Waſſer zu ſchwimmen vermögen, ſind Rücken- und Bauchdecke der Quere nach durch etliche Muskelzüge verbunden, deren Verkürzung jene Abflachung des Leibes ergibt, die zu ſeiner Totalverwendung als Ruder nötig iſt.
3. Stütz⸗ und Bindeſubſtanz
Erſt dann aber kann dies „In-die-Tiefe-rücken“ recht wirkſam werden, wenn die Muskelzüge an Hartteilen, denen ſie ſich anheften, feſten Widerhalt finden. Hierzu iſt durch die Abſcheidung von ſtarren Schalen und Skeletten ſchon früh Gelegenheit geboten; es wird entweder ein äußerer Panzer gebildet (Gliedertiere, Schnecken und Muſcheln, Stachelhäuter), an deren Innenflächen, — oder ein inneres Gerüſt (Wirbeltiere), an deſſen Außenflächen die Muskeln ſich anſetzen. Bei den Anſatzſtellen verlieren die Muskeln ihre fleiſchigen Elemente und gehen oft ziemlich ausgedehnt in reines Sehnengewebe über; auch die Anſatz— ſtellen der Hartgebilde ſelbſt erleichtern den Muskeln das Befeſtigen durch Ausbildung entweder von vertieften Gruben und Rillen oder erhabenen Höckern und Leiſten, die ſich als „Knochenkämme“ der Wirbel— tiere (6. B. die Kriſta des Vogelbruſtbeines) zu beträchtlicher Höhe er— heben. An der feineren Modellierung von Gelenken, die an Ambiegungs— ſtellen der als mehrarmige Hebel dienenden Skeletteile entſtehen, nehmen die Muskeln und zugehörigen Sehnen tätigen Anteil. Muß man in der zuſammenziehbaren Subſtanz das aktive Bewegungsſyſtem erblicken, ſo bilden die Stützſubſtanzen deſſen kaum minder wichtige paſſive Ergänzung.
Das Weſen der Stütz- und Bindeſubſtanzen beruht ebenſo wie das der Nerven- und Muskelſubſtanzen auf Ausbildung von Faſern
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in der Grundſubſtanz der Lrfprungszellen, hier der Bindegewebszellen (S. 37, Abb. 5, Detail 12— 16): beim Kochen Leim gebende Faſern, die allerdings nicht der Reizleitung oder Verkürzung, ſondern der Ver— feſtigung des eigenen Gewebes und dadurch mittelbar der Nachbar— gewebe zu dienen haben. Dazu kommt als Charakteriſtikum entweder die Bildung großer Hohlräume (Vakuoliſierung) im Inneren, wie bei dem ebenfalls hierhergehörigen Fettgewebe (Abb. 5, Detail 14), wo das Innere der Zellen großenteils von Fettkugeln beſetzt iſt; oder die Erzeugung einer reichlichen Interzellularſubſtanz. Dieſe kann waſſer— reich und gallertig fein (Stützſubſtanz der Schwämme, Scheibenkappe der Quallen, Glaskörper des Auges uſw.) oder ſelbſt wieder ein faſeriges Netzwerk bilden (Abb. 5, Detail 16), das durch Einwanderung und Ablagerung feſter, anorganifcher Salze große Feſtigkeit zu erlangen vermag. Beim Knochen, der zuweilen direkt aus Bindegewebe her— vorgeht, beſtehen dieſe mineraliſchen Einlagerungen (Knochenerde) aus einem Gemiſch von phosphor- und (nebenbei) kohlenſaurem Kalk, Fluor— kalzium und Magneſia. Beim Knorpel iſt ſchon die Grundſubſtanz zwiſchen den Fibrillen feſter (chondrinhaltig) und kann ebenfalls Kalk— krümel einlagern; der Knorpel höherer Wirbeltiere wird während des Wachstums „oſſifiziert“, d. h. durch Knochengewebe zum größten Teile allmählich erſetzt. Die Abſcheidung der harten, vorwiegend kalkigen Einlagerungen erfolgt ſchichtweiſe, ſo daß der Knochen blätterige Struk— tur bekommt. Liegen die Knochenlamellen dicht aufeinander, ſo entſteht kompakte; bilden fie Zwiſchenräume, ſpongiöſe Knochenſub— ſtanz. An Röhrenknochen findet ſich erſtere vorwiegend im Mittelteil (Schaft, Diaphyſe), letztere an den Enden (Gelenkkörper, Epiphyſen), wo die Knochenbälkchen Trajektorienſyſteme bilden, deren Bögen nach dem Prinzip des Brückenbaues ſtets ſenkrecht zur größten Beanſpruchung die größte Stärke aufweiſen. Die Röhrenknochen geben auch ein Bei— ſpiel für Entſtehung größerer zuſammenhängender Hohlräume im Knochen— inneren, das dann oft mit weichem, breiigem Mark erfüllt iſt. Außen ſind Knochen und Knorpel mit elaſtiſch bleibendem Bindegewebe, der Knorpel- („Perichondrium“) bzw. Beinhaut („Perioſt“) umhüllt, von der aus ſich Gefäße und Nerven in den Knochen einſenken, wohin ſie durch die Haversſchen Kanälchen Zutritt finden. Gelbliche, ſeidig glän— zende Faſern, die ſo elaſtiſch ſind, daß ſie ſich beim Zerreißen einrollen, vereinigen ſich in und über der Beinhaut zu ſtarken Bändern, wo es gilt, eine Stelle ſchwächeren Widerſtandes (ſo bei Gelenken) zu über— brücken.
Nicht von eigenen Bindeſubſtanzzellen, die ſich nach Abſcheidung der eigentlich ſtützenden und verbindenden Zwiſchenſubſtanz ihr ein- und angelagert finden, ſondern vom Hautepithel werden „Cuticulae“, z. B. Skelette der Gliedertiere und Schalen der Weichtiere, ausgeſondert. Letztere beſtehen der Hauptmaſſe nach aus kohlenſaurem Kalk, erſtere find ähnlichen Arſprungs wie Nägel, Haare, Federn und Reptilien- ſchuppen: beſtehen aus einer dem Horn verwandten Subſtanz, dem
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Chitin. Auch hier kann durch Einwanderung von Kalkſalzen (Krebs— tiere) die Feſtigkeit anſehnlich erhöht werden. Hornfaſerſkelette kommen auch bei einer Gruppe von Schwämmen, Skelette aus Kieſelſäurenadeln bei einer anderen Gruppe derſelben ſowie in Form zierlich gegitterter Kugeln ſchon bei den einzelligen Strahltierchen (Radiolarien) vor, wäh— rend die ihnen naheſtehenden Kreidetierchen oder Löcherträger (Fora— miniferen) poröſe, gekammerte Kalkſchalen erbauen.
Stützſubſtanzen werden nicht entbehrlich, wenn ein Organismus ſeine Ortsbewegung aufgibt; ſie dienen ja nicht bloß zum Anſatze der kontraktilen Subſtanz, ſondern auch zur Verfeſtigung feines Ge— ſamtkörpers, die ihm um ſo nötiger wird, je größere Dimenſionen er annimmt. Daher iſt auch das Pflanzenreich mit ſeinen gigantiſchen Baumformen, trotzdem es nirgends etwas den tieriſchen Muskeln Ahn— liches ausbildet, reich an Stützſubſtanzen; nur häufen ſie ſich nicht, wie im Tierreich, als Interzellularſubſtanzen, ſondern als holzige Zell— wände an, die ſtehen bleiben, wenn der plasmatiſche Zellinhalt längſt abſtarb. Holz, Baſt ſowie häufige Verkalkungen (3. B. Kalkalgen) und Verkieſelungen (3. B. Schachtelhalme) find Stützſubſtanzen der Gewächſe, die deſto reichlicher in den Stämmen (beſonders der Land-, weniger der Waſſerpflanzen) anzutreffen ſind, je größere Ausdehnung der Pflanzen— körper gewann. Anter den Tieren bieten namentlich die räumlich ſo mächtigen Korallenſtöcke ein Beiſpiel dafür, wie Stützſubſtanzen, die hier freilich zugleich auch äußere Schutzſubſtanzen abgeben, unbeſchadet aufgelaſſenen Fortbewegungsvermögens erhalten und weitergebildet werden.
4. Aktive Bewegungsorgane
Stütz-, Binde- und Muskelſubſtanz vereinigen ſich, von Gefäßen durchblutet, von Nerven durchzogen und von Haut zuſammengehalten, zu beſonderen, meiſt deutlich vom Rumpf und ſelbſt wieder in mehrere Zeile abgegliederten Bewegungswerkzeugen. Durchs Tierreich zu ver— folgen, in welch anpaſſungsgemäßer Form dies geſchieht, würde die „Allgemeine Biologie“ zu ſehr ins Spezielle verführen; doch ſei ge— ſtattet, innerhalb der Wirbeltiere einige Beiſpiele zu zeigen, die zugleich einige uns neue und notwendige Begriffe ableiten.
Die ſtammesälteſten Wirbeltiere (Lanzettfiſchchen, Neunauge) be— wegen ſich, noch ähnlich den Würmern, nur durch ihre Rumpf— muskulatur, nebenſächlich unterſtützt durch eine Hautfalte (Floſſen— ſaum), die oberſeits gleich nach dem Vorderende beginnt und ohne Unterbrechung um das Hinterende bauchwärts bis zum After ſtreicht. Der Saum wird ſpäter in mehrere hintereinander liegende unpaare Stücke zerlegt, die After-, Schwanz: und Rückenfloſſe der Fiſche, die erſte und die letzte zu abermaliger Zerlegung neigend (2 After-, 3 Rücken— floſſen bei den Schellfiſchen, zahlreiche kleine Floſſenfähnchen bei Makrele und Flöſſelhecht uſw.). Auch bei den Amphibien beſitzen unfertige Jung— tiere (Larven) noch den Saum; Reſte davon bleiben als Schwanzſäume
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und Rückenkämme der Molche — allenfalls mit zeitlichen und räumlichen Anterbrechungen und Beſchränkung auf das männliche Geſchlecht — lebens— länglich erhalten. Aus ähnlichen, aber früher in Abſchnitte zerlegten Hautverdopplungen bilden ſich die nebeneinander liegenden paarigen Gliedmaßen, Bruſt- und Bauchfloſſen der Fiſche. Diejenigen Knorpel— fiſche, von denen ſich der Wirbeltierſtamm zu den landlebenden Amphi— bien, Reptilien und Warmblütern erhob, zeigen in ihren paarigen Floſſen den urſprünglichen Typ des „Ichthyopterygiums“, — breite, einheitlich wirkende Ruderplatten, im Inneren durch eine große Zahl länglicher Knorpelſtücke geſtützt, die ſtrahlenförmig in mehreren Staffeln übereinanderſtehen. Am dieſe Schwimmwerkzeuge in Hebelvorrichtungen zu verwandeln, die fürs Trockenleben taugen, mußte die Menge der Stücke eine Verminderung erfahren: durch Verſchmelzung der einen, Verkümmerung der anderen kommt die Extremität der Landwirbeltiere (Abb. 13) zuſtande, deren erſte Staffel (Oberarm, Oberſchenkel 6) nur mehr aus einem, ſtärkſten, Stück, deren folgende (Unterarm, Anter— ſchenkel as) aus zwei, deren dritte Gand, Fußwurzel h) aus ſieben bis acht, deren letzte (Phalangen: Finger, Zehen 5) aus höchſtens fünf Stücken beſteht, die nicht mehr von gemeinſamer Haut umkleidet ſind, ſondern deren jedes für ſich umhäutet und dadurch ſelbſtändig beweglich geworden iſt. Die Einheitlichkeit der Floſſenplatte, beim Schlagen des Waſſers ein Vorteil, weicht der Notwendigkeit, die Teile bei ihrer ſchiebenden und ſtelzenden Tätigkeit gegeneinander abbiegen zu können; es formen ſich mehr oder weniger vielſeitig bewegliche Gelenke zwiſchen ihnen.
Nun gibt es ſchon unter den Fiſchen ſolche, die zeit— weilig das Waſſer verlaſſen oder auf dem Grunde des Waſſers eine laufende Bewegungsweiſe einſchlagen, die zu Vorkehrungen wie auf dem Lande zwingt; anderſeits unter den „Landwirbeltieren“ ſolche, die ins Waſſer rückkehren oder außer Waſſer Tätigkeiten ausüben, die dem Bewegungsprinzip unter Waſſer ähnlich werden. Wenn ein Fiſch auf feſtem Boden, ſei es unter oder über Waſſer, kriechen und hüpfen muß, erhöht ſich die Abbiegungsfähigkeit ſeiner Bruſt— floſſen entweder im ganzen (Schlammſpringer) oder etliche Floſſenſtrahlen ſondern ſich von der übrigen, verwachſen bleibenden Platte, werden frei und gelenkig (Knurrhahn); wenn ein Fiſch ſich aus dem Waſſer, aber nicht auf feſtes Land begibt, ſondern in langdauernden, flugähnlichen Sprüngen an die Luft, ſo bleibt die Floſſe als einheitliche Platte er— halten, erfährt aber in ihren Strahlen eine bedeutende Verlängerung (Flughahn, Schwalbenfiſch). — Entſprechend und teilweiſe umgekehrt verlaufen die Prozeſſe, wenn Landtiere zum Waſſer- oder Luftleben und demjenigen unter lockerer Erde übergehen. Das erſte iſt wohl überall die Rückgewinnung der einheitlich bewegten Platte: die Am— häutung und Verwachſung der fünffingerigen Gliedmaße. Es beginnt mit kurzer Verbindungshaut zwiſchen den Grundgliedern der Zehen (Eisbär, Heftfuß der Stelzvögel); dieſe Haut bildet dann entweder
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Lappenſäume um jede Zehe (Tauchervögel, einige Waſſermolche) oder wächſt als Schwimmhaut bis zur Spitze der Zehen (Schwimm- und Ruderfuß der Waſſervögel, des Bibers, des Fiſchotters, der Fröſche, Sumpfſchildkröten, Krokodile). Dabei konnten die Zehen noch frei
Abb. 13, Vordergliedmaßen von Wirbeltieren: A Feuerſalamander,
B Seeſchildkröte, C Krokodil, D Vogel, E Fledermaus, F Wal, G Maulwurf,
H Menſch. — 6 Oberarm, a Elle, s Speiche, h Handwurzel, m Mittelhand, Finger.
(Nach Leche aus Plate, Artikel „Deſzendenztheorie“ im Handwörterbuch der Naturwiſſenſchaften.)
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beweglich bleiben; das hört auf, ſobald Bindegewebe fie ſtärker an— einander feſſelt. Aber die Zehen konnten wenigſtens noch ſichtbar und einzeln bekrallt bleiben (Robben), bis endlich auch dieſe Spuren ehe— maliger Zerteilung weichen: die Floſſenfüße einer Seeſchildkröte, eines Wales gleichen äußerlich Fiſchfloſſen. Erſt die Skelettierung (Abb. 13, BF) zeigt, daß nicht die zahlreichen fächer- und ſtaffelförmigen Floſſen— ſtrahlen des Ichthyopterygiums, ſondern die wenigen Knochenſtücke in ungefähr gleicher Zahl und Anordnung wie bei Landwirbeltieren darin vorhanden ſind. Werden Gehwerkzeuge zu Flugorganen um— gewandelt, ſo wird ebenfalls die Gliederung einzeln beweglicher Teile zugunſten einer zuſammenhängenden Platte aufgegeben, die aber den Schwimmorganen gegenüber eine ungeheure Verlängerung, beſonders der äußeren Partien, aufweiſt; auch hier iſt die Zuſammenſetzung des Skeletts auf den fünffingerigen Typus deutlich rückführbar (Abb. 13, DE), obſchon beim Flügel der heute lebenden Vögel (D) zwei Finger verſchwunden, die übrigen in ihrer Gliederzahl reduziert find. Der Jura— urvogel (Archaeopteryx) beſaß aber noch drei freie, vollgliedrige und befrallte Finger. Etwas anders als bei den Vögeln mußte in Ermang— lung von Federn die Luft bei den Fledermäuſen (E) erobert werden: hier ſind die Finger nicht nur nicht verkümmert, ſondern ſogar un— geheuerlich verlängert, um mächtige Spangen zu erzeugen, zwiſchen denen die Tragfläche der Flughaut fallſchirmartig ausgeſpannt iſt: nur der Daumen bleibt frei, um das Anklammern an Bäumen und Ge— mäuer zu geſtatten. In prinzipiell gleicher Weiſe war das Flugproblem bei den Flugechſen (Pterodactylus) der Juraformation gelöſt worden, jedoch mit dem zufälligen Anterſchiede, daß von den Phalangen der Hand hauptſächlich der „kleine“ Finger von der Verlängerung betroffen war.
Nicht nur vom Gehwerkzeug, ſondern ſogar von dem ſchon fertigen Flugwerkzeug findet Rückkehr zum Waſſerleben ſtatt. Der Flügel hat dabei einen kürzeren Anpaſſungsweg zurück— zulegen und iſt früher zur Floſſenform gebracht als das Gangbein: alle Teile brauchen nur verkürzt und verbreitert zu werden (Waſſeramſel, Eisvogel, Taucher, Lummen), wobei ſie in etwas beſchränktem Maße immer noch zum Fliegen benützbar bleiben (bei den Alken allerdings nicht mehr); ihre Vollkommenheit als Flügelfloſſe erreichen ſie erſt durch Ambildung der Befiederung zu einer Art feſt anliegenden Schuppen— kleides und völligem Verluſt der Flugfähigkeit (Pinguin).
Die Bewegung in nachgiebiger Erde oder Sand ſtellt den Bewegungswerkzeugen Anſprüche, die von denen in Waſſer und Luft, rein techniſch genommen, nicht ſehr verſchieden ſind. Hier wie dort muß ein Medium, deſſen Partikel wenig Halt gewähren, durch häufige Schläge fo weit verdichtet werden, daß für Augenblicke feſte Unterlagen zuſtande kommen; hier wie dort kann Vorwärtskommen nicht durch Stützen vermittelt werden, die den Rumpf im Boden verankern und mit ſeiner Hilfe tragen, ſondern durch ſeitliche Hebel, die ihn darüber hinweggleiten laſſen. So ſind die Gliedmaßen der echten Wühltiere,
Kammerer, Allgemeine Biologie 6 81
wie die der Robben, ſeitwärts und zugleich rückwärts gewendet, fo daß der Rumpf ganz niedrig zu ſtehen oder ſogar über den Grund zu ſchleifen kommt: Dachs und Dachshund, Igel, Spitz- und Wühlmäuſe geben Anfänge dieſer unterirdiſchen Anpaſſung, die bei Säugetieren etwa als, Maulwurf höchſten Grad erreicht. Unter Reptilien iſt der Skink vollkommenes Anterſandtier, nur hat er gegenüber anderen Echſen keine ſo große Wandlung erlitten wie der Maulwurf gegenüber anderen Säugern, da jene ſelbſt bereits, wenn keine ausgeſprochenen Wühltiere, ſo doch „Kriechtiere“ ſind und ſich der Beine als ſehr ſchräge bis faſt horizontale Hebel, ſtatt als vertikale Stelzen bedienen. Was den Säu— gern Ausnahme wird, iſt eben den Reptilien Regel und umgekehrt: der Stelzengang des Chamäleons unter den Schuppen-, der minder vollkommene des Krokodils und der Landſchildkröten unter den Panzer— kriechtieren fallen aus dem Geſamtrahmen der „Kriechtier“klaſſe heraus. f Gerät der Rumpf mit dem Boden in Berührung, wie's bei Kriechtieren auf der Anterſeite, bei Wühltieren ringsum der Fall zu ſein pflegt, ſo kann alsbald wieder die Rumpfmuskulatur ſich unmittelbar an der zur Fortbewegung nötigen Arbeit beteiligen: da— durch werden die Glieder entlaſtet und unter Verhältniſſen, die dies weiter begünſtigen, teilweiſe oder ganz außer Funktion gebracht. Nun ſtehen Größe und Entwicklung eines Organes in geradem Verhältnis zu ſeiner Beanſpruchung: nicht gebrauchte Lebenswerkzeuge verkümmern. Erfordert das „Schwimmen“ im Flugſand, ja auch unter lockerer Erde ohnedem ſchon geringe Länge der Glieder, jo wird dieſe Kürze als Folge der Funktion noch ergänzt durch Kürzerwerden infolge zunehmen— der Funktionsloſigkeit. Es entſtehen ſtummelbeinige und fußloſe Formen: in langſam abgeſtufter Reihe ſehen wir ſie aus Formen mit wohl— entwickelten Beinen hervorgehen. Nehmen wir unter den Reptilien die gewöhnliche, ſchon etwas ſchwachbeinige Eidechſe mit fünf Fingern und Zehen als Ausgangspunkt, ſo haben wir zunächſt an Skink und Walzen— echſe einen weiteren Grad der Abſchwächung, an der Johannesechſe nur mehr winzige, doch in allen Teilen wohlerhaltene Beinchen, an Chamä— faura ebenſolche in allen Graden der Verkümmerung bis zu zehenloſen Stummeln, an der Erzſchleiche leicht überſehbare, doch noch dreizehige Extremitäten, an der Handwühle nur noch vierzehige Vorderbeine, bei Pygopus nur floſſen-, bei der Panzerſchleiche ſchuppenförmige Hinter— beine; Blindſchleiche und Ringelechſen endlich äußerlich fußlos, jedoch mit Schulter- und Beckengürtel am Skelett; den Schlangen fehlen auch dieſe, mit Ausnahme der Rieſenſchlangen, denen griffelförmige Reſte der Hinterbeine verblieben, wahrſcheinlich weil ſie bei der Begattung eine Rolle ſpielen. — Unabhängig davon hat der gleiche Vorgang bei geſchwänzten Amphibien Platz gegriffen: vom Salamander mit gut ausgebildeten, vorn vier, hinten fünfzehigen Beinen führen Übergänge zum Grottenolm mit vorn drei- hinten zweizehigen; zum Aalmolch mit beidſeits drei- bzw. zweizehigen Extremitäten; zum Armmolch, der nur Vorderbeine; zuletzt den Blindwühlen, die gar keine Beine haben. 82
Im Zuſammenhange mit der Beinverkürzung ergibt ſich die Streckung des Leibes: eine fußloſe Wurmform, wie ſie nahe dem Arſprung der Wirbeltiere aus wurmähnlichen Vorfahren, bei dem im Schlamm bohrenden Neunauge, anzutreffen und dort wohl urſprünglich iſt, wurde auf dem Umwege über ſchreitende und laufende, mit Gliedern ausgeſtattete Tiere in kriechender und wühlender Bewegungsweiſe aber— mals erreicht.
Verfolgen wir noch den anderen Weg weiter, wo jenes Gehen und Laufen nicht zugunſten anderer Bewegungsarten aufgegeben, ſondern im Gegenteil, namentlich in bezug auf Geſchwindigkeit, zur Vollkommenheit ausgebildet wurde; wir verließen ihn vorläufig, als feſtſtand, daß zweierlei Veränderungen mit der primären Fiſchfloſſe vorgehen müſſen, um aus dem Schwimm- ein Gehwerkzeug zu machen: gelenkige Abgliederung und Entfernung entbehrlicher Skelettſtücke. Man kann innerhalb der drei höchſten Wirbeltierklaſſen (der „Amniontiere“: Reptilien, Vögel, Säuger) unabhängig je eine oder einige Richtungs— linien unterſcheiden, in denen diesbezüglich nach gleichem Prinzip neue Fortſchritte erzielt werden. Dies gemeinſame Prinzip kann heißen: Vertauſchung des Sohlenganges („Plantigradie“) mit Zehen— gang („Digitigradie“). Bei den Paarhufern führt es von am Auf— treten gleichbeteiligten Zehen (Flußpferd) über Formen, bei denen die zwei äußeren hochgerückt und infolge Nichtbenützung zu kleinen „After— zehen“ wurden (Schwein, Horn- und Geweihtiere), zu ſolchen mit nur zwei Zehen (Giraffen, Kamele). Bei Anpaarhufern von fünf annähernd gleichmäßig tragenden Zehen zu drei auftretenden und zwei verkümmerten, weiter zu ausſchließlich vorhandenen dreien, noch weiter zu einer auf— tretenden und zwei verkümmerten, endlich zum Abrigbleiben nur dieſer einzigen (Mittel⸗⸗ Zehe. Das Belegmaterial wird dadurch noch über— gangsreicher gemacht, daß an derſelben Gliedmaße äußerſte Zehe links und rechts, ſonſt namentlich Vorder- und Hinterbein keineswegs gleich— zeitig und gleichmäßig an den Veränderungen teilnehmen, ſondern z. B. fünffingerige Vorder- und dreizehige Hinterbeine, ſowie Verkümmerungen der Afterhufe in ungleichem Grade vorkommen. Lebende Beiſpiele werden in Geſtalt der verſchiedenen Nashorn: und Tapirarten, das ein— hufige Endſtadium in Geſtalt der Pferde dargeboten; viel reicher iſt hier das ausgeſtorbene Material, das in lückenloſer Reihe vom fünf— zehigen Phenacodus über Eo-, Dro-, Meſo-, Mio-, Hypohippos und Neohipparion zu unſerem Equus hinübergeleitet. Bei letzterem ſind die Afterzehen (äußerlich — abgeſehen von Rückſchlägen! — nicht mehr ſichtbar) als „Griffelbeine“ des Skelettes noch angedeutet. Nicht nur Schnellauf, ſondern auch Hoch- und Weitſprung bringen — dann nur an den Hinterbeinen — die gleiche Erſcheinung mit ſich, wie an den analogen Reihen unter den Nagern (zur Springmaus) und Beutel— tieren (zum Känguruh), ſowie innerhalb der Reptilienklaſſe an den Dinoſauriern der Kreide (zum Iguanodon hin) bewieſen. Bei den Vögeln führt eine entſprechende Reihe vom vierzehigen Gangfuß (3. B. 83
Taube) zum vierzehigen Scharrfuß mit hoch eingelenkter, fortſchreitend kleiner werdender Hinterzehe (Hühner, Kiwi), weiter zum dreizehigen Lauffuß ohne Hinterzehe (Trappe, Kaſuar), endlich zum zweizehigen Strauß, wobei die ſeitliche Zehe offenbar in Verkürzung begriffen iſt und die Hauptlaſt nur mehr auf der mit hufartigem Nagel verſehenen Mittelzehe ruht.
Etwas anders löſt ſich das Problem beſten Vorwärtsgehens, wenn nicht Schnelligkeit, ſondern ſicheres Fortſchaffen einer ſchweren Laſt das Ziel iſt: dann können nicht noch mehr Stücke (Stützen) entbehrt werden, als bei Amwandlung der Floſſe ins Gangwerkzeug ohnedies verloren wurden; da aber die Feſtigkeit und Einheitlichkeit des Auftretens beim Schleppen genau ſo nötig iſt wie beim Eilen, ſo werden die vollzählig erhaltenen Teile verſchmolzen, und es entſteht ein „Klumpfuß“ (Landſchildkröten).
Im Zuſammenhange mit der Zehenreduktion bei der Schnellauf— anpaſſung ergibt ſich Stärkung der übrigbleibenden und deſto mehr be— anſpruchten Teile. Es iſt ein ander Ding, ob, wie bei Außerbetrieb— ſetzung ganzer Gliedmaßen bei Wühltieren, Verkürzungen und Ver— kümmerungen eintreten; oder ob der Betrieb zugunſten notwendigſter Teile zentraliſiert wird, wobei ebenfalls einzelne andere Teile der Rück— bildung verfallen, das Ganze aber geſtärkt und in erhöhter Bedeutung aus dem Kampf der Organe hervorgeht. Fortfchreiten der Verkümme— rung, alſo Rückſchreiten des ganzen Körperteils, führt im erſten Falle zum relativ vorübergehenden Beſtand „rudimentärer Organe“, wofür unſer Blinddarm und Steißbein, die Bruſtdrüſen männlicher Säuger, Augen der Höhlentiere und Innenſchmarotzer, verkümmerte Staubblätter (3. B. beim Salbei), weitere, außerhalb der Bewegungs— mittel gelegene Beiſpiele ſind. Verkürzung einzelner Teile zugunſten anderer aber ergibt das Phänomen der „vikariierenden Organe“, wo die Geſamtfunktion nicht abnimmt, ſondern eher erhöht wird, aber manche Teile für andere, zurückbleibende ſtellvertretend einſpringen. Auch außerhalb des Bewegungsvermögens bleibt es Tatſache, daß niemals mehrere Fähigkeiten (und ausübende Organe) in gleicher Vollkommen— heit vorrätig ſein können: Vielſeitigkeit führt zur Verflachung, Einſeitig— keit, wofern die Tauglichkeit fürs übrige und der Zuſammenſchluß damit nicht ganz verloren geht, führt zum Gipfel des Könnens. Ein Aus— druck dieſes Vikariierens iſt es, wenn Zell ſeine von Oken begründete Anterſcheidung in „Augen-“ und „Naſentiere“ treffen konnte; bleiben wir aber im Rahmen vorliegenden Kapitels, ſo ließe ſich ausführlich zeigen, wie zwei Bewegungsarten nie konkurrenzlos nebeneinander be— ſtehen. Anter den Vögeln z. B. ſind die beſten Flieger (Schwalben, Segler, Sturmvögel) am ſchlechteſten auf feſtem Boden, die beſten Läufer (Steißhühner, Strauße) ſchlecht oder gar nicht in der Luft zu Hauſe; mittlere Flug- und Lauffähigkeit (Steppenhühner zugunſten der erſteren, Feldhühner der letzteren) bringt nach keiner Seite hin zu großer Fertigkeit empor.
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Noch etwas Allgemeines lehrt die eben abgeſchloſſene Betrachtung über Bewegungsorgane: wir ſehen ein und dieſelbe Einrichtung mitten in verſchiedenſten, nicht nahe ſtammesverwandten Gruppen auftreten, wo ſie infolge ähnlicher Lebensweiſe ſelbſtändig entſtanden ſein muß und zu Ahnlichkeiten im Bau geführt hat: z. B. Flugorgane bei Fleder— maus, Vogel, Inſekt; Schwimmwerkzeug bei Seehund, Schildkröte, Fiſch; Grabwerkzeuge bei Maulwurf und Maulwurfsgrille; Roll: ſchwänze bei Brüllaffe, Wickelbär und Chamäleon; Wurmgeſtalten bei Schleichen, Schlangen, Aalen uſw. Man nennt derartige Fälle, wo durch gleiche Verrichtung Gleichwerden (gegenſeitiges Annähern, Zu— ſammenlaufen, „Konvergieren“) anfänglich ſehr verſchiedener Formen zuftande kommt, „konvergente Anpaſſungen“ oder kurz Kon ver— genzen. In vielen davon iſt es wenigſtens tatſächlich dasſelbe Organ, das, oft über wiederholte Amgeſtaltung hinweg, zu gleichem Gebrauche herangezogen wurde und zu ähnlicher Geſtalt konvergiert hat: Fleder— maus- und Vogelflügel, Wal- und Fiſchfloſſe; in anderen Fällen aber geht die formell ähnliche, funktionell gleiche Bildung entwicklungs— geſchichtlich auf ganz verſchiedenen Arſprung zurück: Vogel- und In— ſektenflügel. Organe von identiſcher embryonaler Abſtammung, mögen fie ſpäter gleiche Funktion und damit gleiches Ausſehen behalten oder nicht, heißen „homologe Organe“, z. B. die einander entſprechenden Gliedmaßen aller Wirbeltiere; Organe von ungleicher embryonaler Her— kunft, die ſpäter einer identiſchen Aufgabe gerecht werden, heißen „ana— loge Organe“, z. B. die aktiven Gehwerkzeuge („Beine“) der Wirbel— tiere auf der einen, der Gliedertiere auf der anderen Seite. Homologe und analoge Organe, ebenſo wie rudimentäre und vikariierende, ſind natürlich auch außerhalb des Bewegungsapparates zu finden und daher, als notwendige Begleiterſcheinung der Stammesgeſchichte und An— paſſung, im Pflanzenreich ebenſo verbreitet wie im Tierreiche.
5. Paſſive Bewegungsorgane
Ahnlich wie die aktiv bewegliche Subſtanz, das „Fleiſch“ (Muskel- gewebe) von paſſiv bewegten Teilen, den Knochen, Knorpeln und Sehnen (Bindegewebe) unterſtützt wird, ſo ſtehen den bewegungs— tätigen Werkzeugen (Gliedmaßen) Hilfsorgane gegenüber, die bei der Bewegung nicht ſelbſt mitwirken, aber trotzdem für ſie wertvoll ſind.
Wir nannten bereits die ſtrahlig ausgebreiteten Plasmafäden der Hochſeewurzelfüßler (S. 73) als Schwebevorrichtungenz fie werden noch gefördert durch Ol- und Fetteinſchlüſſe, Gasvakuolen, Gallerthüllen, lufthaltige Gehäuſekammern und verbreiterte Tragflächen der hervor— ſtehenden Skelettnadeln; durch all dieſe Mittel wird das Eigengewicht des Körpers verringert und mittelbar das Anterſinken verhindert. Es iſt merkwürdig und zeugt für das Okonomieprinzip der Natur, daß dieſe Aufzählung die Einrichtungen eigentlich bereits erſchöpft, die auch bei weit höheren Tier- und Pflanzengruppen in paſſiver Weiſe die Be—
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wegung oder das Schwimmen erleichtern. Was zunächſt die Verwen— dung von Fetten und Olen betrifft, ſo wiederholt ſie ſich z. B. bei den Robben und Walen als Speckſchichte unter der Haut, die den Rumpf leicht ſchwimmend und nebenbei warm erhält; ferner als äußere Einfettung bei allen Waſſerſäugetieren und Waſſervögeln. Betrachten wir dann die Gaseinſchlüſſe, ſo treffen wir ſolche in den Luftblaſen der Röhrenquallen, den Tracheenblaſen der Büſchelmücke (Corethra), den ſtarken, gaſometerförmigen Erweiterungen der Tracheenäſte bei fliegenden Inſekten, der Schwimmblaſe bei Fiſchen. Letztere, bei den übrigen Wirbeltieren zur Lunge umgeſtaltet, behält oder gewinnt doch zuweilen neben ihrer neuen Aufgabe als Atemapparat ihre Bedeutung als hydro- und ageroſtatiſcher Apparat zurück: bei jungen Amphibien— larven funktioniert ſie noch regelrecht als Schwimmblaſe; den Waſſer— ſchlangen und Walen iſt ſie, ungeheuer ausgedehnt, ein Luftreſervoir, das ihnen erlaubt, lange unter Waſſer auszuharren. Bei den Vögeln erweitern ſich mehrere Luftröhrenäſte (Bronchien) mit dünner, binde— gewebiger, ſehr elaſtiſcher Haut weit über den eigentlichen Lungenbereich hinaus und bilden „Luftkiſſen“, die in gefülltem Zuſtande den Flug ungemein erleichtern. Die Röhrenknochen der Vögel ſind nicht, wie die der Säuger, mit Mark erfüllt, ſondern hohl: je ein Luftkiſſen links und rechts ragt ins Oberarmbein, kleidet ſeine Höhlung aus und ermöglicht ſo, daß es von der Lunge her mit Luft vollgepumpt werde („pneu— matiſche Knochen“). — In Toraminiferenſchalen bewohnt das Tier ſtets nur die zuletzt angebaute Kammer, die älteren, kleineren Kammern erleichtern, lufterfüllt, das Schwimmen; ganz ähnlich bei einer weit höheren Gruppe, den Kopffüßlern: das Perlboot (Nautilus) ſitzt in der letzten, größten Kammer ſeines ſpiraligen Gehäuſes; zieht es ſich aber ganz ins Innere zurück, ſo entweicht die Luft, und das Tier ſinkt wie ein Stein zu Boden. Im Gewächsreiche dienen lufthaltige Zellzwiſchen— räume dazu, die Pflanze im Gleichgewichte zu erhalten, beſonders bei ſchwimmenden (3. B. Waſſerhyazinthe, Pontederia crassipes, mit luft— haltigen Stengeln) und flutenden Pflanzen (3. B. Beerentang Sar— gassum, Blaſentang Fucus; Blütenpflanzen Jussiaea und Taxodium distichum mit lufthaltigen Wurzeln). Eine luftführende Faſerſchichte der Fruchtwand befähigt die Kokosnuß, im Meere zu ſchwimmen, bis ſie von den Wogen an den Strand geworfen wird.
Halten wir Amſchau nach Gallertmaſſen, die in paſſiver Weiſe Bewegung vermitteln oder doch das Anterſinken verhindern, ſo finden wir ſie vor allem bei den koloniebildenden Radiolarien und Flagellaten, deren Einzelindividuen in einer gemeinſamen Gallerthülle liegen; ferner als Schirmkappe der Meduſen und als Gallertfchichte der Froſcheier. — Am mannigfaltigſten aber ſind paſſive Bewegungsmittel in Form von Tragflächen ausgebildet worden, namentlich an Planktonweſen tieriſchen wie pflanzlichen Arſprungs in geradezu abenteuerlichen Ge— ſtalten. Es gibt ſozuſagen keinen äußeren Körperteil, der hier nicht in verſchwenderiſcher Weiſe herangezogen worden wäre: unter anderen ſind 86
es beſonders die kleinen Krebſe und deren Larven, die fo ausgeftattet ſind (Abb. 14), — in einem Ausmaß, das faſt ein Wiedererkennen un—
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A Abb. 14. Flächenvergrößerung bei ſchwe benden („Plankton-“) Krebschen: A der Hüpferling Calocalanus pavo, B der Hüpferling Augaptilus filigerus, C Elapho—
caris-Larve eines höheren Krebſes. (Nach Heſſe-Doflein.)
möglich macht. Bald ſind es die Fühler, bald die Beine, Schwanz— anhänge und bald beſondere Schalenauswüchſe, die, koloſſal verlängert, gelappt, gefranſt, gefiedert, aktiven Bewegungswerkzeugen kaum noch Arbeit zu zielbewußter Fortbewegung übrig laſſen. Bei Lufttieren ſind
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paffive Tragflächen durch leicht, locker und breit gebaute Oberhaut— produkte (3. B. Federn) oder durch verbreiterte Flächen der Haut ſelbſt („Flug⸗“, richtiger Fallhäute) eingerichtet: zwiſchen Vorder- und Hintergliedmaßen bei einigen Säugetieren (Flugmaki, Flughörnchen) und Reptilien (Flugdrache). Beim Drachen beteiligen ſich die wie bei allen Eidechſen nn Sonnen ſpreizbaren, hier aber ſehr verlängerten Rippen daran; alſo innere Skelettſtücke, was auch bei den Flugfröſchen zutrifft, wo der Fallſchirm von den verlängerten Fingern und Zehen mit dazwiſchen befindlichen, enorm vergrößerten „Schwimmhäuten“ geliefert wird.
In der Pflanzenwelt ſind die paſſiven Flugeinrichtungen der Früchte hierher zu rechnen: entweder Haare wie bei Kuhſchelle, Löwen— zahn, Pappel, Weide und Baumwollſtaude oder flügelartige Platten wie bei Ahorn, Alme, Eſche, Birke, Linde und Kiefer. An den Sporen des Schachtelhalmes befinden ſich zwei einander kreuzende Bänder (Schleudern), die ſich bei feuchtem Wetter ſpiralig einrollen, bei trockenem weit abſtehen und dann einen Schwebeapparat bilden. Den paſſiven Bewegungsorganen der Pflanzen könnte man hier gleich noch die Schleudervorrichtungen anreihen, die es erlauben, Samen aus Kapſeln, Bälgen, Hülſen und Schoten, Sporen aus Sporenbehältern weithin auszuſtreuen, manchmal geradezu fortzuſchießen: Beiſpiele dafür ſind Springkraut, Spritzgurke, Storchſchnabel unter den Blütenpflanzen, der Hutſchleuderer unter den Schimmelpilzen.
Selbſt gegen Einſinken in Sand, Schnee und Moraſt ſind Vor— kehrungen getroffen, die dem techniſchen Prinzip nach den „Tragflächen“ der Planktonweſen angegliedert werden können. Am ſchönſten zeigen es die gefranſten Finger gewiſſer Wüſtenechſen (3. B. Acanthodactylus), die Verlängerung der Zehen bei Sumpfvögeln, beſonders beim Rohr— huhn, und die Verbreiterung der Hufe bei Renntier und Dromedar. In einigem Gegenſatze dazu ſtehen Vorrichtungen, die zum Anheften an harten, glatten Flächen dienen und das Abgleiten verhindern: hier wird man ſich an die Haftſcheiben der Geckos (nächtlicher Eidechſen) und Inſekten (3. B. Stubenfliege), an die Zehenballen des Laubfroſches, Saugnäpfe der Blutegel, Kraken und Tintenfifche erinnern. Unter den Fiſchen beſitzt der Schiffshalter eine Saugſcheibe, die ſich von den Naſenlöchern bis zum Vorderrücken erſtreckt; bei den Scheibenbäuchen iſt eine ſolche aus den Bauchfloſſen, bei den Schildbäuchen unter Be— teiligung der Bauchfloſſen aus Wucherungen der Nabenbeine hervor— gegangen. — Bietet die feſte Unterlage keine glatten Flächen, ſondern Rauhigkeiten und Vorſprünge, fo werden die Haft- durch Klammer: und Greifapparate erſetzt. Man kann dies am beſten durch Vergleich zweier Formen erſehen, die beide derſelben Gruppe angehören, von denen aber die eine z. B. wüſten-, die andere felſenbewohnend iſt, — oder von denen die eine auf dem Stamm, die andere auf Zweigen und Aſten der Bäume klettert. Das Kamel als „Schiff der Wüſte“ beſitzt eine breite, ſchwielige Sohle, die ſeine beiden Zehen miteinander zu einer einheitlichen Tragfläche verbindet; das Lama als Bergkamel dagegen
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bejigt getrennte, ſcharf behufte Zehen, die zum Einklemmen der Fels— kanten taugen. Der Anterſchied zwiſchen Baumſtamm- und Baum— zweigbewegung ſpricht ſich in der Fußausſtattung der Haftzeher oder Geckonen einerſeits, der Chamäleons anderſeits aus: dieſes hat Klammer— füße, deren Zehen in zwei einander gegenüberſtellbaren Partien zu zwei und drei miteinander verwachſen ſind, wodurch eine ſehr präzis arbeitende Greifzange zuſtande kommt. In konvergenter Weiſe ſind die Füße der Papageien gebaut; doch gehören all dieſe Bildungen, bei denen uns vor allem noch die Greiffüße und Hände der Affen, ſowie unſere eigene menſchliche Hand in den Sinn kommen müſſen, nicht mehr ins Gebiet der „paſſiven“, ſondern infolge ihrer Muskelverſorgung und willkürlichen Tätigkeit durchaus ins Gebiet der „aktiven“ Bewegungsorgane. Paſſiv inſoferne, als ſie ihre ſtützende und aufrichtende Tätigkeit nicht durch Bewegung, ſondern durch Wachstum vollbringen, ſind die windenden, rankenden und haftenden Pflanzenftengel bei Kletter- und Schling— gewächſen zu nennen: beim „Winden“ wächſt der Hauptſtengel felbit ſchraubig um eine Stütze herum (z. B. Bohne, Windling, Kleeſeide); beim „Nanken“ beſorgt er dies durch eigene Seitenſtengel oder Blatt— ſtiele (z. B. Weinrebe); zum „Haften“ endlich dient eine beſondere Sorte von Nebenwurzeln.
6. Funktionswechſel, Symmetrie
Noch zwei allgemeine Anregungen müſſen wir aus dem Kapitel „Bewegbarkeit“ mitnehmen: in ſeinem Verlaufe iſt mehrmals aufmerk— ſam gemacht worden, daß einem Organ in ſpäterer Epoche ſeiner Stammes— entwicklung andere Aufgaben zuteil werden können, als die urſprünglich von ihm erfüllten. Dieſer „Funktionswechſel“ widerlegt am beſten den Einwand, den die Gegner der Abſtammungslehre gerne vorbringen: Flügel oder andere, zweckmäßig ſpezialiſierte Organe müßten auf einmal dageweſen, könnten nicht allmählich geworden ſein; denn erſte Anſätze dazu können noch nichts getaugt haben und ſollten deshalb nach der eigenen Theorie vom Schauplatz des Daſeinskampfes wieder verſchwun— den ſein. Ein ganzer Arm, der in der Luft rudernde Bewegungen ausführt, ſeinen Träger dadurch in die Lage verſetzt, aufrecht unter alleiniger Benützung der Beine zu gehen; dann im Maße, als ſich die Tragfläche der Arme verbreitert, ihm erlaubt, immer weitere Sprünge auszuführen, auf immer längere Strecken hin feſten Boden unter den Füßen überhaupt entbehren zu können: ein ſolches Organ iſt freilich trotz tiefgreifendſter Amgeſtaltung ſchon vom Beginne weit mehr als ein bloßer „Anſatz“, es iſt ein vollgültiges Werkzeug, das in jeder Etappe ſeiner Veränderung beſonderen Zwecken dienſt— bar bleibt und niemals eine Abergangszeit erleidet, in der es weniger brauchbar wäre.
And weiter: die funktionelle Ausgeſtaltung einer Bewegungsfähig— keit iſt kein örtlich abgegrenzter Prozeß, ſondern beeinflußt, ſei das an—
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zupaſſende Organ noch ſo klein, mittelbar den Geſamtkörper. Im Be— reich der Bewegung können wir dieſen Satz am beſten dadurch über— prüfen, daß wir unſer Augenmerk auf die Symmetrieverhältniſſe des Tier- und Pflanzenleibes richten, die ſich ſtets in enger Abhängigkeit von der Art der Bewegung (und der des Wachstums) befinden. Sym— metrie iſt eine bauliche Eigenſchaft der Lebeweſen, nach zwei oder mehreren Seiten hin ſpiegelbildlich gleiche Teile zu entfalten. Das Tier mit häufigem und ſchnellem Ortswechſel iſt der Hauptſache nach zwei— ſeitig (bilateral) ſymmetriſch, wobei paarige Teile gleichweit von der Mittelebene entfernt (3. B. unſere Augen), unpaare in der Mittellinie gelegen ſind (z. B. unſer Mund), ſo daß ſie von der Sym— metrieebene in ſpiegelbildlich gleiche Hälften zerlegt würden. Ein Vier— füßler kann diesbezüglich paſſend mit einem vierrädrigen, zweiſpännigen Wagen verglichen werden, zu deſſen ungehemmter Fortbewegung auch gleichmäßige Belaſtung erforderlich iſt; der Vogel eher mit einem von zwei Rudern bewegten Kahn, der bei Gefahr der Fahrtverzögerung, ja des Kippens ebenfalls nirgends ein erhebliches Abergewicht haben darf. Dieſe Parallelen machen ohne weiteres verſtändlich, inwieferne die Symmetrie fürs Bewegungsvermögen von Bedeutung iſt. Kleinere Störungen der Symmetrie ſtehen im Dienſte zweckmäßiger Organunter— bringung (3. B. Leber mehr rechts, Herzſpitze etwas nach links verſchoben); größere Aſymmetrien aber find ſtets durch beſondere Bewegungs-(oder Wachstums) erforderniſſe bedingt.
Die Flachfiſche (Scholle, Flunder, Seezunge) liegen mit einer (bei den meiſten Arten der linken) Körperſeite dem Sandboden auf; dieſe Flanke verliert ihren Farbſtoff und wird zur „funktionellen Anterſeite“, die andere (meiſt rechte) zur „funktionellen Oberſeite“. Das linke Auge wandert dabei, getragen von entſprechender Verſchiebung der Geſichts— knochen, auf die nach oben gekehrte Seite hinüber. Die junge Brut der Flachfiſche iſt noch ſeitlich ſymmetriſch und ſchwimmt aufrecht, bald aber legen ſich die Fiſchchen auf die Seite, wie es andere nur ſterbend tun, und es vollziehen ſich die beſchriebenen Wachstumsveränderungen. Nun iſt eine Form entſtanden, äußerlich kaum verſchieden von derjenigen, wie fie andere Grundfiſche (3. B. Flußgroppe, Angler, Rochen) ohne Symmetrieſtörung erreicht haben; bei ihnen hat ſich die ſeitlich zuſammen— gedrückte Geſtalt des Freiwaſſerfiſches (3. B. Flußbarſch, Karpfen) zuerſt in eine mehr walzige (3. B. Kaulbarſch, Gründling), zuletzt in eine von oben nach unten abgeplattete verwandelt, wobei die Augen, ſtatt ſeit— wärts, nach oben zu liegen kommen und nahe aneinanderrücken. Bei den Flachfiſchen iſt der abweichende Entwicklungsgang wahrſcheinlich anfangs durch die Notwendigkeit entſtanden, ſich an ganz ſeichten Sand— küſten umzulegen, damit der hohe Rücken nicht aus dem Waſſer gerät. — Ein anderes Beiſpiel bieten die ungleichſcherigen Krebſe (3. B. Hummer): die dicke Knotenſchere wird zum Aufknacken von Schaltieren, die ſchmale Zähnchenſchere zum Herausziehen des Fleiſches aus den klaffenden Sprüngen benutzt; die Winkerkrabbe, wo das Männchen eine
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Schere monſtrös vergrößert aufweiſt, bedient fich ihrer zum Abſchließen des Strandloches, worin es mit ſeinem Weibchen hauſt.
Eine ganz andere als zweiſeitige Symmetrie zeigen die feſtgewach— jenen Formen: durchaus geläufig iſt der ſtrahlige Bau einer Blüte, z. B. Anemone, der auch von vielen Blütenſtänden, z. B. den Köpfchen der Artiſchocke, Kuhblume, Diſtel, Klette uſw. feſtgehalten wird. Stö— rung dieſer radiären und ihr Übergang zur Bilateralſymmetrie (Lippen-, Rachenblütler, Orchideen) gehorchen den Anforderungen irgendeiner ſpezialiſierten Wechſelbeſtäubung (vgl. Kapitel VIIl, „Vermehrung“). Es iſt nun aber höchſt bemerkenswert, zu ſehen, wie feſtſitzende Tierformen gleichfalls zur Radiärſymmetrie hinneigen, wobei alſo nach mehr als zwei Richtungen gleiche Teile entwickelt werden. Daher ſtammt ja die Blumenähnlichkeit, die ſich ſchon in Namen wie Seeroſe, Seenelke, Seeanemone (Aktinien, Blumenpolypen, S. 275, Abb. 76), Seetulpe (rankenfüßige Krebſe) und Seelilie (Haarſterne) ausdrücken. Wenn freibewegliche Formen uns einen Strahlenbau zeigen, ſo iſt es gewiß deshalb, weil ſie von feſtſitzenden Formen abſtammen: ſo die Quallen von Polypen (vgl. S. 236, Generationswechſel); und im Kreiſe der Stachelhäuter ſind die zuvor erwähnten Seelilien wohl die altertümlichſte Gruppe, von denen wir die heutigen, in ihrer Jugend noch an einem Stiel im Grund verankerten Haarſterne, ſowie in weiterer Folge die Seeſterne und Seeigel ableiten dürfen. Hier macht ſich denn auch bereits die Rückkehr zur Bilateralform (3. B. Herzigel) bemerkbar, die in der Klaſſe der Seewalzen (S. 275, Abb. 76) beinahe wieder voll— endet iſt.
Literatur über Bewegbarkeit:
Biedermann, W., „Phyſiologie der Stütz- und Skelettſubſtanzen“. In Winterſteins Handbuch der vergleichenden Phyſiologie. Jena, G. Fiſcher, 1914.
Du Bois- Reymond, „Phyſiologie der Bewegung“. In Winter-; ſteins Handbuch der vergleichenden Phyſiologie. Jena, G. Fiſcher, 1914.
Brehms Tierleben, 4. Aufl., herausg. von O. zur Straßen. Leipzig und Wien, Bibliographiſches Inſtitut, 1914.
Dohrn, A., „Der Arſprung der Wirbeltiere und das Prinzip des Funk— tionswechſels“. Leipzig, W. Engelmann, 1875.
Pettigrew, J. B., „Die Ortsbewegung der Tiere“. Leipzig, F. A. Brock— haus, 1875.
Vöchting, H., „Die Bewegungen der Früchte und Blüten“. Bonn, M. Cohen, 1882.
(Vgl. auch die Schriften von Loeb, Pringsheim, Radl und Verworn
im Literaturverzeichnis zum vorangehenden Kapitel über „Reizbarkeit“.)
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V. Stoffwechſel (Metabolismus)
1. Ernährung (Nutrition) a) Die Ernährung der Arweſen
Wir kennen aus dem Kapitel „Leben und Tod“ (S. 46) die Nahrungsaufnahme der Amöbe, die mit Hilfe ihrer Scheinfüßchen dahrungspartikel umfließt oder umwallt, einftülpt oder einſaugt (Abb. 15).
Wurzelfüßler, deren Scheinfüßchen nicht lappen-, ſondern ſtrah— lenförmig ſind, bewir— ken an der Stelle, wo die Strahlen mit einem Nahrungskörper in Be— rührung geraten, deren Zuſammenfließenz dieſe dicke, den Biſſen ein— ſchließende Stelle wan— dert dann dem Zentrum zu, um ſich ſchließlich mit dem Zellinneren zu vereinigen. Kann dies bei Wurzelfüßlern an . jeder Stelle der Zell— oberfläche geſchehen, ebenſo die Entleerung unverdaulicher Reſte, ſo ſind bei formbeſtän— digen Urtieren (Infu— ſorien — S. 73, Abb. 11) mindeſtens für die Ein— fuhr (Zellmund), zu— weilen auch für die
Ausfuhr (Zellafter)
beſondere Pforten geſchaffen. And gleichwie hier, wo keine Scheinfüßchen— bildung mehr möglich iſt, ortsbeſtändige Wimpern oder Geißeln die Be— wegung übernehmen, fo auch die Nahrungsvermittlung: ſtets wird der Zell— mund von beſonders zahlreichen kräftigen Wimpern umſtanden, bisweilen ſo dicht, daß man einen ununterbrochenen zitternden Saum (eine „undulierende
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Membran“) zu ſehen glaubt. Die Wimpern ſchlagen einwärts und er— zeugen ſo einen Strom, der leichte, ſchwimmende Teilchen von genügender Kleinheit in den Trichter des Zellenmundes (Zellſchlund) hineinreißt. Das geſchieht zunächſt ſogar unabhängig davon, ob die Teilchen genießbar ſind oder nicht; beiſpielsweiſe hat man, um den Prozeß recht deutlich verfolgen zu können, Infuſorien mit Tuſche- oder Karminkörnchen „ge— füttert“. Nach einiger Zeit lernt dann allerdings das Artierchen ſolche Einfuhrartikel verſchmähen, indem es ſeine Wimperbewegung umkehrt und nunmehr nach außen ſchlägt, wodurch ein Strom entſteht, der die mißliebigen Objekte wegſchwemmt. Aufgenommene Partikel ſieht man in den von ihnen ſelbſt nebſt mitgeriſſenem Waſſer eingenommenen Hohlräumen (Nahrungsvakuolen) der Plasmaſtrömung folgen, die ſie allmählich mit allen Schichten der Zellſubſtanz in Berührung bringt; unter ihrem zerſetzenden Einfluß wandeln ſich die Nahrungs- in Kot— vakuolen, die nur noch Anverdauliches enthalten. Beſtand die Nah— rung aus Algen, ſo nimmt man die Veränderung an der Verfärbung — Nahrungsvakuole grün, Kotvakuole braun — deutlich wahr. Kommt eine Kotvakuole, worin jedenfalls auch Gasentwicklung ſtattfand, der Oberfläche nahe, ſo platzt ſie, offenbar weil auf der nach außen gekehrten Seite das Gas den Aberdruck erlangte, und entleert ihren nicht weiter brauchbaren Inhalt nach außen; bei manchen Arten (Pantoffeltierchen) geſchieht dies anſcheinend noch an beliebiger Stelle, bei anderen (Mufchel- und Trompetertierchen) durch eine beſtimmt gelagerte Aus— wurfsöffnung.
Andere Klaſſen formbeſtändiger Urtiere (Gregarinen) und Arpflanzen (Schizophyten) beſitzen weder Scheinfüßchen noch eine Mundöffnung und ernähren ſich auf endosmotiſchem Wege, d. h. die Nahrungsſtoffe treten in flüſſig-gelöſter Form durch die Zellwand ins Innere der Zelle ein. Bei den Geißelträgern (Flagellaten — S. 74, Abb. 12), dieſen wahrſten »Mittelgliedern zwiſchen Tier und Pflanze, gibt es einerſeits Arten mit endosmotiſcher Ernährung, anderſeits ſolche mit Mundöffnung oder doch ſtabiler, einſaugender Nahrungsvakuole, die durch eine hierfür be— ſtimmte Geißel bedient wird, und überdies ſolche, die beide Ernährungs— arten vereinigen (3. B. Anisonema). Enthalten ſolche Formen zugleich grüne Körnchen, die aus Chlorophyll beſtehen, ſo ſind ſie nebſtbei im— ſtande, Kohlenſäure unter Benützung des Lichtes als Energiequelle in Sauerſtoff und Kohlenſtoff zu zerlegen, um letzteren zum Aufbau ihrer Lebensmoleküle zu verwenden, — zeigen alſo dann das Hauptmerkmal der Pflanzenaſſimilation.
Manche Bakterien ſind in anderer Weiſe unabhängig von der Aufnahme feſter und organiſcher Nahrung: ſie bedürfen durchaus nicht des Blattgrüns zur Kohlenſäureſpaltung, ſondern entweder iſt es durch einen anderen Farbſtoff erſetzt, wie bei den Purpurbakterien, — und dann kann aus Gründen, die nach Lektüre des folgenden Ab— ſchnittes verſtändlich klingen werden, ebenfalls das Sonnenlicht als Energiequelle dienen; oder nicht einmal das iſt notwendig, und die zur
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Kohlenſtoffgewinnung aus Kohlenſäure nötige Energie wird durch Bin— dung ihres Sauerſtoffs an andere Elemente, wie Schwefel, Stickſtoff uſw., gewonnen. Die Schwefelbakterien ſpalten aus dem für Organismen ſonſt giftigen Schwefelwaſſerſtoff den Schwefel ab und holen aus ſeiner Oxydation zu Schwefelſäure die Kraft her, um ihre körpereigenen Stoffe daraus zu bauen; die Eiſenbakterien ver— arbeiten in analoger Weiſe das Eiſen. Die Knöllchenbakterien (Pseudomonas radicicola) in den Wurzeln der Hülſenfrüchtler und die eigentlichen Stickſtoffbakterien (Azotobacter, Clostridium) frei im Erdboden haben die Fähigkeit, den in der Atmoſphäre enthaltenen Stickſtoff unmittelbar als Nahrung zu verwerten, während ſämtliche übrigen Erdenbewohner ihn nur mittelbar aus ſtickſtoffhaltigen Verbin— dungen aufzunehmen vermögen. Immerhin ſind dieſe Verbindungen bei den Nitromonaden, die hierzu nur des Ammoniaks bedürfen und es zu ſalpetriger Säure oxydieren, und bei anderen Nitri— fikationsbakterien, welche die von jenen gelieferte ſalpetrige Säure übernehmen und weiter zu Salpeterſäure oxydieren, noch anorganiſch und recht einfach. Die Nitromonaden verhalten ſich zu den echten Stickſtoffbakterien reziprok: bei letzteren Oxydation des Kohlenſtoffs und infolgedeſſen Aſſimilation des Stickſtoffs, bei erſteren Oxydation des Stickſtoffs und infolgedeſſen Aſſimilation des Kohlenſtoffs. Während Stickſtoff- und Nitrifikationsbakterien anorganiſchen Stickſtoff an die belebte Welt binden, geben umgekehrt die Salpeterfreſſer den durch Spaltung von Salpeter frei werdenden Stickſtoff der Atmoſphäre und damit der unbelebten Welt zurück.
b) Die Ernährung der Pflanzen
Den Tieren iſt die Fähigkeit, ſich in ſolcher Weiſe einfache Stoffe anzueignen, die ſonſt der unbelebten Natur zugehören und erſt von ihnen in belebte Verbindungen umgewandelt werden müßten, anſcheinend faſt vollſtändig abhanden gekommen; den Pflanzen dagegen iſt ſie hin— ſichtlich dreier unorganiſcher Stoffe in weitgehendem Maße erhalten geblieben: des Kohlendioxydes (Kohlenſäure), der Stickſtoffverbindungen und des Waſſers ſamt darin gelöſten obligaten oder fakultativen Ele— menten, den Kalk-, Kalium- und Natriumſalzen, denen des Schwefels, Phosphors und Eiſens. Nur die Salze werden auch von den Tieren direkt aufgenommen, ohne aber für ihre Ernährung auszureichen.
Die Kohlenſäure wird von Landpflanzen der Luft, von Waſſer— pflanzen dem Waſſer, worin ſie gelöſt iſt, entnommen. Sie diffundiert ins Innere der Zellen und weiter ins Innere der Blattgrünkörner. In dieſen geſchieht die Spaltung, vermöge deren jedes Kohlenſäuremolekül in zwei Atome Sauerſtoff und ein Atom Kohlenſtoff zerlegt wird. Letzterer bleibt in der Pflanze und findet zunächſt zur Erzeugung von Stärke (als erſtes, leicht nachweisbares Produkt) Verwendung: in aſſi— milierenden Chlorophyllkörnchen ſieht man alsbald winzige Stärkekörnchen auftreten. Der Sauerſtoff aber iſt dann frei und wird, ſoweit er nicht
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gleich wieder zur Atmung verbraucht wird (S. 111), ausgeschieden. Die Kohlenſäureſpaltung und Stärkebereitung kann nur bei Tage ſtattfinden, ſolange die grünen (chlorophyllhältigen) Pflanzenteile von direktem oder diffuſem Sonnenlichte in genügender Menge getroffen werden. Amhüllt man ein Blatt mit ſchwarzem Papier, worin man das Wort „Stärke“ ausgeſchnitten hat, fo findet man nach Lichterpofition nur im Bereiche dieſer Buchſtaben die Blattgrünkörnchen mit ihren Stärkeeinſchlüſſen vor. Taucht man das (zuvor in Alkohol abgetötete) Blatt in eine Jod— löſung, ſo kann man dieſe Verteilung an der ſchwarzblauen Farbe der ausgeſtanzten Buchſtaben (bekannte Stärkereaktion auf Jod) ſchon mit unbewaffnetem Auge erſehen. — Die Stärke wird ſodann in andere, auch in chlorophyllfreie Pflanzenteile (z. B. Wurzeln, unterirdiſche Stengel, Samen) abtransportiert und als Nahrung verbraucht; dabei kann ſie nicht die feſte Körnchenform bewahren, ſondern muß, um die Zellwände exosmotiſch paſſieren zu können, flüſſig gelöſt und zu dieſem Zwecke vorübergehend in Traubenzucker überführt werden, woraus dann farb— loſe Stärkebildner, die in der Pflanze überall vorkommen, die Stärke wiederherſtellen. Beſonders reichlich geſchieht dies an Orten, wo die Pflanze Reſerven für Zeiten des Nahrungsmangels (Winter, Dürre— perioden) anſammelt: in den verſchiedenſten Dauerorganen, als Wurzel— und Stengelknollen, Wurzelſtöcken, Zwiebeln, oberirdiſchen Stämmen, Brutknoſpen und Samen. Der Nährlöſungstransport geſchieht in den Geweben, wo Zelle an Zelle liegt, auf osmotiſchem Wege durch die Membranen; mit größerer Geſchwindigkeit aber in den — nur höheren Pflanzen eigentümlichen — Gefäßen (Siebröhren), durch Strömungen, die den Geſetzen der Druckverteilung in feinſten Röhrchen (Kapillarität) gehorchen.
Das Waſſer ſamt darin enthaltenen Nährſalzen wird von der Landpflanze als Grundwaſſer — von den Farnen an aufwärts meiſt mit Hilfe beſonderer Saugorgane, der Wurzelhaare — dem Boden entnommen; von der Waſſerpflanze an ihrer geſamten, auch oberirdiſchen Peripherie, ſo daß hier die Wurzeln ihre Bedeutung als Ernährungs— organe teilweiſe einbüßen und hauptſächlich als Verankerungswerkzeuge dienen. Das Waſſermolekül wird in je ein Atom Sauerſtoff und je zwei Atome Waſſerſtoff geſpalten, welche Elemente gemeinſchaftlich mit dem bei der Kohlenſäureſpaltung zurückbehaltenen Kohlenſtoff in neuer Atomgruppierung zur Stärke, den Zuckerſtoffen, überhaupt den nahrung— ſpendenden Kohlehydraten zuſammentreten. Da dies nur in Chloro— phyllkörperchen gelingt, ſo muß das Waſſer zuerſt aus chlorophylloſen in chlorophyllführende Teile gebracht werden; dies geſchieht in den Ge— weben wieder auf osmotiſchem Wege, ſchneller in den Gefäßen Golz— gefäßen) nach dem Prinzip der Druck- und Saugpumpe, — wobei die Druckwirkung von der Zellſpannung (Turgor) namentlich ſchon in der Wurzel ſelbſt (Wurzel- oder Blutungsdruck), die Saugwirkung durch das Verdampfen des überſchüſſigen Waſſers (Transpiration und Gutta— tion), das die Nachſchübe ermöglicht, geliefert wird. Das Waſſer wird
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durch dieſes Pumpwerk von den Wurzeln bis in die Baumkronen emporgehoben: mit welcher Energie, geht daraus hervor, daß ein er— wachſener Laubbaum bis 400 kg Waſſer pro Tag verdampfen läßt. Es iſt alſo begreiflich, daß jene organiſchen Waſſerleitungsrohre feſter, ſprungſicherer Wände bedürfen: die hierzu notwendige Verſteifung wird von Holzſtoff in verſchieden geformten Verdickungen bewerkſtelligt, nach denen man Tüpfel-, Treppen-, Ring- und Schraubengefäße unterſcheidet.
Die Stickſtoffverbind ungen werden von den Pflanzen aus dem Boden und Waſſer entnommen, wohin ſie hauptſächlich durch ver— weſende Tier- und Pflanzenſtoffe gelangen, welch letztere durch Fäulnis, die Tierftoffe auch durch Harnſtoffbakterien weiter bearbeitet und zerlegt werden. Bei Blitzſchlag entſtehen geringe Mengen Ammoniak aus Luft— ſtickſtoff und Waſſerdunſt auf anorganiſchem Wege und mögen für die Stickſtoffverſorgung der erſten Lebeweſen von Bedeutung geweſen fein; in der heutigen Lebenswelt aber vollzieht ſich ein ſteter Kreislauf, der das Ammoniak von der Pflanze (allenfalls auf dem Amweg über Tiere) durch Vermittlung der Bakterien in den Boden und aus dem Boden wieder in die Pflanze bringt. Das Ammoniakmolekül wird in je ein Atom Stickſtoff und je drei Atome Waſſerſtoff geſpalten, um abermals in anderer atomiſtiſcher Anordnung ins Biomolekül einzutreten. Durch— aus nicht alle Pflanzen vermögen das Ammoniak ſelbſt ſchon aufzu— nehmen, ſondern es muß dann durch die uns bereits bekannten Nitro— monaden erſt noch in Salpeterſäure oxydiert und mit den im Boden befindlichen Kalium-, Natrium- und Kalziumverbindungen zu Salpeter— verbindungen vereinigt werden.
Aus dieſer Zuſammenſtellung kann man erſehen, daß von den vier Hauptelementen des lebenden Stoffes der Kohlenſtoff nur durch die Kohlenſäure, der Stickſtoff nur durch Ammoniak und Salpeterverbin— dungen, der Sauerſtoff (da der aus Kohlenſäure abgeſpaltene großen— teils frei wird oder der Atmung, aber kaum der Aſſimilation dient) wohl vorwiegend durch Waſſer in den Pflanzenkörper gelangen, während der Waſſerſtoff ſowohl dem Waſſer als den Stickſtoffverbindungen ent— zogen werden kann. Kohlenſäure, Ammoniak (bzw. Salpeter) und Waſſer ſind ſomit neben Kalzium, Kalium, Magneſium, Phosphor, Eiſen und Schwefel die hauptſächlichen Nahrungsſtoffe der grünen Pflanze; ſie ſind aber noch nicht eigentlich ihre Nahrungs mittel (= Reſerveſtoffe); dieſe bereitet ſich die Pflanze daraus ſelber, nämlich Kohlehydrate, Fette und Eiweiße. In dieſer Vorbereitung (präpara— tiven Aſſimilation) unterſcheidet ſich die grüne Pflanze vom Tier, nicht in den Nahrungsmitteln, denn als ſolche benützt das Tier gleich— falls Eiweiß, Fett und Kohlehydrate (Stärke, Zucker). Das Tier ver— mag ſie nur nicht aus anorganiſchen Grundſtoffen zu konſtituieren, ſondern muß ſie fertig zubereitet (als Pflanzen- oder ſogar ſchon als Tierftoffe) aufnehmen. Pflanzen, die kein Blattgrün beſitzen (Pilze, Schmarotzerpflanzen, z. B. Schuppen- und Sommerwurz, Kleeſeide) gleichen darin dem Tier.
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c) Die Ernährung der Tiere
Aus dem bisher Geſagten ergibt ſich, daß die Tierwelt, die ſich von Pflanzen nährt — oder zwar von Tieren, die aber letzten Endes wieder Pflanzenfreſſer find — in ihrer Exiſtenz auf die Pflanzenwelt angewieſen iſt. Es ergibt ſich ferner, daß die Pflanzen rings von Nährmedien umgeben ſind, denn die Luft, das Waſſer, die Erde bieten ihnen Nahrung; das Tier muß aber die ſeine erſt ſuchen. Daraus folgt für das Tier die Notwendigkeit, Bewegungen auszuführen, die ihrerſeits eine bewegliche konziſe Form verlangen und deshalb die ver— dauenden Flächen nach innen verlegen; für die Pflanze folgt bei ihrer Bewegungsloſigkeit der Zwang, mit reicher Flächenentfaltung nach außen das Nährmilieu möglichſt auszunützen. Da die Pflanzen aus einfachen anorganiſchen Stoffen hochzuſammengeſetzte Subſtanzen auf— bauen, leiſten ſie gewaltige Aſſimilationsarbeit; hingegen ſpielen Diſſimilationsprozeſſe (wie Zerlegung der Stickſtoffverbindungen des Waſſers uſw., der unlöslichen Stärke in löslichen Zucker) der herrſchen— den Anſchauung nach verhältnismäßig wenig mit. Da die Tiere aus ſchon zuſammengeſetzten, organiſchen Stoffen nur etwas anders zu— ſammengeſetzte, aber ebenfalls organiſche Stoffe (nämlich die ihres eigenen Ich) umzubauen haben, ſo iſt ihre Aſſimilationsleiſtung eine relativ geringe; dafür ſpielen Diſſimilationsprozeſſe, um unlösliche Nahrungsmittel in lösliche Form zu bringen, eine ſehr große Rolle.
Verfolgen wir den Gang dieſer Verflüſſigung der Nahrungsſtoffe (Verdauung, „Digeſtion“), wie ſie ſich etwa bei einem Säugetier abſpielt: ſie beginnt im Munde mit der Nahrungszerkleinerung, die den verdauenden Säften größere Angriffsflächen ſchafft, und mit der Einſpeichelung, die den Biſſen ſchlüpfrig macht und ihn auch bereits Löſungsprozeſſen unterwirft. Der Speichel löſt alles, was ſich in Waſſer löſt (Salz, Zucker) und verfügt außerdem bereits über ein Enzym (S. 32), das Ptyalin, welches Stärke in Traubenzucker verwandelt, womit auch dieſer ſofortiger Löslichkeit anheimfällt. Im Magen wirkt die Salz— ſäure bakterientötend und entkalkend; ein Enzym (das Pepſin) bringt zuſammen mit der Salzſäure die unlöslichen Eiweißkörper in eine lös— liche Modifikation, die Peptone. Die Dünndarmdrüſen ſetzen dies fort, desgleichen die Bauchſpeicheldrüſe (Pankreas), deren Sekret nebſt dem der Leber (Galle) überdies die Aufſchwemmung (Emulſion) der Fette in winzige Tröpfchen beſorgt. Nun kann der Nahrungsbrei (Chymus) in die Darmlymphe (Chylus) aufgenommen werden; es geſchieht durch die Tätigkeit kegelförmiger, ins Darmlumen ragender Fortfäge, die Darmzotten. Von außerhalb des Darmes ragt in die Zotte ein Lymphgefäß (Chylus— gefäß) hinein, das den Nahrungsſaft aufſaugt; die Spitze der Darmzotte iſt aber nicht etwa durchbohrt, ſondern die Säfte müſſen durch die Schleim— haut dringen, und für dieſe Endosmoſe müſſen ſie natürlich flüſſig ſein.
Bis hierher haben nur Zerlegungen und Löſungen der Nahrungs— ſtoffe ſtattgefunden, keine Aſſimilationen, die erſt in den Geweben vor—
Kammerer, Allgemeine Biologie 7 97
genommen werden. Es gilt alſo, den Chylus an dieſen Beſtimmungsort zu tragen. Dies beſorgen die zirkulierenden Körperflüſſigkeiten, zunächſt die Lymphe, die ſich ins Blut ergießt, dann das Blut ſelber. Lymphe und Blut beſtehen aus einer klaren Flüſſigkeit (Serum), in der ſich freie Zellen bewegen, in der Lymphe nur farbloſe, die „weißen“ Blut— oder Tymphkörperchen (Leukozyten, Lymphozyten, S. 37, Abb. 5, Detail 1), im Blut außerdem gefärbte, die roten Blutkörperchen (Ery— throzyten, Abb. 5, Detail 2), die dem Wirbeltierblut die rote Farbe verleihen. Das Blut der Wirbelloſen iſt aber oft farblos oder, wenn gefärbt, von einem diffus verteilten Farbſtoff erfüllt, der nicht an beſondere Blutzellen gebunden erſcheint. Die weißen Blut— körperchen nun nehmen am Transport der Nahrung aktiven Anteil; jedes von ihnen gleicht einer Amöbe, iſt in der Ruhe kugelig, in der Bewegung unregelmäßig gelappt infolge Ausſtreckens von Scheinfüß— chen, mit denen es auch Nah— rung aufnimmt. Die Nahrung beſteht aus den ins Chylus— gefäß diffundierten Fetttröpf— chen, Farbſtoffkörnern und ein— gedrungenen Fremdkörpern, wie Bakterien (Abb. 16). Die fremden Beſtandteile werden Abb. 16. Weißes Blutkörperchen (Leukozyt) dadurch, daß der Leukozyt Een ener 3 Ind in noch Lorbandenen. geformten ‚ noch vorhandenen geformten (Aus en Nahrungsbeſtandteile vollends flüſſig gemacht, ſo daß ihrer Zuführung an den Aſſimilationsort (ins zuſtändige Gewebe) nichts mehr entgegenſteht.
Jede Gewebszelle entnimmt dem Blut auf osmotiſchem Wege die Stoffe, die ſie für ihren eigenen Stofferſatz gerade nötig hat. Auch daran nehmen die weißen Blutkörperchen tätigen Anteil, da ſie ſich zwiſchen die Endothelzellen der dünnſten Blutgefäße (Haar- und Kapillargefäße) hinausdrängen, ſomit durchs Gefäßrohr in die Gewebe wandern („Wanderzellen“) und hier mit den Gewebszellen in un— mittelbareren Stofftauſch treten als vom Blutſerum aus. Die von weißen Blutkörperchen aſſimilierten Subſtanzen kommen nun, in Geſtalt
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ihrer Ausſcheidungen, den Geweben ebenfalls als Nährſubſtanzen, teil- weiſe als Schutzſtoffe gegen Gifte zugute.
Auch das Tier beſitzt alſo eine „präparative Aſſimilation“, die vom Blut mit ſeinen zelligen Einſchlüſſen geleiſtet wird und der defini— tiven Aſſimilation in den Gewebszellen vorangeht. Der geſamte Er— nährungsprozeß des Tieres ſetzt ſich aus folgenden Schritten zuſammen:
5 Auß re oder Darm verdauung. 1. Aufnahme der Nahrung von außen; 2. Transport in die aufeinander folgenden Darmabſchnitte (Mundhöhle, Schlund, Speiſeröhre, Magen, Dünn-, Dick- und End— darm); 3. Spaltung der unlöslichen, 4. Verflüſſigung der löslichen und durch chemiſche Spaltung löslich gemachten Nahrungsſtoffe; 5. Ent— fernung der 6 und lösbaren Abfallprodukte (Fäzes, Exkremente) nach außen; 6. Abertritt des Nahrungsſaftes aus dem Darm in die Gefäße.
II. Innere oder Gewebsverdauung. 7. Vorbereitende Aſſi— milation durchs Blut bzw. Blutzellen; 8. Transport der Nahrungs— ſtoffe in alle Körperteile; 9. deren wahlweiſe (elektive) Aufnahme durch und in die Gewebszellen; 10. deren Amwandlung in eigene Subſtanz der Gewebszelle.
Im Grunde genommen unterſcheidet ſich die Ernährung eines höheren Tieres nur durch die zahlreichen vorbereitenden Prozeſſe und Transporte von der früher beſchriebenen Ernährung der Einzeller; die Behandlung der Nahrung durch die zu ernährenden Zellen iſt aber ganz dieſelbe wie bei den niederſten Arweſen, nämlich Amfließen durch Scheinfüßchen oder Endosmoſe.
Außer den organiſchen bedürfen die Tiere (darin gleich den Pflanzen) auch anorganiſcher Stoffe zur Aufrechterhaltung ihres Lebens— betriebes: Waſſer und Salze. Erſteres dient zur Erhaltung der Körperflüſſigkeiten und des Waſſergehaltes im Zellplasma; letztere, für ſich allein nicht befähigt, lebendes animaliſches Plasma zu erzeugen, ergänzen doch die eigentlichen N ahrungsſtoffe im Aufbau verſchiedener Gewebe. Zellſubſtanz kann nur in Gegenwart von Kaliumphosphat regeneriert werden: Kalzium und Magneſiumphosphat dienen zum Aufbau des Skelettes, Eiſenſalze zur Bildung der Blutfarbſtoffe. Außerdem ſind die Salze zum Betrieb der zahlreichen elektrolytiſchen Prozeſſe im lebenden Körper unerläßlich (Georg Hirth). Es iſt zu bedenken, daß die erſten Lebeweſen, mögen ſie nun kosmiſcher oder telluriſcher Herkunft geweſen ſein, jedenfalls im Armeere, alſo im Salz— waſſer lebten; die ans Süßwaſſer und Feſtland angepaßten Formen konnten den Aufenthaltswechſel nur leiſten, indem ſie ſich in allen Ge— weben und deren Flüſſigkeiten einen gewiſſen Salzgehalt bewahrten. Ausſüßung der Gewebe wirkt zerſtörend auf das Plasma ein; wir nützen dieſe Erkenntnis aus, indem wir Gewebſtücke, die wir in über— lebendem Zuſtande unterſuchen wollen, in „phyſiologiſche Kochſalzlöſung“ einbetten. Der Salzgehalt muß alſo um ſo eher auch im normalen Lebenszuſtand aufrecht erhalten und bei Verbrauch erſetzt werden—
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In neuerer Zeit mehren ſich die Nachrichten, daß Waſſertiere — kleinere eher als größere, tiefſtehende mehr als höherſtehende — gelöſte Stickſtoff- und Kohlenſtoffverbindungen aufnehmen und neben den ge— formten Beſtandteilen, den Tier- und Pflanzenſtoffen, als Nahrung verwerten. Nahegelegt wurde dieſe Möglichkeit auf rechneriſchem Wege: ein Schwamm von 60 g Lebendgewicht müßte pro Stunde das 40 000: fache ſeines Rauminhaltes durch die Verdauungskanäle pumpen, um von den in dieſen Waſſermengen enthaltenen organiſchen Brocken lihre volle Ausnützung vorausgeſetzt) ſeinen Nahrungsbedarf zu decken; das überſteigt ſeine tatſächliche Leiſtungsfähigkeit um das 8000 fache. Da ſich weiter herausſtellt, daß in 11 Meerwaſſer 65 mg Kohlenſtoff in Verbindungsform gelöſt iſt, der großenteils von Algen und Bakterien geliefert wird, ſo bedarf es nur noch des Nachweiſes, daß Tiere in dieſer Löſung bei Abweſenheit ſonſtiger Nährſtoffe wirklich gedeihen können oder wenigſtens nicht ſo raſch abmagern, als ihr Stoffverbrauch erwarten ließe. Verſuche von Pütter bejahen in überraſchender Weiſe dieſe für unſere bisher gefeſtigten Begriffe fremd gewordene Frage, beſonders an Meeresfiſchen, doch auch an Süßwaſſerfiſchen (Goldfiſch, Stichling). Vielleicht am anſchaulichſten iſt das Ergebnis beim Krebs Simocephalus, der in bafterienfreiem und filtriertem Waſſer gewachſen iſt und ſich mehrmals gehäutet hat. Von manchen Paraſiten, wie dem Bandwurm, war ja ſchon lange bekannt, daß fie durch die Körperdecken auf osmotiſchem Wege gelöſte Nahrung aufnehmen, die aber freilich im Darmſaft eines Wirbeltieres viel konzentrierter zugegen iſt als im freien See- und Süßwaſſer. Wird die Nahrung vorwiegend oder aus— ſchließlich auf osmotiſchem Wege beſchafft, ſo begegnen wir anſehn— licherer äußerer Flächenentwicklung in Anlehnung an die entſprechenden Verhältniſſe des Pflanzenreiches. Für Landtiere iſt von v. Linden be— hauptet und, ſoweit ich ſehe, allerdings hier von mehreren Forſchern bindend widerlegt worden, daß die Schmetterlingspuppen, als Äquivalent ihrer während der Puppenruhe (alfo gerade einer Zeit ſtarker Entwick lungsanſprüche) ſtillſtehenden ſonſtigen Nahrungsaufnahme, Kohlenſäure der Luft zu aſſimilieren imſtande ſeien. Ich möchte es nicht als un— möglich hinſtellen, daß analoge Aberraſchungen uns bei anderen Tieren, namentlich in der Richtung ihrer abnehmenden Organiſationshöhe hin, tatſächlich bevorſtehen und ſich dort als eine keineswegs vereinzelte Er— ſcheinung darſtellen werden.
2. Abſcheidung (Sekretion) und Ausſcheidung (Exkretion)
Wo immer Ernährungsprozeſſe vor ſich gehen, müſſen ſie von Ausſcheidungsprozeſſen gefolgt ſein; wir ſahen es ſchon daran, daß die Pflanze den bei ihrer Kohlenſäureaſſimilation frei werdenden Sauerſtoff entläßt, daß ſie überſchüſſiges Waſſer transpiriert; erkannten es beim Tier daran, daß die Anhangsdrüſen des Verdauungskanals (Mund— und Bauchſpeichel, Magen- und Darmdrüſen) ihre löſenden und enzym—
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haltigen Sekrete erzeugen, um die Nahrung in einen Zuſtand zu ver- ſetzen, der ſie ſeitens der Darmzotten aufſaugungsfähig macht; ſowie endlich daran, daß die Ausſcheidungsprodukte der Leukozyten, als Er— gebnis ihrer vorläufigen Aſſimilation, von den Gewebezellen über— nommen werden.
Der Leukozyt — die farbloſe, eigenbewegliche Blutzelle — gleicht einer Amöbe ſo ſehr, daß man in ihm bei ſeiner Entdeckung ein ſchmarotzendes Artierchen vermutete. Hat er feine Ausſcheidung, ſo werden wir erwarten dürfen, auch bei ſeinem Arbilde — eben der Amöbe — erkretoriſche Prozeſſe anzutreffen. Das iſt in der Tat der Fall; nur treffen wir bei Formen, welche ſalzhaltiges Medium be— wohnen (und hierzu gehören ja auch die Blutzellen), kein beſonderes Organulum dafür; ihr ganzes Entoplasma dürfte ſich bei Bedarf aus— ſcheidend betätigen. Hingegen beſitzen die Süßwaſſerformen und die Aufgußtierchen ein eigenes Sekretionswerkzeug in Geſtalt von ein bis zwei „pulſierenden“ oder „kontraktilen Vakuolen“. Wir erblicken ſie als rundes, manchmal von ſtrahlig angeordneten, in ſie einmündenden Kanälen umgebenes Bläschen, das langſam größer wird und abwechſelnd wieder verſchwindet. Im Zuſtande maximaler Dehnung bildet ſich zwiſchen Vakuolenwand und Exoplasma eine feine Offnung, durch welche die Ausſonderungsprodukte nach außen entleert werden. Das Größenmaximum bedeutet alſo den Zuſtand größter Füllung, das Schwinden den der Entleerung. Zülzer iſt es gelungen, Süßwaſſeramöben an Seewaſſer zu gewöhnen, wobei ſie ihre pulſierende Vakuole verloren; die Meeresformen können die Entfernung ihrer flüſſigen Abgänge und den Erſatz des dabei verloren gehenden Quellungs— waſſers im Plasma durch einfachen Flüſſigkeitsaustauſch (Exosmoſe der einen, Endosmoſe der anderen) bewerkſtelligen; die Süßwaſſerarten aber dürfen den Salzgehalt ihres Plasmas nicht verdünnen laſſen und bedürfen eines Apparates, um den Prozeß entſprechend zu regeln. Auch im Pflanzenreich, und zwar keineswegs bloß bei den Einzellern, ſpielt dieſe „osmotiſche Regulation“ (Fitting) eine große Rolle.
Im Vielzeller muß natürlich wiederum jede Zelle die Fähigkeit zur Ausſcheidung bewahren: jede muß das ausſcheiden, was von ihrem be— ſonderen Stoffwechſel übrigbleibt. Die Exkretſtoffe, die als Kohlenſäure und Waſſer das Atmungswerkzeug, als Harn die Nieren, als Waſſer mit geringen ſtickſtoffhaltigen Beimengungen die Schweißdrüſen ver— laſſen, werden nicht etwa dort erſt gebildet, ſondern an den Aſſimilations— orten: jene Filtrierapparate und drüſigen Organe haben nur die Ge— ſamtmenge der anderswo gebildeten Ausſonderungsprodukte zu über— nehmen und mit Hilfe anſchließender Kanalſyſteme nach außen zu be— fördern. Zugeführt werden ſie ihnen, wo es ſich um lokaliſierte Aus— ſcheidungsorgane handelt, vom Blut; manche Tiere, beſonders die Platt— würmer, beſitzen aber einen fo reich veräſtelten Exkretionsapparat, daß er alle Gewebe durchſetzt und alle Organe umſpinnt; hier müſſen die auszuſcheidenden Stoffe nicht zum Ausſcheidungsapparat hingebracht
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werden, ſondern dieſer holt fie fich ſelber. Auf dem analogen Prinzip beruht die Verzweigung des Darms bei den Hohltieren, die des Atmungs— apparats bei den tracheenatmenden Gliedertieren; in ſolchen Fällen wird die Mithilfe zirkulierender Flüſſigkeiten für die Stoffverteilung von und zu dem betreffenden Organſyſtem unnötig.
Bei der Pflanze gibt es keine ſtickſtoffhaltigen Ausſcheidungs— produkte, wie fie der tieriſche Harn vorſtellt. Bezeichnen wir als „Er: kretion“ (Ausſcheidung) die Entfernung von Abgängen, die für den Organismus nicht mehr brauchbar ſind, als „Sekretion“ (Abſcheidung) die Produktion von Stoffen, die dem Organismus noch irgend Dienſte leiſten, ſo fallen beinahe alle Abſonderungsprozeſſe der Gewächſe unter den Begriff der Sekretion. Denn als wertlos für die Pflanze iſt eigentlich nur der bei der Kohlenſäureſpaltung freiwerdende Sauerſtoff anzuſehen, ſoweit er nicht augenblicklich wieder für die Atmung be— anſprucht wird, ſowie das überſchüſſige Waſſer. Hingegen dient das Wurzelſekret zur Erſchließung des Bodens: es enthält Säuren, die das Geſtein (am meiſten Kalkſtein) „korrodieren“, d. h. zur chemiſchen Verwitterung bringen, ſo daß es dem Wurzelwachstum nicht weiter hinderlich bleibt. Zahlreiche Pflanzenteile, beſonders Blüten, ſcheiden ätheriſche Ole, wodurch Inſekten angelockt, und zuckerhaltige Flüſſig— keiten (3. B. Honigſaft oder Nektar) aus, wodurch die Inſekten gefüttert und für ihre Liebesdienſte (S. 216) belohnt werden. Harzausſcheidungen, ebenfalls ätheriſche Ole enthaltend, dienen dem Wundverſchluß; Wachs— ausſcheidungen zur Hemmung allzu großer Tranſpiration, Schleim— abſonderungen (beſonders auf Waſſerpflanzen) zum Schutze gegen Tier— fraß. Inſektenfangende Pflanzen ſondern Fermente ab, die, nebſt organiſchen Säuren, gleich dem Pepſin des Tiermagens Proteine in Peptone und noch weiter vereinfachen, womit ſie lösbar und durch Endosmoſe aufſaugbar werden. Für all dieſe ſezernierenden Leiſtungen der Pflanzen ſind natürlich auch Drüſen und Sekretbehälter vorhanden, und zwar, was Form und Gewebe anbelangt, in überaus großer
Kannigfaltigkeit.
Laſſen wir die Abſonderungen der Tiere von dem Geſichtspunkte aus Revue paſſieren, ob es ſich um nicht mehr brauchbare Auswurfs— ſtoffe oder um zwecktaugliche Abſcheidungen handelt, ſo finden wir eigentlich auch nicht viele, die reſtlos der erſten Gruppe zugewieſen werden könnten. Harn (Arin), den Bedarf überſchreitendes Waſſer und Kohlenſäure, in untergeordneter und häufig nur abnormer Weiſe Aber— fluß an Schleim erſchöpfen bereits das Verzeichnis der Exkrete, während den zahlloſen Sekreten wichtige, teils mechaniſche, teils chemiſche Auf— gaben zugewieſen ſind. Selbſt der Schweiß iſt nicht nutzlos, denn er vollzieht im Verein mit den Gefäßſchlingen im Papillarkörper der Leder— haut die Temperaturregulierung: er verhindert Wärmeſtauungen durch die Verdunſtungskälte. Schweißdrüſenaggregate gaben bei den Säuge— tieren zur Entſtehung der Bruſtdrüſen, alſo zur Milchſekretion Gelegen— heit. Die Hautſekrete der Amphibien, Schnecken und Erdwürmer er— 102
möglichen bei nicht zu lange dauerndem Waſſermangel den Fortbeitand der Hautatmung und verteidigen das Tier vermöge ihrer ätzenden Schärfe gegen raubgierige Feinde. Der fettige Inhalt der Talgdrüſen glättet die Haut und macht die Haare, das Sekret der Bürzeldrüſe bei Vögeln die Federn geſchmeidig. Iſt dies eine mehr mechaniſche Funktion, ſo erfüllt die Verdauung befördernde Wirkung der dem Darm angegliederten Drüſen chemiſche Funktionen, wovon wir bereits ſprachen.
All dieſe Sekrete werden von den ſie produzierenden Drüſen mittels beſonderer Ausführungsgänge an ihren Beſtimmungsort ge— bracht; höchſtens iſt noch ein Sammelbehälter für den Drüſeninhalt eingeſchaltet, entweder im Hohlraum der Drüſe ſelbſt (3. B. Nieren— becken) oder abſeits davon (3. B. Gallen-, Harn-, Samenblaſe), der ſeinerſeits wieder in einen Kanal ausmündet. Die Harnkanälchen, Harn— leiter und Harnröhren, Gallengänge und Gallenblaſengang, Wirſungſcher Gang aus der Bauchſpeicheldrüſe bieten bekannte Beiſpiele für derartige Ausführungskanäle erſter und zweiter Ordnung. Anders iſt es mit jenen Sekreten, die nicht aus einem für Sekretion ſpezialiſierten Organ, ſondern aus zerſtreut liegenden Drüſenzellen oder aus gewöhnlichen Zellen herſtammen, die das Sezernieren nur als eine ihrer allgemeinen organiſchen Fähigkeiten ausüben. Solche Abſcheidungen werden von Zelle zu Zelle osmotiſch weitergegeben, bis fie in ein Gefäß gelangen, wo ſie vom Strome der Körperflüſſigkeit erfaßt und zu anderen Körper— regionen getragen werden. Im Gegenſatze zu den äußeren Sekreten, die von Drüſen mit Ausführungsgang entleert werden, nennt man die anderen, die der allgemein ſezernierenden Tätigkeit ſämtlicher Körper— zellen ihre Entſtehung danken und zunächſt ohne ſpezielle Beſtimmung ins Blut oder die Lymphe gelangen, „innere Sekrete“ oder „Hor— mone“. Da jedes Gewebe ſeinen eigenartigen Stoffwechſel hat, deſſen Produkte chemiſch von denen anderer Gewebe verſchieden ſind, ſo wird der ein Gewebe paſſierende Saftſtrom (Blut, Lymphe, auch pflanzliche Säfte) chemiſch verändert, denn er hat ja die Sekrete des durchfloſſenen Gewebes in ſich aufgenommen. Der Saftſtrom nimmt aber nicht nur auf, ſondern gibt auch ab, und, ſelbſt verändert, gibt er natürlich andere Stoffe ab, die ihrerſeits das beteilte Gewebe chemiſch beeinfluſſen. Durch Vermittlung der in Gefäßen dahinſtrömenden Flüſſigkeit werden chemiſche Veränderungen auf weiteſt entfernte Regionen übertragen; wir gelangen zur Vorſtellung, daß (in analoger Weiſe, wie durch Reizung einer be— liebigen Zelle ſämtliche übrigen Zellen etwas von der Erregung verſpüren müſſen) durch Sekretion jedes Gewebes und jeder darin enthaltenen Zelle ſämtliche übrigen Gewebe und Zellen des Körpers, wennſelbſt teilweiſe nur in ganz geringem Grad, betroffen werden. Im Kapitel „Entwicklung“ werden wir machtvolle innerſekretoriſche Einflüſſe kennen lernen; dort werden wir auch des näheren erfahren, daß ihre Verteilung nicht regellos bleibt, ſondern wie alle anderen organiſchen Funktionen der Arbeitsteilung unterliegt: es entſtehen Spezialorgane für innere Sekretion, die „Drüſen ohne Aus führungsgang“, Blut- oder
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Wachstumsdrüſen — ſo geheißen, weil ihr Sekret in die Blutbahn träufelt, der jene Drüſen (3. B. Schilddrüſe, Brieſel, Nebenniere) an— geſchloſſen, und weil ſie das Wachstum beſtimmter, oft ſehr entlegener Körperteile zu fördern oder zu hemmen imſtande ſind. Manche Drüſen entfalten, neben äußerer Sekretion durch einen Ableitungsgang in anderen Zeilen ihres Gewebes noch eine beſtimmt funktionierende innere Sekretion: ſo die Bauchſpeicheldrüſe und Leber; ſo namentlich auch die Geſchlechts— drüſen, deren „generatives Gewebe“ (Ei- und Samenröhrchen) die Fort— pflanzungsprodukte durch die Geſchlechtswege (Ei- und Samenleiter) nach außen abſtößt, wogegen das „Zwiſchengewebe“, welches durchaus keinen eigentlichen Drüſen-, ſondern bindegewebigen Charakter hat, unter anderem das Wachstum der äußeren Geſchlechtsmerkmale protegiert.
Unter den inneren Sekreten nehmen die Schutzſtoffe („Antitoxine“) beſonderen Rang ein, die im Körper, insbeſondere ſeinen Flüſſigkeiten, zirkulieren und ihm gegen Krankheits- und andere Gifte Widerſtands— kraft verleihen. In hervorragender Weiſe beteiligen ſich die weißen Blutzellen an der Erzeugung von Gegengiften; die giftigen Stoffwechſel— produkte der krankheitserregenden Bakterien werden von ihnen auf— genommen (S. 98, Abb. 16), und das Abſcheidungsprodukt iſt dann das ſpezifiſche Gegengift der betreffenden Krankheitsſtoffe. Weiße Blut— körperchen ſind denn auch ſogleich maſſenweiſe (als „Eiter“) zur Stelle, wo es gilt, fremde, entzündungserregende Stoffe unſchädlich zu machen. Die überſtandene bakterielle Krankheit oder andersgeartete Vergiftung läßt alſo den Organismus im Zuſtande der Giftfeſtigkeit („Immunität“) zurück; die Antitoxine bleiben noch geraume, je nach dem Spezialfall verſchieden lange Zeit im Körper, — die Immunität überdauert die Krankheit. Beſonders in Fällen ſehr lang anhaltender Immunität dürfte dieſe Erſcheinung auch darauf beruhen, daß der Stoffwechſel immuni— ſierender Zellen, einmal in eine gewiſſe Richtung gelenkt, auch weiterhin fortfährt, Gegengifte zu erzeugen, alſo ohne unmittelbar vorausgegangene Giftaufnahme und Giftgewöhnung. Es ſind Beiſpiele bekannt, in denen ſogar die Nachkommen immuniſierter Tiere noch giftfeſt blieben: Mäuſe nach Rizin- und Abrin-(Ehrlich), wie nach Tetanusgewöhnung, Kaninchen nach Hundswut-(Tizzoni, Cattaneo) und Diphtheriegewöhnung (Behring), ſowie nach Gewöhnung an Bacillus pyocyaneus, den Erreger des blauen Eiters (Gley und Charrin). Das wäre dann alſo eine Vererbung der Immunität; der Einwand, daß es ſich um bloße Übertragung durch Mutterkuchen und Muttermilch (alſo dann nicht um Vererbung, vgl. die Definition in Kap. IX, S. 267) handle, widerlegen Gley und Charrin, denn auch Nachkommen nicht immuniſierter Mütter von immuniſierten Vätern ſind immun. Allerdings in ſchwächerem Grade, wodurch das Mitwirken der beiden anderen Wege oder eines davon bewieſen er— ſcheint. Wenn manch kleine Tiere Gifte in Doſierungen vertragen, die für uns ſchon bedenklich wären (Ziegen, Schnecken und Inſekten ver— ſchiedenſte Giftpflanzen, Vögel ſtark blauſäurehaltige Samen), ſo beruht dies auf ererbter und dann bereits angeborener Immunität; desgleichen 104
wohl die nur in vipernreichen Gegenden zutreffende Widerſtandsfähigkeit gewiſſer Warmblüter (Igel, Iltis, Buſſard) gegen Schlangengift. Auch bei Pflanzen ſind Immunſtoffe aus der Tatſache ihrer Immunität er— ſchloſſen worden, und auch hier iſt Abertragung auf ſpätere Generationen möglich: die Widerſtandsfähigkeit des Weizens gegen Rojtpilze gehorcht in der Kreuzung mit roſtempfänglichen Raſſen nach Biffen ſogar den Mendelſchen Vererbungsregeln (S. 258).
Außer der Fähigkeit, ſich an zunehmende Mengen chemiſcher Schädigungen zu gewöhnen, kommt auch das Amgekehrte vor, geſteigerte Giftempfindlichkeit („Anaphylaxie ), fo zwar, daß nach jedem über— ſtandenen Vergiftungsanfall die Doſis ſchwächer ſein kann, die denſelben oder einen ſtärkeren Anfall (anaphylaktiſchen Schock) hervorruft. Zahl: reiche „Idioſynkraſien“, ſo gegen Erdbeeren, Krebſe, Mais, ja Hühner— eiweiß — Nahrungsmittel, deren Genuß bei dazu disponierten Perſonen lokale Entzündungen, Neſſelausſchläge, Fieber und heftige Ablichkeiten im Gefolge haben — gehören zu den Anaphylaxieerſcheinungen; ebenſo das „Heufieber“, die Vergiftung der Schleimhäute durch Toxine des Blütenſtaubes, beſonders Gräſerpollens. Anſcheinend treten die Ana— phylaxien unter Amſtänden ebenſo erblich und dann als Familien— eigentümlichkeit auf, wie die Immunitätserſcheinungen. Worauf es beruht, ob ein Gift immuniſierend oder anaphylaktiſch wirkt, iſt zurzeit nur ungenügend bekannt; einige Forſcher ſind der Meinung, Immunität trete dann ein, wenn die giftige Subſtanz die Zellen nur von außen umſpüle und dadurch zur Produktion von Gegengiften anrege, wogegen das Eindringen des Giftes in die Zelle ſelbſt, wenn es ſie nicht über— haupt zerſtört, ihren Stoffwechſel in die anaphylaktiſche Richtung drängt, weil ſich mit dem Zellplasma Verbindungen bilden, die den Zwecken des Organismus nicht entſprechen (v. Liebermann). Die Erfahrung von Weil, daß die Antikörper bei Immunität mehr im Serum, bei Ana— phylaxie mehr in den Körperzellen zu finden ſind, würde damit über— einſtimmen; nur muß man ſich klar darüber ſein, daß zwiſchen dem Verhalten des Blutes und ſeiner zelligen Einſchlüſſe einerſeits, dem der übrigen Körperzellen anderſeits keinesfalls ein prinzipieller Anter— ſchied beſteht. Anaphylaxie kommt auch bei ein und derſelben Giftart neben Immunität vor und hängt von der Vergiftungsſtärke ab, von der zwiſchen wiederholten Vergiftungen verſtrichenen Zeit u. a.
3. Atmung (RNeſpiration)
Die beſchriebenen Ernährungs- und Ausſcheidungsprozeſſe könnten den Organismus nicht befähigen, Lebensarbeit (Erregung, Bewegung, Wachstum) zu leiſten, wenn ſie nicht ſtetig dem Einfluß des Sauer— ſtoffes unterworfen wären. Die Verbrauchsſtoffe müſſen mit Sauerſtoff verbunden, alſo verbrannt („oxydiert“) werden, um ihre chemiſche Energie wirkſam in mechanifche Energie umzuwandeln; fie ſind ja das Heiz— material, womit die Lebensmaſchine in Gang erhalten wird, — was
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nützt einer Maſchine die Kohlenſpeiſung, wenn die Kohlen nicht zu Schlacken verbrannt werden? Deshalb find Oxydationen neben Katalyſen (Wirkungsbeſchleunigungen, S. 32) die eigentlichen Trieb— kräfte des Lebens; ſie ergänzen einander, indem die katalytiſchen Stoffe Energielieferungen, die ſonſt nur bei weit höherer Verbrennungstempe— ratur möglich wären, bereits bei Wärmegraden ablaufen laſſen, die dem Plasma zuträglich find. Nach dem Van tt Hoffſchen Geſetz entſpricht in chemiſchen Vorgängen einer Temperaturerhöhung um 10 C (bei unſeren gewöhnlichen Temperaturen) eine zwei- bis dreimal ſchnellere Reaktions— geſchwindigkeit; dieſe Beſchleunigung wird in Gegenwart von Katalyſa— toren auch ohne Temperaturerhöhung geleiſtet.
Immerhin iſt die Wärmeproduktion des Organismus eine anſehn— liche; bei „kaltblütigen“, richtiger wechſelwarmen (poikilothermen) Lebeweſen wird die erzeugte Wärme immer wieder raſch abgegeben; der Temperaturausgleich bewirkt hier, daß ſich die Körpertemperatur normaler— weiſe nur um wenige Grade über die Außentemperatur erhebt. Wird jedoch die Wärmeabgabe nach außen unterbunden, ſo werden auch in ſolchen Teilen, von denen wir es nicht anzunehmen gewohnt ſind, überraſchend hohe Wärmegrade erreicht, wie dies Moliſch in An— häufungen von Laubblättern gemeſſen hat. Damit ſteht im Einklang, daß Kaltblüter, die ſich zum Winterſchlaf zurückziehen, ſich gerne in Maſſen aneinander drängen, wodurch die ſonſt geringe Wärmeanſamm— lung ihres diesbezüglich wenig geſchützten Körpers vermehrt wird. Nur im Tierreich, und auch hier erſt bei deſſen höchſtſtehenden Vertretern, finden wir vervollkommnete Einrichtungen, um die Körpertemperatur nicht bloß vor raſchem Sinken zu bewahren, ſondern auch Hitzeſtauungen zu verhindern, mit einem Worte alſo, auf einen gleichbleibenden Grad einzuſtellen (u regulieren). Dieſe Fähigkeit beſitzen nur die „warm— blütigen“, gleichwarmen (homoiothermen, ſtenothermen) Säugetiere und Vögel. Hauptorgan der Wärmeregulierung ſind die Haargefäße, welche in den an die Oberhaut grenzenden warzenförmigen Ausbuchtungen der Anterhaut (Papillen) umbiegen: bei Temperaturerniedrigung ver— engern ſich dieſe Gefäßſchlingen, ſo daß das Blut nicht ſo weit an die Oberfläche ſtrömen und daher nicht ſoviel Wärme abgeben kann. Erſt wenn der Körper in einen Erregungs- oder Bewegungszuſtand verſetzt wird, der feine Orydationen vermehrt, dehnen ſich die Gefäße, und das Blut ſtrömt wieder energiſch nach außen. Erweiterung und Verengerung der Gefäße werden — außer von der Temperatur, die dazu den erſten Anſtoß gibt — von beſonderen Gefäßnerven (den vaſomotoriſchen Nerven) geregelt. Die zweite Regulierungsvorrichtung, nur dazu da, um bei Vorhandenſein von zu viel Wärme deren Ableitung zu beſchleunigen und darin die im maximalen Ausdehnungszuſtand befindlichen Kapillar— ſchlingen noch zu unterſtützen, haben wir in Geſtalt der Schweißdrüſen vor kurzem kennen gelernt.
Kein Lebeweſen kann des Sauerſtoffs entraten. Die meiſten Tiere und Pflanzen entnehmen ihn der Luft, entweder direkt der Atmoſphäre
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oder der im Waſſer gelöften Luft. Von dieſer Regel machen, ſoweit bekannt, einzig und allein die „ana roben“ Bakterien eine Ausnahme, die entweder nur bei Luftabſchluß (obligate Unaörobie) oder auch bei Luftabſchluß (fakultative Unaörobie) leben können. Ihnen iſt deswegen der Sauerſtoff nicht etwa entbehrlich; ſie beziehen ihn nur aus anderer Quelle, — durch Zerlegung des Zuckers bei Gärungs-, von Eiweiß bei Fäulniserregern.
Jede Zelle hat ihre Atmung, jede kann Sauerſtoff von außen auf— nehmen, falls ſie der Oberfläche und dadurch dem ſauerſtoffhaltigen Medium genügend nahe iſt. Kleine Lebeweſen begnügen ſich mit dieſer Atmung ihrer peripher gelegenen Zellen („Hautatmung“), während ſo bei großen Körpern keine genügende Sauerſtoffverſorgung des Inneren erzielt werden kann; denn wenn die Oberfläche im quadratifchen Ver— hältnis zunimmt, wächſt die Maſſe im Kubus. Dann ſind alſo der Sauerſtoffaufnahme dienende Oberflächenvergrößerungen notwendig, die ſich nach dem uns wohlbekannten Prinzip der Arbeitsteilung als ſpeziali— ſierte Atmungswerkzeuge darſtellen.
Die Pflanze beſitzt zum Zwecke ihrer Ernährung ohnedies ſchon eine reiche Oberflächengliederung; die Hauptſtätten der Aſſimilation find meiſt zugleich auch die der Atmung und Tranſpiration — nämlich die Blätter. Eine gewiſſe Lokaliſierung iſt durchgeführt, indem die Blatt— oberſeite, wo das als Energiequelle zur Kohlenſäureſpaltung benützte Sonnenlicht auftrifft, vorwiegend der Aſſimilation — die Blattunter— ſeite, wo „Spaltöffnungen“ vorhanden ſind und nicht ſo leicht durch Staub und Tau verlegt werden können, der Reſpiration (und Tranſpiration) gewidmet iſt. Nur bei ſchwimmenden Blättern der Waſſerpflanzen (3. B. Seeroſe) befinden ſich auch die Spaltöffnungen auf der Oberſeite. Jede Spaltöffnung iſt von zwei Schließzellen ein— gefaßt, die ſich von benachbarten Oberhautzellen durch abweichende Ge— ſtalt ſowie dadurch unterſcheiden, daß ſie Chlorophyll führen. Die Weitergabe der Atemluft an die innen gelegenen Zellen und Gewebe wird durch lufthaltige Zellzwiſchenräume beſorgt; unterhalb der Spalt— öffnungen liegen große Interzellularräume, die man als Luftkammern oder Atemhöhlen bezeichnen kann, — nach den hier vorhandenen Lücken heißt das ganze Gewebe „Schwammparenchym“. Eines anderen Sauerſtofftransportes zu inneren Geweben bedarf die Pflanze nicht, da ſie alle ihre Flächen nach außen entwickelt und eigentlich keine „inneren Organe“, die noch mit Sauerſtoff verſorgt und von der längs der Zwiſchen— räume eindringenden Luft nicht erreicht werden könnten, beſitzt. Die zir— kulierenden Flüſſigkeiten der Gefäßpflanzen dienen daher ſo gut wie aus— ſchließlich der Ernährung, dem Transport der noch weiterzubehandelnden (Waſſer in den Holzgefäßen) und der ſchon zugerichteten Nahrungsſäfte (in den Baſt-, teilweiſe in den Milchgefäßen); für die Atmung ſpielen die pflanzlichen Saftſtröme, wenn überhaupt, fo nur eine untergeordnete Rolle.
Ganz anders beim Tier. Einmal iſt bei ihm die Ausbildung reſpirierender Flächen eine viel einſeitigere als bei der Pflanze; dann
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find für Zuleitung des Sauerſtoffes zu den inneren Organen viel kom— pliziertere Vorkehrungen nötig. Dieſe Zuleitung beſorgt wieder, wie ſchon die der Nahrungsſtoffe, das Blut; mindeſtens bei den Wirbel— tieren jedoch find es nicht dieſelben Blutplasmen, die dort als Nahrungs—, hier als Sauerſtoffüberträger funktionieren, ſondern die letztgenannte Aufgabe übernehmen ganz ausſchließlich die roten Blutkörperchen (S. 37, Abb. 5, Detail 2). Sie entſtehen im Knochenmark, beim Embryo auch in Leber und Milz; urſprünglich (als „Erythroblaſten“) ähneln ſie — bis auf den Farbſtoffgehalt — den weißen Blutkörperchen, ſpäter verlieren ſie unter reichlicher Aufnahme von Eiſenſalzen ihre Beweglichkeit, bei den meiſten Säugetieren einſchließlich des Menſchen auch den Zellkern, und verwandeln ſich in formbeſtändige, ſcheiben-, napf- oder flach ſanduhrförmige Plättchen („Erythrozyten“), die im Gegenſatz zu den Leukozyten vollſtändig paſſiv im Strome treiben und ſich oft zu geldrollenförmigen Gruppen aneinanderlegen. Sie ſind es, die dem Wirbeltierblut die rote Farbe geben; den Erythrozyten wird fie durch ein Eifenoryd (Roſt iſt auch ein Eiſenoxyd und ebenfalls rot!) verliehen, das ſeinerſeits in einem hoch zuſammengeſetzten Eiweißkörper enthalten iſt, dem Hämoglobin. Es bindet Sauerſtoff leicht und locker an ſich, wodurch es ſich in Oxyhämoglobin umwandelt; nach Abgabe des Sauerſtoffes, die ebenſo leicht ſtattfindet wie ſeine Auf— nahme, verwandelt ſich das Oryhämoglobin in gewöhnliches Hämoglobin zurück. Dieſe umkehrbare Verwandlung kommt in der Geſamtfarbe des Blutes ſchon makroſkopiſch zum Ausdruck: Blut, das eben ein Atmungs— organ durchfloſſen und Sauerſtoff aufgenommen hat, ſieht hellrot aus („arterielles Blut“); wenn es nach Vollendung des Körperkreis— laufes zum Atmungsorgan zurückkehrt, iſt es ſauerſtoffarm und dunkler geworden „venöſes Blut“). Dickwandige, muskulöſe, rhythmiſch ſich zuſammenziehende und ausdehnende Puls- oder Schlagadern (Arterien) befördern das hellrote Blut, nachdem es aus dem Atmungs— organ ins Herz zurückgefloſſen iſt, von dieſem zentralen Pumpwerk (Herzkammer) aus in die Körperteile, bis ſich die Arterien in ein feinſtes Netz von gewebedurchdringenden und zellenumſpinnenden Haar— gefäßen aufgelöſt haben; dünnwandige, ſchlaffe Blutadern (Venen) ſammeln das dunkelrot gewordene Blut, nachdem es die Abfallſtoffe aus den Geweben fortgenommen hat, und laſſen es ins zentrale Saug— werk (Vorkammern des Herzens) zurückfluten. Die Trennung des Herzens in eine arterielle und eine venöſe Abteilung iſt nicht immer ſo ſtreng durchgeführt; ja bei den Fiſchen iſt das ganze Herz venös, da es durch ein Sammelbecken (sinus venosus) das ganze verunreinigte Körperblut in ſich aufnimmt und auf der anderen Seite durch einen muskulöſen Stiel (truncus arteriosus) in die Kiemenbögen treibt. And nicht immer ſtehen Schlag- und Blutadern durch Kapillarnetze mit— einander in geſchloſſener Verbindung: bei vielen wirbelloſen Tieren münden die Gefäße frei in die Leibeshöhle, wo nun das Blut ohne Vermittlung von Haargefäßen die Gewebe umſpült, um zuletzt, venös
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geworden, durch geöffnete Ventile in Herzbeutel und Herz zurückgeſogen zu werden.
Wenn das Hämoglobin des Blutes ſich mit Sauerſtoff bereichert, ſo verliert das Blutkörperchen gleichzeitig Kohlenſäure; und umgekehrt, wenn das Oxyhämoglobin einen Teil feines Sauerſtoffvorrates abgeben muß, jo bindet das Blutkörperchen zur ſelben Zeit Kohlenſäure zu Natriumbikarbonat an den Natriumgehalt ſeines Plasmas. Der Gas— wechſel erſtgenannter Art vollzieht ſich im Atmungsorgan: hier iſt der Druck des Sauerſtoffes außen größer, innen geringer; indem ſich dieſe Druckunterſchiede ausgleichen, diffundiert Sauerſtoff durch die dünne Haut des Atmungsorganes und dann noch durch die zarteſte Haut des Haargefäßes hindurch ins Blut und Blutkörperchen. Der Gaswechſel zweitgenannter Art vollzieht ſich in den Geweben: hier laſtet ein Aber— druck an Kohlenſäure, der um ſo eher zum Eintritt ins Blut führen muß, als dieſes durch Sauerſtoffabgabe feine Gasſpannung erniedrigt hat. In gleicher Weiſe, wie wir die Nahrungsaufnahme und Vor— bereitung als äußere oder Darmverdauung der Nahrungsverwertung (Aſſimilation) als innerer oder Gewebsverdauung gegenübergeſtellt haben, können wir nun auch die Luftaufnahme in der Lunge oder einem anderen Atmungsorgan als äußere oder Organatmung, den Gasaustauſch in den Körperzellen als innere oder Gewebsatmung bezeichnen. And der geſamte Atmungsprozeß würde ſich, namentlich bei höheren Tieren, aus folgenden Etappen zuſammenſetzen:
l. Einatmung: 1. Einatmung der Luft ins Neſpirationsorgan, — 2. Diffuſion des Sauerſtoffes ins Blut, — 3. Transport des Sauer— ſtoffes im Blut zu den Körperteilen, — 4. Austritt des Sauerſtoffes aus dem Blut und Abertritt in die Gewebszellen.
I. Ausatmung: 5. Aufnahme des zu Kohlenſäure orydierten Kohlenſtoffes der Gewebe (ſowie der Oxydationsprodukte des Stickſtoffs, Waſſerſtoffs, Schwefels uſw.) ins Blut, — 6. Rücktransport im Blut zum Atmungsorgan, — 7. Abgabe der Kohlenſäure (und eines Teiles von dem zu Waſſer oxrydierten Waſſerſtoff) in den Hohlraum des Atmungsorganes, — 8. Ausatmung ins Freie.
Die Atmungswerkzeuge der Tiere müſſen nach alledem, um ihren Dienſt verrichten zu können, reich durchblutet ſein; und dies muß, um dem Gasaustauſch „Sauerſtoff gegen Kohlenſäure“ ein möglichſt ges ringes Hindernis zu bieten, mit Hilfe zarteſter Kapillargefäße geſchehen, die nur von zarteſtem Epithel gedeckt, nur von zarteſtem Bindegewebe geſtützt ſein dürfen. Solch ein Organ würde bald verdorren, wenn nicht für ſeine Feuchterhaltung geſorgt würde; bei Waſſertieren beſteht diesbezüglich keine Verlegenheit, ſie können ſozuſagen nach Herzensluſt Hautausſtülpungen bilden, die ſich falten und auf den Faltungen weiter veräſteln; es entſtehen Kiemen, die von einfachen, handſchuhfinger— förmigen Auswüchſen (Seeſterne) alle Grade der Komplikation zu Franſen (Röhrenwürmer), Büſcheln (Amphibien), Kämmen (Fiſche) und Netzen (Muſcheln) aufweiſen, — ſämtliche Formen irgendwie der Oberflächen—
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vergrößerung dienend. Bei waſſerlebenden Inſekten verlängern fich die Dracheen (verzweigte Luftröhren) aus den Stigmen (Atemſchlitzen) heraus zu langen, gefiederten Anhängſeln, den „Tracheenkiemen“. Wie aber ſollen Landtiere ihre Atmungswerkzeuge vor dem Eintrocknen ſchützen? Falls ſie in weitgehendem Maße der primitiven Hautatmung treu bleiben, ſorgen reichliche Sekrete der Hautdrüſen, — im übrigen häufige Bäder, bei deren Anterlaſſung die Tiere binnen wenig Stunden oder Tagen ver— ſchrumpfen, oder ſtändiger Aufenthalt im Naſſen für das Schlüpfrig— bleiben der atmenden Oberfläche: ſo die Erdwürmer, Landſchnecken und Amphibien; unter letzteren find einige Molche (3. B. Spelerpes) tat— ſächlich lungenlos, und die anderen (3. B. Fröſche) leben nach Heraus: nahme der Lungen weiter, als ſei nichts geſchehen. Die übrigen Land— tiere aber, beſonders ſolche, wo Schutzdecken der Haut (Haare, Federn, Schuppen, Knochen- und Hornpanzer) ihren ungehemmten Verkehr mit der Atmoſphäre ausſchließen, müſſen ihr Atmungsorgan, das ſonſt recht eigentlich Außenfläche ſein ſollte, nach innen verlegen. In dieſer minder günſtigen Poſition kann es ſeiner Aufgabe nur durch abermalige Er— höhung und — wegen Platzmangels — geſteigerte Ausnützung der Oberfläche gerecht werden. In den verſchiedenen luftatmenden Tier— gruppen iſt dieſes Erfordernis in verſchiedener Weiſe verwirklicht:
Bei den Lungenſchnecken dient einfach die Innenwandung der „Mantelhöhle“, reich mit Gefäßen verſehen, größtenteils als „Lunge“. — Bei den Inſekten, Tauſendfüßlern und Spinnen tut es ein Röhrenſyſtem, das an paarige Haupt- und Längsſtämme zahlreiche veräſtelte Querſtämme anſchließt, deren Endzweige jedes Organ und Gewebe umſpinnen. Kurze, gröbere Querſtämme führen links und rechts zu Offnungen an den Hinterleibsflanken, zu den „Stigmen“. Dies „Tracheenſyſtem“ iſt nicht, wie die Kiemen, durch Ausſtülpung, ſondern durch Einſtülpung von Hautduplikaturen entſtanden; die äußere Haut ſetzt ſich in die Röhren fort, innerhalb der Hauptſtämme ſogar einſchließlich der von der Haut abgeſonderten Chitindecke. So kommt es, daß Tracheentiere, die ſich häuten, auch die Haut der Tracheen— ſtämme wechſeln, die dann an den Stigmen der abzuſtreifenden Haut hängen bleibt und in Form weißer, ſpiralig gedrehter Streifen aus den Stigmen der neugebildeten Haut hervorgezogen wird. Bei den Spinnen funktionieren außer gewöhnlichen, röhrigen Tracheen die „Fächer: lungen“: es ſind zwei Tracheengruppen, in je einer mit ſchlitzförmigem Stigma verſehenen Kammer auf der Anterſeite des Hinterleibes gelegen, durch Abflachung blatt- ſtatt röhrenförmig geſtaltet und fächerförmig angeordnet. — Bei den Wirbeltieren endlich ſehen wir als Ausſtülpung des Darmes, ſpäter durch ein eigenes Rohr (Luftröhre) mit der Rachen— höhle in direkter Verbindung, die Lungen in Gebrauch genommen, die aus der Schwimmblaſe der Fiſche durch Funktionswechſel dem reſpiratoriſchen Dienſt erobert wurden. Bei waſſerlebenden Amphibien, die außerdem noch durch äußere Kiemen atmen (Larvenformen, Kiemen— lurche), ein doppelter (linker, rechter Lungenflügel), ſonſt glattwandiger
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Sack, bilden ſich bei landlebenden Amphibien an deſſen innerer Wand Falten; dieſe trennen wabenförmige Räume ab, die ſich ihrerſeits falten und abermals in Waben ſondern. Durch weitgehendes Fortſchreiten dieſes Prozeſſes entſtehen ſchließlich die traubenförmig aus zahlreichen Lungenbläschen („Alveolen“) angeordneten Lungenläppchen in der Säuge— tierlunge. Wie weit die Raumausnützung und damit die innere Ober— flächenvergrößerung hier gediehen iſt, kann man daran ermeſſen, daß die atmende Fläche der menſchlichen Lunge auf 90 qm geſchätzt wird.
Die Verwendung des mit ſo ungeheurer Oberflächenenergie auf— genommenen Sauerſtoffes iſt uns ſchon bekannt: er dient zur Ory- dierung der Abbauprodukte in den Gewebezellen. Die Oryde verlaſſen dann (bei Tieren) als Harn die Niere bzw. Harnblaſe, als Kohlenſäure und Waſſer in Dampfform die Lunge, Kieme oder Trachee, als Waſſer in gasförmiger und Tropfenform die Poren der Haut. Soweit ſie ſich anderer Ausgangspforten als der Atmungs— werkzeuge bedienen, zählt man ihre Ausſcheidung den Exkretionen zu; ſoweit die Oxyde an denſelben Stätten den Leib verlaſſen, wo der zu ihrer Verbrennung nötige Sauerſtoff Einlaß fand, rechnet man ihre Entfernung zur Refpiration. Bei Pflanzen fallen die Exkretionen großen— teils, die Harnexkretion ganz weg, — es verbleibt der Reſpirations— prozeß in gleicher Geſtalt wie bei Tieren: Einatmung von Sauerſtoff, Ausatmung von Kohlenſäure, nebſt Tranſpiration von Waſſer.
4. Der Stoffaustauſch zwiſchen Tieren und Pflanzen
Man hört oft ſagen, bei den Pflanzen verlaufe die Atmung um— gekehrt wie bei den Tieren: dieſe atmen Sauerſtoff ein, Kohlenſäure aus, — jene Sauerſtoff aus, Kohlenſäure ein. Indes der letztgenannte Prozeß, den wir ſchon kennen, iſt keine Atmung, ſondern Ernährung Gohlenſäure-Aſſimilation). Die wirkliche Atmung der Pflanze verläuft in ihren Endrefultaten genau fo wie die der Tiere. Woher rührt es aber dann, daß in der Luft eines abgeſchloſſenen Raumes, worin ſich faſt nur Pflanzen befinden (etwa in einem gut abgedichteten Gewächshaus), bei Tage eine Abnahme an Kohlenſäure und eine Zunahme an Sauerſtoff feſtzuſtellen iſt, und daß, wenn ſolch geſchloſſenen Raum in richtigem Verhältnis auch Tiere beleben (3. B. in einem Aquarium), die Mengen des Sauerſtoffes und der Kohlen— ſäure dieſelben bleiben? Die Arſache hierfür iſt darin zu ſuchen, daß im geſamten Stoffwechſel der Pflanze der Aſſimilationsvorgang, ſo— lange volles Tageslicht Zutritt hat, den Refpirationsvorgang überbietet, d. h. es wird mehr Kohlenſäure zu Nahrungszwecken verbraucht, als zu Atmungszwecken ausgehaucht; und es wird mehr Sauerſtoff als Diſſi— milationsprodukt ausgeſchieden, weniger zur Herſtellung von Orydations— produkten aufgenommen. Der von den Pflanzen an die Luft zurück— gegebene Sauerſtoff wird jedoch vom Tiere gierig eingeatmet, — es ver— brennt damit einen Teil des Kohlenſtoffgehaltes ſeiner Gewebe, der nun
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als Kohlendioxyd den Tierkörper wieder verläßt. Deshalb ſtehen tierifcher und pflanzlicher Stoffwechſel in enger Wechſelwirkung, — tieriſche Atmung und pflanzliche Ernährung ergänzen einander; bei entſprechender Ver— teilung von Tier- und Pflanzenleben ſtehen dieſe Prozeſſe im Gleichgewicht. In dem Maße, als das Tageslicht abnimmt, ſchwindet auch das Abergewicht der Sauerſtoff- über die Kohlenſäureproduktion im vege— tabiliſchen Stoffwechſel; es kommt ein Augenblick in der Dämmerung, wo beide Vorgänge ſich die Wag— ſchale halten, ſo daß dieſelbe Pflanze weder den Sauerſtoff- noch den Kohleſäuregehalt der Atmoſphäre verändert, bis endlich in Nacht und Dunkelheit auch die Pflanze (gleich dem Tier) Sauerſtoff nur konſumiert und nur Kohlenſäure produziert. Man ſpricht des— halb vom zweizeitigen Stoffwechſel der Pflanzen. Auf die Frage, warum die Pflanze nur bei Tageslicht Kohlenſäure zu ſpalten vermag, läßt ſich eine biologiſche und eine phyſikaliſch-ener— getiſche Antwort geben.
Die erſte findet ihre Erledigung in der Tatſache, daß viele organiſche Farbſtoffe auf die Dauer nur bei Licht entwickelt und erhalten werden können: wir ſehen Höhlen-, Holz- und Rindentiere, ebenſo Erd— bewohner, falls ſie ſich ſtändig unter der Erde auf— halten (3. B. Engerlinge und andere Inſektenlarven), und Eingeweideſchmarotzer ohne Pigment einher— gehen; wir ſehen auch das Pigment ſolcher Tiere, die wir künſtlich in vollkommene Finſternis einſchließen,
Abb. 17. Vergei⸗
lung (Etiolment)
bei einem Senfſäm⸗
ling (Sinapis alba),
der im Finſteren ge-
zogen war (E); da— neben (N) ein nor: maler, am Licht ge— zogener Sämling derſelben Pflanze und vom gleichen Alter.
langſam zugrunde gehen. Davon macht das Blattgrün der Pflanzen, die Stätte der Kohlenſäureaſſimilation, keine Ausnahme. Im Dunkeln entſteht es (von einigen Ausnahmen abgeſehen, z. B. den Nadelholz— keimlingen) nicht: keimende Pflanzen ergrünen nicht früher, als bis ſie ſich durch die Erdſcholle zum Licht emporgearbeitet haben. Treffen ſie es nicht an, wie im Keller keimende Kartoffeln, ſo entſenden ſie dünne,
(Nach Strasburger, Noll, Schenck und Schimper.)
farbloſe Triebe, die lang dahinkriechen, um vielleicht doch noch irgendwo die lebenſpendenden Strahlen zu erreichen. Im Dunkeln wird aber bereits entſtandenes Blattgrün auch wieder zerſtört, und ſolange es noch vorhanden iſt, aſſimiliert es nicht; im finſteren Winkel ſtehende Zimmerpflanzen verbleichen („Etiolment“ oder Vergeilung, Abb. 17). Die Dunkelheit wirkt als Reiz, der die dem Licht abgewandten Triebe ſtärker wach ſen heißt als die ihm zugewandten: ſo muß zwar, wenn jene größer werden als dieſe, eine Krümmung zum Licht (phototropiſche Krümmung, vgl. S. 67) ſtattfinden; aber das kann, wenn der Krümmungszweck nicht ſchließlich erreicht und genügende Belichtung gefunden wird, nur unter Raubbau
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an lebender Subſtanz vonftatten gehen, denn im Dunkeln wird ja feine neue Pflanzenſubſtanz gebildet. Anſere biologiſche Antwort auf die Frage, warum die grüne Pflanze nur bei Licht aſſimiliert, findet ihre tiefere Begründung in dem ſchon erwähnten Verhalten mancher Bak— terien, die ebenfalls Kohlenſäure ſpalten, obwohl ſie kein Chlorophyll beſitzen. Entweder aber beſitzen ſie einen anderen, gleichwertigen Farb— ſtoff (Purpurbakterien), — und dann bedürfen ſie geradeſogut des Lichtes, ſind denn auch in hohem Grade poſitiv phototaktiſch; oder ſie beſitzen keinen ſolchen Farbſtoff und ſpalten die Kohlenſäure auch im Finſtern, — dann bedienen fie ſich hierzu einer anderen Kraftquelle, fo der Oxydation von Stickſtoff und ſtickſtoffhältigen Verbindungen, die Schwefelbakterien der Oxydation des Schwefels und ſchwefelhältiger Verbindungen.
Die energetiſche Antwort darauf, weshalb Blattgrün nur im Sonnenlicht arbeitet, iſt durch die im vorausgehenden Satze eigentlich ſchon vorweg genommene Erklärung zu geben, wie das Licht als Kraft— quelle verwertet wird, um die bei Zerlegung der Kohlenſäure in Kohlen— ſtoff und Sauerſtoff nötige Arbeit zu leiſten. Die Schwingungen des Sonnenäthers repräſentieren eine lebendige Kraft (Bewegungs- oder aktuelle Energie), die durch den analytiſchen Zerlegungsvorgang in Spannkraft (Lage- oder potentielle Energie) umgewandelt, und wobei deren Wärme (molekulare Bewegung) ebenfalls gebunden wird: endo— thermiſcher Prozeß. Diejenige Arbeit dagegen, die nötig iſt, um bei der Atmung den Sauerſtoff auf ſynthetiſchem Wege wieder mit dem Kohlenſtoff zu Kohlenſäure zu vereinigen, verwandelt aufgeſpeicherte Spannkräfte in Bewegungskräfte zurück und gibt Wärme frei: exo— thermiſcher Prozeß. Die mit Wärmeproduktion und Diſſimilationen einhergehenden Erregungs-, Bewegungs- und Wachstumsvorgänge der Lebeweſen ſind exothermiſcher Beſchaffenheit und beherrſchen den vor— wiegend analytiſchen Lebensprozeß der Tiere; die mit Wärmebindung und Aſſimilationen einhergehenden Lebensprozeſſe der Pflanzen dagegen ſind vorwiegend ſynthetiſch und endothermiſch. So bildet die Pflanzen— decke der Erde und die ſie beſiedelnde Tierwelt zuſammen eine einzige, die größte Lebensgemeinſchaft: es tritt jenes Moment ins Spiel, das wir als gegenſeitige Hilfe bezeichnen und neben ſeinem Widerſpiel, dem Kampf ums Daſein, als Quelle aller Mannigfaltigkeit der organiſchen Erſcheinungen, als Arſache der wunderbaren Entwicklungshöhe erkennen, die von den Organismen bis heute erreicht worden iſt.
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Winterſtein, H, „Handbuch der vergleichenden Phyſiologie“. Jena, G. Fiſcher, 1914.
(Vgl. auch die Schriften von Bechhold, Grafe, Krompecher, Neu—
meiſter und Pauli im ll. Kap. über „Leben und Tod“, von Pfeffer
im III. Kap. über „Reizbarkeit“, von Friedenthal und Rubner im
VI. Kap. über „Wachstum“, von Biedl im VII. Kap. über „Entwicklung“,
von Joſt, Kammerer (Arſprung) und Loeb im VIII. Kap. über „Zeugung
und Vermehrung“, von Hatſchek im IX. Kap. über „Vererbung“, von
Graff, Kammerer Genoſſenſchaften), Nuttal und Pringsheim im
X. Kap. über „Abſtammung“.)
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Rt ne
VI. Wachstum (Ontogeneſe)
1. Normale Größenzunahme
In ſeinen Vorleſungen über „Allgemeine Biologie“ ſagt Hatſchek ungefähr folgendes: Es iſt vielleicht ein Phänomen als das eigentliche Grundphänomen, als Ausgangspunkt aller anderen Lebensphänomene zu bezeichnen: das Aſſimilationswachstum, — die Aufnahme fremder Subſtanzen, die der lebendigen Subſtanz bis dahin nicht an— gehörten, und ihre Einfügung in den eigenen molekularen Bau. Das Molekül des Nahrungsſtoffes wird verändert, — ſeine Atome erfahren eine derartig neue Anordnung, daß daraus neue lebendige Moleküle werden; aber auch das Molekül des Lebensſtoffes wird verändert, nach dem univerſalen Geſetze, daß jede Aktion von entſprechender Reaktion begleitet ſein muß, — nur iſt die Veränderung des Nahrungsmoleküles dauernd, die des Biomoleküles kehrt in rhythmiſcher Folge zum Anfangs— zuſtand zurück. An der lebenden Subſtanz ſind ja noch andere Prozeſſe, alſo noch andere an ihr ablaufende Veränderungen zu beobachten; die allererſten Organismen jedoch beſaßen vielleicht einzig den grundlegen— den Prozeß des Aſſimilationswachstums, wovon die übrigen Lebens— erſcheinungen nur Ableitungen und Komplikationen wären.
Bezeichnen wir ein wachſendes, aſſimilierendes Molekül der leben— den Subſtanz mit DM, und zwar ſeinen Zuſtand bei Beginn der Bes obachtung mit DM,; ein Nahrungsmolekül mit aM, — fo können wir den Wachstumsvorgang durch folgende Formel verſinnlichen:
bM. T aM = bM, bM, — aM = bM,
bM,,taM=bM, bM. = 2bM..
Das anfängliche Biomolekül DM, wächſt und verändert ſich durch Ver: bindung mit dem Nahrungsmolekül immer mehr, es entſtehen daraus die Biomoleküle bMe, DM, uſw., endlich DM,„, welches die doppelte Anzahl von Atomen enthält wie DM, und nach Erreichung dieſer Ver— dopplung in zwei Moleküle des Ausgangsproduktes bM, zerfällt. Doch bedarf die Endgleichung einer Korrektur: ehe die dem Zerfall des Bio— molefüls notwendig voraufgegangene Verdopplung eintritt, muß das Molekül etwas mehr geleiſtet haben als den Zuwachs aufs Zweifache; damit es nämlich dieſe Arbeit leiſten konnte, mußte es einen Teil ſeiner Subſtanz orydieren, und dieſes Diſſimilationsprodukt (d) iſt derjenigen
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Seite der Gleichung noch hinzuzufügen, wo die Geſamtleiſtung des auf doppelten Umfang herangewachſenen Moleküles DM, erſcheint:
bMa = 2 bMñ. +d.
Das Grundphänomen des Lebens, das Aſſimilationswachstum, beſtünde danach in einer rhythmiſchen Veränderung des molekularen Zuſtandes der Lebensſubſtanz; einer Veränderung, die mit Bindung von Nahrung und Verdopplung der Molekülgröße einhergeht, welch letztere von Ver— dopplung der Molekülzahl gefolgt iſt. Bei jeder Spaltung des Moleküls wird ihm ein Teil ſeiner Subſtanz als Orydationsprodukt entfremdet. In dieſer Vorſtellung des molekularen Wachstumsvorganges iſt der Eigentümlichkeit Rechnung getragen, daß die lebende Subſtanz nicht von ſtetig gleicher Beſchaffenheit, ſondern im Gegenteile fortwährender Veränderung unterworfen iſt; jedoch unbeſchadet einer Kontinuität, die unter gleichbleibenden Bedingungen eine ſtändige Rückkehr zum Anfangs— zuſtande gewährleiſtet.
Dieſe theoretiſche Erklärung Hatſcheks vom Aſſimilations- und Wachstumsvorgang, die unſer gegenwärtiges Kapitel aufs engſte mit dem vorigen verknüpft, findet ihre gute Begründung in unſerer Er— fahrung über die Zellteilungsphänomene: das Heranwachſen einer Zelle, bis ſie doßpelt ſo groß iſt als gleich nach der vorigen Teilung, und dann ihre abermalige Teilung mit nochmaligem Wachstum bis zur Teilungsgröße ſpiegelt genau jenen Vorgang wieder, den man von den kleinſten lebenstätigen Komponenten der lebenden Zelle, den Biomole— külen, annehmen muß; und ebenſo finden ſich, wie vorausgeſchickt ſein mag, am vielzellig zuſammengeſetzten Lebeweſen Wachstumsprozeſſe, die wieder eine gehäufte Wiederholung ihrer elementaren Bauſteine, der Zellen, darſtellen. Das Wachstum, mag es ſich an einem Vielzeller, Einzeller oder molekularen Zellbruchſtück vollziehen, bietet ſtets das Bild einer fortſchreitenden Veränderung (Entwicklung, Differenzierung), einer ſchließlich gewonnenen Verdopplung und damit Rückkehr zum Arſprungszuſtand, der zugleich Ausgangszuſtand iſt für eine Erneuerung des Zyklus.
Daß die Zellſubſtanz, um damit zu beginnen, zwiſchen zwei Teilungen (während eines Teilungsintervalles) nicht etwa gleichbleibt und nur an gleichförmiger Maſſe gewinnt, geht aus unſerer gegen— wärtigen Kenntnis von den Arſachen der Teilungserſcheinungen unzweifelhaft hervor. Wir wiſſen, daß ſich in der Nähe des „Zentral— körperchens“ (S. 36) ein verhältnismäßig dünnflüſſiges Plasma („En— chylemma“) anſammelt, welches vom übrigen Zelleib ausgeſchieden wird; unter dem Einfluß des Flüſſigkeitsentzuges färbt ſich dieſe Region dunkler, und zahlreiche Körnchen treten darin auf. Ferner kennen wir ſtoffliche Anterſchiede von Zelleib und Zellkern: das ſtoffliche Gleich— gewicht (R. Hertwigs „Kern-Plasma-Relation“) zwiſchen dieſen beiden Hauptbeſtandteilen der Zelle verändert ſich nun aber im Teilungs— intervall: die Oberfläche des Kernes, woſelbſt er mit dem Zelleib in 116
Verkehr ſteht, vergrößert ſich bloß in der zweiten, die Maſſe des Zell- plasmas in der dritten Potenz: die Möglichkeit wechſelſeitigen Stoff— austauſches wird dadurch für den Kern ungünſtiger, es kommt zur „Kern-Plasma-Spannung“ GHertwig), bis durch Teilung die normale Kernplasmarelation wieder hergeſtellt iſt. — Auf Grund von Verſuchen an unorganiſchen Modellen (Oltropfen in Seifenhülle) ſpricht Robertſon die Vermutung aus, daß in der Zelle bei Bildung der Kernſubſtanzen Cholinſeifen entſtehen, die vom Aquator gegen die Pole ſtrömen, wo— durch in der Aquatorialgegend eine Erniedrigung der Oberflächen— ſpannung Platz greift, die zum Einſchneiden der Teilungsebene führt. Blieb zwar dieſe beſondere Erklärung des Teilungsmechanismus nicht unwiderſprochen, ſo darf doch ein allen Wahrnehmungen gemeinſames Ergebnis feſtſtehen: dem ſchließlichen Verluſt der die Zelle zuſammen— haltenden Kräfte gehen chemiſche Veränderungen voraus. Demgegen— über müſſen rein phyſikaliſche Erklärungsverſuche, wie der Vergleich der Zeilungsfiguren mit elektriſchen und magnetiſchen Kraftfeldern (die aber ungleichpolig, während die Teilungsbewegung gleichpolig iſt), durchaus verſagen. — —
Die Arweſen, welche nur aus einer Zelle beſtehen und ſich durch deren Teilung fortpflanzen, beſchränken ihr Wachstum darauf, von jeder Teilung bis zur nächſten die Größe jener einzigen Leibeszelle auf das. anfängliche Maß zu erhöhen bzw. zurückzubringen, oder — was aufs ſelbe herauskommt — die ihnen unmittelbar nach einer Teilung ver— bliebene Maſſe zu verdoppeln. Die Tochterzellen wachſen ſo lange, bis ſie ebenſo groß geworden ſind wie die Mutterzelle, da dieſe ſich teilte; nun teilen jene ſich ſelbſt, und die Enkelzellen wachſen zur Urſprungs— größe heran uſw. Das Körperwachstum iſt alſo hier nur Zellen— wachstum, die Endgröße der einzelnen Zelle bleibt gleich. Dies wurde nicht bloß ſeit jeher ſchätzungsweiſe, ſondern durch genaue Meſſungen an Aufgußtierchen (Frontonia, Paramaecium) und Kreidetierchen (Trilo- culina uſw.) beſtätigt (Regel der „fixen Zellgröße“). — Würde man nach einer Reihe von Teilungen die aus einer Anfangszelle ent— ſtandene Artierchenbevölkerung einfangen, ihr gemeinſames Volumen und Gewicht beſtimmen, ſo müßte das Reſultat ein Vielfaches der Stamm— zelle ſein, das durch die Zahl inzwiſchen abſolvierter Teilungsſchritte beſtimmt wäre: Rauminhalt und Gewicht betragen nach der 1. Teilung das Doppelte, nach der 2. Teilung das Vierfache, nach der dritten das Acht⸗, nach der vierten das Sechszehnfache des Anfangsvolumens und Gewichtes. Weiter iſt folgendes leicht einzuſehen: wenn alle Zell— individuen der Arweſenpopulation gleichviel Nahrung haben und auch ſonſt unter gleichen Bedingungen leben, die ihnen geſtatten, das Nahrungsquantum auch gleichgut zu aſſimilieren, ſo iſt kein Grund vorhanden, weshalb nicht der Moment, da ſich die Teilung vollzieht, bei allen gleichzeitig eintreten ſollte, mögen ſie ſich inzwiſchen noch ſo weit voneinander entfernt haben (Regel der „ſynchronen Zell— teilung ).
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Dieſe relativ einfachen Verhältniſſe find faſt uneingeſchränkt auf das Wachstum der vielzelligen Lebeweſen übertragbar. Sie beginnen ihr Daſein gleich einer Arweſenbevölkerung mit einer einzigen Zelle (Stamm- oder Keimzelle); unterſcheiden ſich aber dann von den Ein— zellern hauptſächlich dadurch, daß die ſich teilenden Zellen nicht aus— einanderweichen und als felbjtändige Zellindividuen einſam weiterleben, ſondern trotz Durchſchnürung bleiben ſie aneinander haften, — die Teilung (Zer ſchneidung) wird zur bloßen „Furchung“ (Ein ſchneidung) des ſich entwickelnden Vielzellerkeimes. Die Forderung ſtreng gleich— mäßiger Bedingungen, die erfüllt ſein müſſen, wenn die Teilungsſchritte überall gleichzeitig erfolgen ſollen, erſcheint wenigſtens in den erſten Furchungsſtadien auf faſt ideale Weiſe befriedigt: denn wo ſollten ſie beſſer ausgeglichen ſein, als im engen Rahmen eines gegen die Außen— welt abgeſchloſſenen Eies? So wird denn auch aus dem Zweizellen— ſtadium mit einem Schlage das Vierzellenſtadium, aus dieſem augen— blicks das Acht-, Sechzehn- und Zweiunddreißigzellenſtadium, — ein Verhalten, das fürs Verſtehen der meſſenden Ergebniſſe über Wachstum von größter Bedeutung iſt.
Wir entnehmen ſchon dem jetzt Geſagten, daß das Wachstum des Vielzellers zu keiner Zeit ſo zuſtande kommt, daß jede der ihn zuſammen— ſetzenden Zellen für ſich weiterwächſt; die Größenzunahme des vielzelligen Organismus beruht nicht nur auf Zellenwachstum, ſondern auf Zellvermehrung. Dabei wird die Regel der fixen Zellgröße auf folgende Art modifiziert, im Endreſultat aber doch befolgt: die Furchungs— zellen, ja ſelbſt Zellen embryonaler Gewebe nach demjenigen Entwicklungs— abſchnitt, den man im engeren Sinne die „Furchung“ nennt (vgl. das nächſte Kapitel, „Entwicklung“, S. 144), bleiben zunächſt kleiner als die Eizelle, die den Ausgang der Entwicklung bildete. Ein Maulbeer-, Blaſen- oder Becherſtadium (S. 146), worin vielleicht 5 bis 8 Teilungs— ſchritte vollendet, die Zellen demgemäß auf 32 bis 256 angewachſen ſind, erſcheint noch immer kaum größer als das ungefurchte Ei und iſt oft genug noch in derſelben Hülle eingeſchloſſen. Erſt nach Sprengung der Eihülle dehnt ſich jede Zelle, bis ſie ebenſo groß geworden iſt, wie die entſprechende Zelle im Körper des Mutterorganismus geweſen war. Damit iſt nicht geſagt, daß jede Zelle jetzt nachträglich mit der Eizelle und daß überhaupt alle Körperzellen untereinander übereinſtimmen; nur inſoferne ergibt ſich eine fixe Zellgröße, als gleichartige Zellen gleicher Stadien bei verſchiedenen Exemplaren derſelben Art wirklich gleichgroß ſind. So iſt die Länge der roten Blutzellen beim Grasfroſch durchaus konſtant (Pearſon), der Linſenfaſern großer und kleiner Hunde kaum verſchieden (Rabl), die Zellen in der Zungenſchleimhaut eines Rieſen nicht größer als bei normal gewachſenen Menſchen (Boveri). — Zwiſchen ungleichartigen Zellen, alſo ſolchen, die verſchiedenen Geweben angehören, ergeben ſich dagegen beträchtliche Größendifferenzen. Man muß hier in Rechnung ziehen, daß das Wachstum nicht reine, gleichmäßige Größen— zunahme, ſondern zugleich Entwicklung mit Arbeitsteilung (Differenzierung) 118
—
iſt; ſonſt wäre ja jeder Organismus nur ein regelloſer Klumpen von Zellen und kein planvoller Bau von Geweben, die ſich wechſelſeitig er— gänzen. So ſind die weiblichen Keim- und die Ganglienzellen bedeutend größer, die männlichen Keimzellen und die Hautzellen kleiner als viele andere Zellgattungen. Aberragende Zellgröße ſtellt ſich namentlich bei ſolchen ein, die ſich nach vollendeter Differenzierung nicht mehr weiter teilen, wohl aber für ſich noch weiter wachſen, in beſtimmter Proportion zum Geſamtkörper: je größer eine Art, deſto größer werden ihre Eier und Ganglienzellen. Das entſprechend Amgekehrte gilt von untergeordneten Zellgrößen: ſie ſind die Folge dauernd beibehaltener Teilungen oder eines raſcheren Teilungstempos; je kleiner eine Art, deſto kleiner ihre Samen- und Hautzellen. Sehr große Zellen laſſen aber bei alledem ſchon für unſere Beobachtungsmittel erkennen, daß der Satz von der firen Zellgröße auch nur approrimativ genommen werden darf: Eier (3. B. Hühnereier, wie jedermann weiß) zeigen ſchon dem unbewaffneten Auge ihre variable Größe; und es ſteht feſt, daß ungleich große Eier, ebenſo Pflanzenſamenknoſpen, ſpäter entſprechend ungleich große Tiere und Pflanzen zu liefern geneigt ſind.
Im gegenwärtigen Kapitel betrachten wir das Wachstum nur vom Standpunkt der Größenſchwankung; überlaſſen es dem folgenden, über die damit einhergehenden Entwicklungs- und Differenzierungs— vorgänge zu unterrichten. Die brauchbarſten Objekte für Wachstums— unterſuchungen ſind ſolche Lebeweſen, die ihre feſten, nicht mehr lebens— tätigen Beſtandteile (verhornte Oberhaut, äußere Skelette) regelmäßig abwerfen, ſobald ſie ihnen zu eng geworden. Hier hat ſich in mehreren Fällen herausgeſtellt, daß von einer ſolchen „Häutung“ zur anderen das Gewicht ſich verdoppelt und eine beſtimmte Längendimenſion ſich um 1,26, bezogen auf die beim vorigen Stadium gemeſſene Strecke, vergrößert. Dieſe Zahl iſt die Kubikwurzel aus 2; das Ergebnis beſagt daher, daß bei Mitberückſichtigung der Breiten- und Höhendimenſion und Berechnung des Volumens auch der Rauminhalt des gemeſſenen
Teiles ſich von Häutung zu Häutung als verdoppelt kundgibt. Auch die abgeworfenen Häute ſind bei jeder folgenden Häutung doppelt ſo ſchwer als bei der vorangehenden, und ihre Längenzunahme entſpricht der dritten Wurzel aus 2. Daraus läßt ſich ſchließen, daß in ſolch ideal regelmäßigen Fällen (3. B. Fangheuſchrecke nach Przibram-Meguſar) der Hautabwurf allemal erfolgt, ſobald ungefähr jede Zelle des ganzen Körpers wieder auf ihr Maximalmaß herangewachſen iſt und ſich ein— mal geteilt hat. Danach wäre die Gleichzeitigkeit der Teilungen bei ſpäteren Wachstumsſtadien des Vielzellers wenigſtens inſoweit erhalten geblieben, als ſämtliche Teilungen mit gewiſſen Ausnahmen (Ganglien nach Sztern) innerhalb eines beſtimmt begrenzten Wachstumsintervalles ſtattfinden müſſen, worauf faſt ſämtliche Zellen auf eine Weile wieder in den Ruheſtand zurückkehren.
Wenn irgendwo, ſo darf hier behauptet werden, die Ausnahmen beſtätigen die Regel. Es kommt vor, daß eine Häutung unter—
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bleibt: dann verläßt das Exemplar die nächſte Häutung mit vervier- fachtem Gewicht und Volumen. Was bei Inſekten mit „unvollkommener Verwandlung“ (ohne Puppenruhe) nur individuelle Abweichung iſt, wird bei Inſekten mit „vollkommener Verwandlung“ (mit Puppen— ſtadium) zum Geſetz: die Zahl der Häutungen iſt beſchränkt, und die Zunahmen erfolgen nun in Potenzen von 2; beiſpielsweiſe beim Maul— beerſpinner vom Ausſchlüpfen der Raupe aus dem Ei bis zum Aus— kriechen des Schmetterlings aus dem Puppenkokon in der 4., 3., 2. 2. und 1. Potenz, ſo daß von der erſten Häutung zur nächſten von jeder Zelle 4 Teilungsſchritte, bis zur nächſtfolgenden 3 Schritte uſw. zurück— gelegt wurden, was der gleichen Häutungszahl bei Fangheuſchrecken entſpräche (nach Luciani und Lo Monaco berechnet von Przibram).
Andere ſcheinbare Ausnahmen klären ſich dadurch auf, daß die Dimenſionen eines gemeſſenen Körperteiles ungleich— mäßig zunehmen, z. B. die Breite ſtärker als die Länge; dann wird natürlich bei ausſchließlicher Berückſichtigung der Länge eine kleinere, der Breite eine größere Zahl herauskommen als 1,26. So bei Ver— wandlung der hochrückigen Krabbenlarve (Zo&a) in die fertige, flach— rückige Krabbe für die Panzerlänge 1,20, für die Breite 1,31. — Nicht nur, wenn ein und derſelbe Körperteil in ſeinen Raumdimenſionen un— proportional zunimmt, ſondern auch, wenn verſchiedene Körper— teile ungleichmäßig wachſen, bleibt dies nicht ohne Einfluß auf die Meſſung; ſogar wenn dieſe ſich auf ganz entfernte Teile bezieht. So wird beim Hummer von einem beſtimmten Stadium an die eine (Knoten- oder Knackſchere, S. 90 und S. 131) bedeutend größer als die andere (Zähnchen- oder Zwickſchere): in dieſer Periode beträgt der Geſamtzuwachs nur 1,13; der des unbeweglichen Knackſcherengliedes 1,37, — der des entſprechenden Zwickſcherengliedes 1,22 (Herrick). Dies Er— gebnis mag gleich als Vorausnahme der Tatſache gelten, daß mit Ver— folgung des Geſamtkörperwachstums allein wenig gewonnen iſt; denn jedes Organ hat nebenbei ſein eigenes Wachstum (Gellicott), gleichwie auch jede Zelle und jedes Biomolekül ſelbſtändig wächſt: im zuſammen— geſetzten Organismus ſtehen alle dieſe, bis zu einem gewiſſen Grad ſogar voneinander unabhängigen Teilzunahmen, wie das Beiſpiel des Hummers zeigte, auch wieder in gegenſeitigem Konnex und unter wechſel— ſeitigem Einfluß.
Lebeweſen, die ihre harten, toten Stützſubſtanzen nicht abwerfen, ſondern im Wachstumsverlauf als „Ballaſt“ anhäufen, müſſen die Gewichtsverdopplung früher erreichen als die Verdopplung der Zellen— zahl. Auch für den Waſſergehalt der Gewebe, der beim Wachstum ſtark beteiligt iſt, bleibt Anweſenheit nicht mehr ſelbſtlebender Abſonderungs— produkte („Apoplasmen“) keineswegs gleichgültig: im allgemeinen iſt der Waſſergehalt etwa ebenſo konſtant wie die Zellgröße; er iſt direkt pro— portional der Plasmamenge, geht daher der Plasmazunahme parallel. Daraus ergibt ſich, daß Bereicherung der Trockenſubſtanz bei Anhäufung feſten Ballaſts eine Abnahme, nach feinem Abwurf eine Zunahme des 120
Waſſergehaltes vortäuſchen muß: tatſächlich trifft erſteres z. B. beim Hühnerembryo und Froſch (Kaulquappen 90%, verwandelte Fröſche 77 % Waſſer), letzteres bei Krabben zu, während Waſſergehalt und kohlenſtofffreie Aſche inmitten der Häutungsperioden bei Seidenſpinner— raupen durchweg faſt gleich waren.
2. Vor- und rückſchreitendes Wachstum (Evolution und Involution)
Die zu Eingang dieſes Kapitels gegebene Formel für Wachstums— aſſimilation bMu =2 bM,+d, wo bM, ein Biomolekül zu Anfang des Aſſimilationsprozeſſes, bMn ein Biomolekül nach Aufnahme von n Nahrungsmolekülen und Verdopplung der Anfangsgröße, d das Diſſimilationsprodukt darſtellen, — dieſe Formel ließ bereits erkennen, daß ein mit Größenzunahme einhergehendes Wachstum mehr leiſten muß als bloßes An- und Einfügen lebendiger Subſtanz; es muß näm— lich außerdem immer für die inzwiſchen zerfallene Subſtanz Erſatz leiſten. Beim Wachstum einer Zelle bedeutet es Erſatz zu— grunde gegangener Zellſtoffe und Zellfragmente; beim Wachstum eines vielzelligen Organismus bedeutet es das Zugrundegehen ganzer Zellen und Zellkomplexe, von denen wir ja wiſſen, daß fie eine ſehr begrenzte Lebensdauer haben, die nur einen geringen Bruchteil der Dauer beträgt, während welcher der ganze Organismus am Leben bleibt. Der fort— währende Abbau bringt es mit ſich, daß nach einiger Zeit die geſamte Maſſe, woraus ein Lebeweſen beſteht, ausgetauſcht iſt: das Keimmaterial, womit es fein Daſein begann, iſt gar bald durch Material erſetzt, das während des individuellen Lebens aſſimiliert wurde; und wir haben guten Grund zur Annahme, daß dies bei langlebigen Organismen zwiſchen Geburt und Tod viele Male geſchieht. Denjenigen Anteil des Wachstums, der im Wiederaufbau verbrauchter Plasmen beſteht, nennt man Erſatzwachstum oder Regeneration.
In einem ſtetig wachſenden Gewebe merken wir nicht viel von dieſem Prozeß: der Erſatz ſterbender Zellen und Zellelemente vollzieht ſich unmerklich. Auch einem Organ oder Körper, der ſeine Größen— zunahme eingeſtellt hat, iſt nicht ohne weiteres anzuſehen, ob der Wachs— tumsprozeß nahezu aufgehört (6. B. Gehirn des erwachſenen Menſchen) oder ob er ſich nur fo weit verlangſamt hat, daß der Erſatz dem Ver— luſt gerade entſpricht. Ein deutliches Bild ſtattfindenden Zerfalles ge— winnt man erſt, wenn das Wachstumtempo noch weiter herabgeſetzt iſt, ſo daß weniger Zellen neu entſtehen als zugrunde gehen. Es kommt dann zu rückläufigem Wachstum mit Größenabnahme (Involution), das noch keineswegs auf Stillſtand der Zellteilungen zu beruhen braucht, ſondern ſich vom fortſchreitenden Wachstum mit Größenzunahme (Evolution) zunächſt nur durch deren paſſive Bilanz unterſcheidet. Der— artige Zuſtände treten bei normaler Abnahme der zellulären Lebens— und Teilungsfähigkeit ein (Alters- oder ſenile Involution); aber
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auch unter abnorm ungünftigen Bedingungen, wie ſie befonders von Krankheiten (pathologiſche unddegenerative Involution) ſowie von äußeren Faktoren geliefert werden, die dann in durchaus unſpezifi— ſcher Weiſe das Kleinerwerden beherrſchen: beiſpielsweiſe gibt es ſowohl eine Hitze- als eine Kälteinvolution. Oft iſt es nicht unmittelbar der klimatiſche Faktor, der bei proviſoriſchem oder definitivem Aberleben des geſamten Zellkomplexes ein häufigeres Zugrundegehen von Zellen und als äußerlich ſichtbare Folge davon eine Körperverkleinerung be— dingt; ſondern die äußeren Verhältniſſe geſtatten dem Organismus nur nicht, ſich ausreichend mit Nahrung zu verſorgen. Iſt der Größen— rückgang ſonſt ein paſſiver Vorgang, darin beſtehend, daß mehr Zellen abſterben, als neu gebildet werden können, ſo wird jene Hunger— in volution inſofern aktiv, als widerſtandsfähige Zellgruppen die weniger widerſtandsfähigen aufzehren und dadurch vorläufig, bei recht— zeitigem Amſchwung in beſſere Verhältniſſe auch bleibend überleben. Das rückläufige Wachstum geht dann mit Einſchmelzung (Re— duktion) der Gewebe vor ſich und bietet nun erſt volle Amkehrung des vorwärts laufenden Wachstums; denn dieſes iſt von unaufhörlich geſteigerter Mannigfaltigkeit begleitet, ſo daß nicht bloß immer mehr, ſondern auch immer mehrerlei Zellen entſtehen, — und jenes vollzieht ſich mit abnehmender Vielheit nicht bloß der Zellenzahl, ſondern auch der Zellengattungen, bis vielleicht nur ganz wenige, wieder gleich— gewordene übrigbleiben.
So weit gehen die Reduktionen begreiflicherweiſe nur bei ganz plaſtiſchen niederen Organismen: Eugen Schultz ſtudierte ſie an See— ſcheiden (Clavellina), Würmern (Planaria) und dem Süßwaſſerpolypen (Hydra), Hadzi an Meerespolypen, wobei ſich zeigte, daß ſpeziell die Polypen ihren in Fußſcheibe, Stiel, Magenraum, Mundkegel und Fangarme gegliederten Körper ſo weit einzuſchmelzen vermögen, daß ſie faſt wieder ihrem eigenen Ei gleichkommen. Immerhin beobachtete ich auch an einem Wirbeltier, dem Grottenolm (Proteus), bei Hunger eine Verkleinerung um etliche Zentimeter unter Wahrung der Körperpro— portionen. And lokaliſierte Einſchmelzungen (Reſorptionen), z. B. der Kiemen bei Totalübergang zur Lungenatmung, des Quappen— ſchwanzes bei Verwandlung des Froſches, gehören bis ganz hinauf im Tierreich zu den gewöhnlichſten Begleiterſcheinungen der Ontogeneſe. Ahnliches gilt fürs Pflanzenreich, wo ein ganz oder halbwegs propor— tioniertes Kleinbleiben oder Kleinwerden (Zwergwuchs, Nanismus) als Folge ungenügender Nahrung wie (indirekt) ungenügenden Raumes überaus häufig beobachtet wird.
3. Erſatzwachstum (Regeneration)
a) Normale oder phyſiologiſche Regeneration
Am greifbarſten wird dem Beobachter das Wechſelſpiel von Zerfall und Erſatz in Geweben, deren Wachstum ſprunghaft, diskontinuierlich 122
iſt, ſo daß ein gewiſſer Stillſtand von einem um ſo plötzlicheren Ruck nach vorwärts gefolgt wird. Das iſt vor allem bei den ſchon erwähnten „Häutungen“ der Fall. Bereits auf der unbehaarten Säugerhaut (auch der menſchlichen) ſtoßen ſich die verhornten Oberhautteilchen in Form winziger weißer Schüppchen ab, die namentlich beim Baden entfernt werden; da das Abſchuppen ununterbrochen geſchieht, fällt es nur auf, wenn das Abſcheuern durch irgendein Hindernis (Behaarung) verzögert wird. Anderſeits wird an ſolchen Hautpartien der Stoffwechſel— prozeß wieder dadurch deutlicher, daß der Hautwechſel mit Haarwechſel („Haarung“), bei den Vögeln mit Federwechſel („Mauſer“), bei den Reptilien mit Schuppenwechſel („Häutung“ im engeren Sinne) einher— geht. Bei den Warmblütlern iſt die Erneuerung ausgedehnter Hautpartien und deren Abwerfen ein krankhaftes Ereignis, bei wechſelwarmen Wirbel— tieren und ſehr vielen Wirbelloſen iſt ſie normal, ja ein Abſtreifen der abgenutzten Hautſchicht in einem . unzerriſſenen, nur an wenig Stellen zum Zwecke des Aus-der-Haut-Fahrens aufgeſprungenen Stück recht häufig (Schleichen, Schlangen — „Natternhemd“ —, Lurche, Schlammbeißer unter den Fiſchen, Inſektenlarven und andere Glieder— tiere, Würmer, Seeanemonen). Die abgeworfenen Panzer der Krebſe und Schmetterlingspuppen (S. 161, Abb. 38 links oben) laſſen den klaffenden Spalt, wo ihre ehemaligen Träger herauskrochen, jo wenig erkennen, daß man ein ganzes totes Tier vor ſich zu haben glaubt. Manche Tiere freſſen ihre Haut ſofort nach dem Abſtreifen (Gecko— eidechſen, Amphibien, Grillen), was zur Geſunderhaltung des Stoff— wechſels, aber auch der Vernichtung von Spuren, wodurch Feinde auf ihre Beute aufmerkſam würden, zu dienen ſcheint.
Den Häutungen vergleichbare, unterbrochen ruckweiſe Wachstums— vorgänge geben ſich ferner im Zahnwechſel (einmal beim Menſchen, je nach Bedarf öfter bei vielen anderen Säugetieren und Reptilien) und im periodiſchen Geweihwechſel der Hirſche ſowie in regelmäßiger Erneuerung der Gebärmutterſchleimhaut bei Säugetieren (Menſtrua- tion) zu erkennen. Bei Pflanzen haben wir etwas Ahnliches im Laub- und Blütenabwurf ſowie demjenigen von Knoſpenſchuppen und im Abblättern ihrer Borke. In großen Stücken ſchält ſich letztere bei der Platane, und die Pappel begnügt ſich nicht damit, ihre Blätter zu wechſeln, ſondern läßt ganze Aſte abfallen; Alme, Linde, Hain: und Rotbuche uſw. werfen Zweigſpitzen ab (ſogenannte „Abſprünge“). — Was den Zahnwechſel betrifft, ſo iſt er nicht immer von diskontinuier— licher Beſchaffenheit: bei N tagetieren fallen die Vorderzähne normaler: weiſe nicht aus, ſondern wachſen in dem Maße aus den Kiefern, als ſie an den Schneiden abgenützt werden, — ein Verhalten, das durch einſeitigen Schmelzbelag ermöglicht wird. Abereinſtimmend verläuft das Spitzenwachstum des Vogelſchnabels: wie kräftig der Nachſchub iſt, zeigt ſich hier wie dort beim Ausbleiben einer entſprechenden Abnützung, ſo bei ungeeigneter Haltung in Gefangenſchaft: es entſtehen dann mon— ſtrös lange Schnäbel (beſonders bei Papageien und Kreuzſchnäbeln)
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bzw. Nagezähne, die Schließlich zu korkzieherförmigem Mißwachs (Abb. 18) führen und das Tier am Schließen des Schnabels bzw. Mundes ver— hindern. — Der Erſatz findet aber auch ſtatt, wenn ein ſolcher Zahn— oder Schnabelteil, ftatt allmählich abgewetzt zu werden, durch einen An— glücksfall auf einmal abgebrochen wird: das kann bei jedem Kaninchen geſehen werden und iſt' unter den Vögeln bei Störchen, Hühnern, Enten und Gänſen beobachtet worden.
b) Akzidentelle Regeneration (Reftitution)
Die Fähigkeit, durch unglückliche Zufälle („akzidentell“) verlorene Körperteile zu erſetzen, iſt ebenſo wie der normale Verbrauchserſatz im Tier- und Pflanzenreich allgemein verbreitet. Ja, mit Rückſicht auf ihr Vorhandenſein bei Kriſtallen (S. 49, 50) konnte Przibram ſie mit
Abb. 18. Eichhörnchenkopf, links Kopfſkelett mit normalem Gebiß, rechts Kopf mit abnorm ſpiralförmig verlängertem oberen Schneidezahn. (Nach Pfurtſcheller.)
Recht als „allgemeine Eigenſchaft in den drei Reichen“ bezeichnen. Nur iſt das Erſatzvermögen in den verſchiedenen Gruppen der Lebe— weſen und auch an den verſchiedenen Körperteilen eines einzelnen Lebe— weſens ungleich abgeſtuft. Das Maß der Regenerationsfähigkeit wird beſtimmt durch die Wachstumsfähigkeit des Gewebes: da Regeneration ſelbſt Wachstum iſt, ſo kann ſie ſelbſtverſtändlich nur an Teilen ſtatt— finden, die noch im Wachstum begriffen oder ein bereits zum Stillſtand gekommenes Wachstum unter ſolch beſonderen Amſtänden wieder auf— zunehmen imſtande ſind. Wir wiſſen, daß ein endgültig ausgewachſener (teleometriſcher“) Zuſtand nur bei Tieren vorkommt, die auf hoher Differenzierungsſtufe ſtehen (Warmblütler, Inſekten). Alle anderen wachſen entweder, nachdem ſie die für ihre Art charakteriſtiſche Größe erlangten („idiometriſch“ wurden), zeitlebens in verlangſamtem Tempo fort: man findet dann gelegentlich Niefeneremplare, die dem Kampf ums Daſein glücklich entgangen waren (Krokodile, Schlangen, Kröten, Fiſche — bekannt bei Lachsforelle, Karpfen, Hecht, Wels, Stör); oder die Zunahme wird zwar arretiert, aber nur, weil Verbrauch und Erſatz 124
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von Zellen in genaues Gleichgewicht kamen. Zur Kategorie der lebens— lang weiterwachſenden Organismen gehören wohl (wenn man den Pflanzenſtock als Ganzes und nicht nur ſeine einzelnen Sproſſe ins Auge faßt) alle Pflanzen: das ſtets noch zunehmende Dicken- und Höhenwachstum vielhundertjähriger Bäume iſt ja geradezu volkstümlich geworden. Wir wiſſen endlich, daß ſelbſt Tiere, die einen enderwachſenen Zuſtand erreichen, einzelne wachstumsfähige Gewebe behalten, vor allem beiſpielsweiſe die Haut, die darin noch das erſt im Greiſenalter er— löſchende Wachstum des Keimepithels übertrifft.
Nach dieſer Zuſammenſtellung iſt ſofort begreiflich, daß die Re— generationsfähigkeit zunächſt einmal nach dem ſtammesgeſchichtlichen Alter graduiert iſt: eine je längere Stammesentwicklung die Art durchlaufen hat, deſto unvollkommener iſt ihr Re— generations vermögen. Das Säugetier erſetzt kaum mehr als Gewebsdefekte, die Regeneration kommt bei ihm über Wundheilung nicht hinaus; hierin iſt der Zahn-, Geweih-, Haar- und Nagelerſatz in— begriffen. Daß Haut und Hautprodukte dabei am regſten beteiligt ſind, Hautwunden am ausgedehnteſten, leichteſten und ſchnellſten heilen, iſt nach der wiederholt betonten Perſiſtenz des Hautwachstums und der verhältnismäßigen Anſpezialiſiertheit dieſes Organs — es dient ja als Schutzdecke, Sinnes-, Atmungs-, Ausſcheidungs- und Temperatur— regulierungswerkzeug — eine Selbſtverſtändlichkeit. Auch der Vogel leiſtet nichts, was weſentlich darüber hinausgeht, wenn man nicht im Erſatz anſehnlicher Schnabelpartien ſamt Knochen und hornigem Bezug ein ſolches Plus erblicken will. Entſchiedeneren Mehrleiſtungen be— gegnen wir beim Reptil, das den abgebrochenen Schwanz nachwachſen läßt; gut können es nur die Eidechſen, einigermaßen auch die Krokodile, während Schlangen und Schildkröten für ſolche Erforderniſſe ſchon wieder zu einſeitig ſpezialiſiert ſind. Merkwürdig iſt es, wie ſich das Erſatz— vermögen bisher auf Teile beſchränkt, die an der Längsachſe des Körpers gelegen ſind (Kiefer, Schwanz), wo eben durch bedeutendere Längen— ausdehnung ſtärkeres Wachstum dokumentiert iſt. Noch niedrigere Wirbeltiere aber erſetzen auch bereits an der Querachſe gelegene Teile und Gliedmaßen, — Froſchquappen (S. 135, Abb. 24) und Molche (S. 134, Abb. 23) außer Schwanz und Kiefer auch Beine; doch ſind die fertig entwickelten Fröſche für letzteres wiederum zu ſpezialiſiert. Die Fiſche regenerieren ſämtliche Floſſen, die Gliederfüßler (ſolange ſie häuten, alſo wachſen) ſämtliche Anhänge (Fühler, Freßwerkzeuge, Beine) ſowie einzelne Körperglieder vom Hinterende. Auch am Vorderende, mithin Teile des Kopfes, ja ſogar den ganzen Kopf ſamt Fühlern und Augen erſetzen die Schnecken, ebenſo die Schale und den „Fuß“, — Schale und Fuß auch die „kopfloſen“ Muſcheln. Aber die nach— wachſenden Teile ſind hier noch nirgends ſo groß, daß Halbierung des Tieres eine Entſtehung von zwei neuen Tieren zur Folge hätte.
Dieſes Stadium der Regenerationsfähigkeit iſt jedoch bei Würmern erreicht. Einen Regenwurm kann man mindeſtens in drei Stücke reißen:
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das vordere bildet nach hinten einen Schwanz, das mittlere desgleichen und nach vorne einen Kopf, das hintere ebenfalls nach vorne einen Kopf. Je weiter im Tierreich wir nach abwärts ſchreiten, deſto kleiner dürfen die Stücke ausfallen, die ſo durch Quer— teilung des Rumpfes gewonnen werden und immer noch vollſtändige Regenerate ergeben: bei Seeſternen genügt ein Arm, woran ein Stück— chen Mittelſcheibe hängt, — da die neu ſproſſenden Arme zunächſt kleiner bleiben, entſteht die von Haeckel beſchriebene „Kometenform“; bei Polypen kann jedes Fragment, nur ein Arm ohne Mundſcheiben— teil nicht, wohl aber ein dünnes Scheibchen aus dem Mittelkörper nach oben einen neuen Fangarmkranz, nach unten einen Stiel mit Fußſcheibe entwickeln. Die Arweſen endlich reſtituieren aus einem Bruchſtück die ganze Zelle, vorausgeſetzt, daß jenes auch ein Kernfragment enthält; kernloſe Bruchſtücke gehen zugrunde: nochmals ſieht man, wie das Re— generations- dem normalen Wachstum entſpricht, denn eine Regenera— tion kernhaltiger Zellſtücke iſt ja eigentlich auch die gewöhnliche Teilung.
Stammesgeſchichtliche Abſtufungen der Regenera— tionsfähigkeit laſſen ſich im Pflanzenreich ſcheinbar weniger verfolgen. Denn die „Gewächſe“ ſind ja (hier als Geſamt-„Individuen“ und nicht als Sproß-„Stöcke“ genommen, vgl. S. 235) fortwachſende Lebeweſen par excellence; ſo vieles von dem, was ein Tier durch Orts— bewegung leiſtet und wodurch gerade vielleicht dem Wachstum engere Grenzen geſteckt ſind, erledigt ſich bei den Pflanzen durch Wachstum. Folglich erforderlichenfalls in faſt unbeſchränktemſm Maße auch durch Regeneration: entgeht ein Tier ſeinem Feind, indem es ihm wegläuft, ſo überwindet die Pflanze den Angriff, indem ſie das Gefreſſene erſetzt. Der Weidenſteckling bietet ein klaſſiſches Beiſpiel dafür, wie aus kleinen Teilen wieder ein mächtiger Baum werden kann; bei Begonia bringt ſogar die Ausſtreuung winziger Blattfragmente eine Vermehrung ganzer Pflanzen hervor. Wenn wir indes den Begriff der Regeneration enger faſſen, als Reſtitution oder ſtrengen Erſatz des Verlorenen, ſo iſt die Erſcheinung in gewiſſer Beziehung bei Pflanzen auch wieder ſeltener als bei Tieren; und dann zeigt ſich ganz ſchön die ſtammesgeſchichtliche Abſtufung. Nur Lagerpflanzen (Thallophyten) nämlich, leiſten regel— mäßig einen genauen Erſatz desſelben Gebildes, und zwar von der Wund— fläche her; von Gefäßpflanzen (Cormophyten) tun es noch die Spitzen der Farnwedel, unter den Blütenpflanzen kommt es bei tiefſtehenden Nadelhölzern dazu (Mammutbäume Kaliforniens); ſonſt iſt faſt überall ein anderer Erſatzmodus eingeſchlagen, den man „adventive“ oder „in— direkte Regeneration“ nennen könnte, da er durch Erzeugung ſo— genannter „Adventivſproſſe“ (S. 133, Abb. 22) erfolgt: muſtern wir im Walde einen Baumſtrunk, ſo ſehen wir nie, daß ſein neues Wachstum von der Ebene aus erfolgt, wo er abgeholzt iſt, ſondern die neuen Triebe kommen ſeitlich hervor. Ein einzelner abgebrochener Aſt, ein abgefallenes Blatt wird ebenſowenig von der Wundfläche aus er— ſetzt, ſondern ſeine Entfernung gibt Anlaß und Möglichkeit, daß irgend— 126
wo in naher Nachbarſchaft ein neuer Zweig bervorbricht. Nur wenn die ganze Pflanze aus einem Blatt beſteht (Monophyllaea nach Figdor), das ſtändig an der Spitze abſtirbt, an der Baſis im ſelben Maße weiterwächſt, nur dann regeneriert dieſe wachſende Region direkt.
Iſt Regeneration nichts anderes, als eine Form des Wachstums, ſo iſt auch begreiflich, daß ſie des ferneren nach dem keimesgeſchicht— lichen Alter, nach dem individuellen Stadium abgeſtuft iſt: je jünger ein Organismus, deſto wachstums- und deſto regene— rationsfähiger iſt er. Es tut nicht not, dieſen Satz erſt noch zu be— weiſen, zumal uns die ungeheure Negulationsmacht der erſten Entwick— lungsſtufen (S. 150) noch beſchäftigen muß. Am ſchärfſten beſtätigt ſich feine Richtigkeit, wo nach Durchſchreitung gut regenerationsfähiger Larvenſtadien regenerationsunfähige Endftadien erreicht werden, wie bei Fröſchen und Inſekten. Die Abhängigkeit vom individuellen Alter gerät dadurch in Beziehung zur Abhängigkeit vom Stammesalter, daß bei der Keimesentwicklung die Stadien der Stammesentwicklung ab— gekürzt nochmals durchlaufen werden; dieſes „biogenetiſche Grundgeſetz“, das uns hier zum erſtenmal begegnet und noch wiederholt begegnen wird, äußert ſich auch inbezug auf die Regenerationskraft. Auf dem Stadium des Arweſens (als Keimzelle) regeneriert der Organismus aus kernhaltigen Zellbruchſtücken (vgl. S. 149) und leiſtet z. B. ſogar ein Säugetier die Wiederherſtellung des ganzen Körpers durch Millionen von Zellteilungen, weshalb man in ſolchem Sinne die Keimesentwicklung als Regeneration auffaſſen könnte, gleichwie umgekehrt die Regeneration eine Wiederaufnahme ſonſt embryonal erledigter Prozeſſe bedeutet. Noch bis zum Stadium, das der Organiſation eines Wurmes entſpricht, läßt ſich auch der höchſte Organismus zerteilen und gibt Anlaß zu Zwillings- und Mehrlingsbildungen (S. 131 u. 151); bis dann alle die weiteren Beſchränkungen auftreten, die den weiteren Entwicklungs— gang vom Wurm zum Wirbel- und Säugetier auch in regenerativer Beziehung wiederholen.
Noch in einer letzten Richtung iſt die regenerative Potenz ab— geſtuft: die beiden bisher beſprochenen Richtungen betrafen die Ent— wicklungshöhe des ganzen Organismus, der Arten und des Exemplars; die letzte betrifft die Entwicklungshöhe des Organes am oder im Or— ganismus, eines einzelnen Körperteiles. Auch hier gilt das verkehrte Verhältnis zur Entwicklungsſtufe: je höher, deſto ſchwieriger die Regene— ration; je einſeitiger und vollkommener ein Organ für ſeine beſondere Aufgabe eingerichtet iſt, deſto ſchlechter iſt es nach Verluſt zu erſetzen. Der beinahe ſprichwörtlich leichte Erſatz des Eidechſenſchwanzes hält feiner Spezialiſierung zum Wickel— ſchwanz (beim Chamäleon) nicht ſtand; unter den Geradflüglern gibt es eine Gruppe, wo von den drei Beinpaaren das vordere zu Raub— beinen (Fangſchrecken), eine andere Gruppe, wo das hintere zu Sprung— beinen (Heuſchrecken) ausgebildet iſt; im erſten Falle regenerieren Mittel- und Hinterbeine, im letzten Mittel- und Vorderbeine leichter
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und länger als das Spezialorgan, obwohl gerade dieſes für die Lebens— führung wichtiger wäre. Doch erleidet das Gleichmaß dieſer Abſtufung und damit auch die ſtammes- und altersgeſchichtliche Abſtufung Stö— rungen, die dadurch bedingt ſind, daß ein lebenswichtiges Organ, falls es, wie häufig der Fall, zugleich ſtärker benützt wird, den regeren Stoffwechſel und als Folge davon das regere Wachstum, als weitere Folge das beſſere Erſatzwachstum beſitzt. So muß ich trotz des auf mißlungene Verſuche gegründeten Widerſpruches von Krizenecky daran feſthalten, daß die Flügel mancher hochdifferenzierten Inſekten (Fliegen, Käfer), obwohl ſie nach Entfernung der Flügelanlagen an der Puppe nicht mehr entſtehen, nach dem Abreißen zuweilen noch dem fertigen Tiere wieder wachſen. Dieſe auffällige Tatſache findet darin ihre be— friedigende Erklärung, daß der Stoffumſatz im Flügel, wenn er einmal zum Fliegen benutzt wird, und daher auch in ſeiner der Neubildung und Stoffzufuhr dienenden Nachbarſchaft reger iſt als bei dem noch funktionsloſen Puppenflügel.
Man muß ſich dabei vorſtellen, welches Moment die Regeneration überhaupt auslöft und den Wachstumsreiz abgibt: durch Fortfall eines Körperteils wird eine lokale Druckerniedrigung bewirkt, die den ernährenden Körperflüſſigkeiten geſtattet, in ſtärkerem Strome an die verletzte Oberfläche zu eilen. Es kommt dort zunächſt zum provi— ſoriſchen Wundverſchluß, der durch Blutgerinnſel vollzogen wird, woran ſich bei Wirbeltieren eine beſondere Art von Blutzellen, die von uns noch nicht erwähnten Blutplättchen (Thrombozyten — S. 37, Abb. 5 Det. 3), entſcheidend beteiligen. Die Zellen des Wundrandes erfahren durch das reichlichere Zuſtrömen ernährender Säfte raſchere Ver— mehrung, ſie bilden über der Wunde eine Gewebsdecke, womit die eigent— liche Wundheilung beendet iſt. Jedoch der einmal in beſtimmte Richtung gelenkte Stoffkreislauf fährt fort, die immer noch unter ſchwächerem Druck ſtehende Stelle beſſer zu verſorgen, und ſo wächſt dort dasjenige Gebilde, zu deſſen Entſtehung die formbildenden Stoffe des Stummels ausreichen: meiſtens wohl dasſelbe, das früher dort geſtanden hatte. Wo ein Bein war, wächſt wieder ein Bein; wo ein Fühler ſtand, wieder ein Fühler uſw. And zwar wächſt es mit möglichſter Beſchleuni— gung, ſo daß es das übrige Körperwachstum einholt, ſonſt könnte ja das normale Ausſehen des Körpers nie auch nur annähernd wieder— hergeſtellt werden. Zu einer Definition des Erſatzwachstums gehört dieſes Moment unbedingt hinzu, — wir ſagen: Regeneration iſt ein Erſatz verlorener Körperteile, wobei das normale Wachstum in beſchleunigtem Tempo aufgenommen wird.
Läßt ſich alſo eine gewiſſe, außerhalb der dreifachen entwicklungs— geſchichtlichen Abſtufung ſtehende Abhängigkeit von Lebenswichtigkeit und Beanſpruchung eines regenerierenden Organes nicht leugnen, ſo iſt die Regenerationsfähigkeit doch gewiß ohne jeden Zuſammen— hang mit der Verluſtwahrſcheinlichkeit. Weismann wollte nämlich die Regeneration als Anpaſſung an die Verletzungsmöglichkeit 128
und damit durch Zuchtwahl (S. 309) entſtanden erklären: wenn das richtig wäre, dürften embryonale Organe nicht beſſer nachwachſen als fertig entwickelte, dürften innere Organe überhaupt nicht regenerieren. Gerade manche Eingeweide (3. B. Lunge bei Amphibien, große Stücke der Keimdrüſen [S. 199, Abb. 50], Leber, Nieren uſw.) regenerieren aber beſonders gut und, ſofern ſie nur Gewebsdefekte betreffen und nicht das ganze Organ, noch beim Säugetier. Auch verkümmerte (rudi— mentäre) Organe regenerieren innerhalb derjenigen Grenze, die ihnen durch ihren ſchwächeren Stoffwechſel geſteckt iſt, z. B. die winzigen Beinchen und Augen des Grottenolmes, die Beinſtummel der in Holz bohrenden Inſektenlarven, die Abdominalfüße der in Schneckenſchalen ſteckenden Einſiedlerkrebſe.
Endlich wird die Anabhängigkeit von der Verluſtwahrſcheinlichkeit aufs ſchlagendſte durch die Selbſtverſtümmelung („Autotomie“) bewieſen: viele Tiere beſitzen die Einrichtung, daß entbehrliche Teile ihres Leibes ſich auf einen verhältnismäßig geringen Berührungsreiz hin abtrennen, worauf dieſe Teile einem Angreifer im Rachen bzw. in Händen bleiben, während das ganze Tier in immerhin lebensfähigem Zuſtande entwiſcht. Selbſtverſtümmelung in wiſſenſchaftlichem Sinne iſt es nicht, wenn der Fuchs, um ſich aus der Falle zu befreien, das eingeklemmte Bein abbeißt; ſondern die Durchtrennung muß in dem gefährdeten Glied ſelbſt und durch einen Reflex geſchehen. Auch hier iſt der Ort des Abbruchs nicht beliebig, ſondern zumeiſt als „präformierte Bruchſtelle“ ſchon morphologiſch vorausbeſtimmt; fo trägt jeder Wirbel des Echſenſchwanzes in der Mitte eine quere Fuge, und der Schwanz bricht daher nie zwiſchen zwei Wirbeln, ſondern immer in der Mitte eines Wirbels auseinander. Nur durch Betäubung (Nar— koſe), in der der Nervenreflex nicht wirkſam iſt, läßt ſich eine Abtrennung auch an nicht vorbereiteten Stellen erzwingen. Außer dem Echſen— ſchweif ſind Krebsſcheren, Mücken- und Spinnenbeine, ja der ganze Darm bei den Seewalzen (S. 275, Abb. 76), im Pflanzenreich die „Trennungsſchicht“ an Blatt- und Blütenſtielen Beiſpiele für Auto— tomie. Vielfach verbindet ſich nun zwar die Verſtümmelungs- mit der Regenerationsfähigkeit, wie in den beiden erſterwähnten Beiſpielen; aber ebenſo oft betrifft die Autotomie Teile, die abſolut nicht erſatzfähig ſind, wie die Beine eines enderwachſenen Gliederfüßlers; unter den Heu— ſchrecken ſind z. B. gerade die vorhin als ſchlechtregenerierend heraus— gehobenen Sprungbeine mit automatiſcher Brucheinrichtung verſehen.
Wenn die oben (nach Przibram) gegebene „quantitative Wachs— tumstheorie der Regeneration“ richtig iſt, ſo muß die durch Verletzungen ausgelöſte örtliche Beſchleunigung des Wachstums um ſo größer ſein, je umfangreicher die Verluſte ſind, die dem Organismus bei noch erhaltener Lebensfähigkeit beigebracht wurden. Dieſe Vorausſetzung iſt in der Tat zutreffend: während man eher glauben möchte, daß Verſtümmelungen deſto ſchwerer und langſamer heilen, je zahlreicher und größer ſie ſind, beweiſen Experimente das
Kammerer, Allgemeine Biologie 9 129
Gegenteil: ein Krebs regeneriert beide Scheren ſchneller als eine, — ein Molch das ganze Bein raſcher, als wenn er nur den Fuß verlor, uſw. Allerdings wird zunächſt nur darauf Bedacht genommen, die Form als ſolche und damit das dynamiſche Gleichgewicht des ganzen Organismus wiederherzuſtellen; und es geſchieht bei gehäuften Regenerationsprozeſſen öfter als bei einfachen, daß das Geſamtkörperwachstum und ſeine lokale Beſchleunigung an den Regenerationsorten ſich zu einer Zeit erſchöpft, die noch in die Regenerationsperiode fällt, — dann bleiben die Erſatz— gebilde kleiner und unvollkommener als die Primärgebilde. Die Ver— folgung des Grundſatzes: zuerſt Herſtellung der Form, dann Wiederherſtellung der Größe — führt dahin, daß jene „hypotypen Regenerate“ ihr möglichſtes tun, um in den Dimenſionen verkleinerte, aber in den Proportionen richtige Abbilder der erſetzten Normalgebilde (S. 134, 135, Abb. 23, 24) darzuſtellen. Dies Ziel wird nur erreicht werden können, wenn die bei der Verletzung ſtehengebliebe—
I vr nen Nachbarregionen tun— . | lichft einbezogen und fo um— ur 5 gebaut werden, daß ſie von
x 4 dem kleinen Regenerat nicht
ee gar zu unvermittelt abſtechen:
bei Verluſt einer Gliedmaße
Abb. 19. Dornhai (Acanthias vulgaris), Spaltdoppel- g. B. wird der Stummel ID bildung des Vorderendes („Duplicitas anterior“). verkleinert, daß er zu dem d Dotterſact, lints Seiten- und Rücken- rechts Bauch- darangewachſenen Regenerat 55 paßt. Niedere Organismen
mit ſozuſagen unbeſchränktem Regenerationsvermögen, z. B. Hydra, Planaria, treiben dieſe Am— ſchmelzung (Morphallaxis) ſo weit, daß ſie bei großen Material— verluſten den Körperreſt (ſogar ohne Nahrungsaufnahme) in toto ver— arbeiten: er bietet dann das verkleinerte, aber proportionierte Abbild des unverletzten Organismus dar.
4. Achſenbeſtimmung (Polarität)
Vorhin wurde geſagt, daß in der Regel dasſelbe Organ nach— wächſt, das primär an der Verletzungsſtelle geſtanden hatte; allein es kommt vor, daß dieſe Körperpolarität, die Beſtimmung der Körperachſen, Störungen erleidet. Das gilt zunächſt von der Quantität des nach— gewachſenen Gebildes: manchmal wachſen mehr Regenerate, als Primär: 130
organe vorhanden geweſen waren. Wird ein Organ der Länge nach geſpalten, ſo bildet jede Spalthälfte polar richtig das, was ihr fehlt, und es entſteht eine Verdoppelung des Organs („Spaltdoppel— bildung“ — Abb. 19). Am Embryo geſchieht dies häufig ſelbſt bei Tieren, die im neugeborenen Zuſtand nicht mehr regenerationsfähig find, ſo bei Säugern und Vögeln durch Einklemmen von Hüllfalten: es kommt zu „Mißgeburten“ mit doppelten Vorderleibern („Duplicitas anterior“ — Abb. 19) oder Hinterkörpern („Dupl. posterior“). Wird das embryonale Material auf entſprechend früher Stufe ganz durch— ſchnürt und jede Portion ergänzt das ihrige, ſo entſtehen ebenmäßige, nur entſprechend verkleinerte Ganzbildungen, (Spaltzwillinge und-Mehr— linge aus einem Ei). Bei gewiſſen Schlupfweſpen (Chaleididen) und Gürteltieren, ſowie nach Kleinenberg beim Erdwurm Lumbricus trapezoides wird der Zerfall des Kei— mes und Bildung eineiiger Mehrlinge ſogar zum nor— malen Vorgang (vgl.
222 Wird ein Organ der Quere nach eingeknickt, ſo daß eine winkelförmige Wundfläche entſteht, und bleibt dieſe doppelflächige Wunde lange genug in Abb. 20. Hummer (Homarus europaeus), Bruch-Drei- fachbildungen an Scheren: links an der Außenkante
, — — 5 dieſer Form klaffen, ſo des beweglichen Gliedes („Daktylopoditen«) einer wächſt von jeder Fläche ein Knotenſchere, rechts an der Innenſchneide des un—
Regenerat Das ergibt beweglichen Gliedes („Propoditen“) einer Zähnchen— o A ſchere. zwei überzählige Regene— (Nach Przibram)
rate und das wieder an— geheilte Primärgebilde, eine „Bruch-Dreifachbildung“ (Abb. 20): das an der vorwärts blickenden Wundfläche gewachſene Gebilde iſt polar richtig, das an der rückwärts blickenden polar verkehrt; alle ſtehen in Symmetrie zueinander, ſo zwar, daß jedes das Spiegelbild ſeines Nachbarn iſt. Handelt es ſich um ein paariges Organ, etwa eine Gliedmaße, ſo beſitzt das überzählige Gebilde der nach hinten (innen) gerichteten Fläche demgemäß die Orientierung des gegenſeitigen Organes. Dennoch haben wir es nicht mit einem links gewachſenen rechten Glied oder umgekehrt zu tun, ſondern entſchieden mit einem ver— kehrt gewachſenen linken Glied; ſchön läßt ſich dies an den Scheren eines ungleichſcherigen Krebſes demonſtrieren: bricht die Knackſchere (S. 90), ſo entſteht eine Dreifachbildung aus lauter einander ſym— metriſch zugewendeten Knackſcherengliedern (Abb. 20 links); hat die Zwickſchere eine Fraktur erlitten, ſo ſind die daran hervorſproſſenden überzähligen Glieder, mögen ſie ſelbſt die Lagerung der Gegenſeite 131
aufweiſen, durchaus mit der baulichen Eigenart einer Zwickſchere ver— ſehen (Abb. 20 rechts).
Ein Austauſch von Links und Rechts kommt erſt bei völligem Verluſt eines linken bzw. rechten Organes unter Umftänden zuwege. Benützen wir gleich abermals das ſo ungemein inſtruktive Beiſpiel der ungleichſcherigen Krebſe, deſſen Entdeckung wir Przibram danken, ſo find die Bedingungen für „Scherenumkehr“ folgende: es muß die große Schere verloren gehen, dann wächſt an ihrer Stelle eine kleine, — aber die kleine Schere der Gegenſeite hat ſich inzwiſchen zur großen mit allen Merkmalen der Knackſchere weitergebildet. Saß die Knackſchere ur— ſprünglich rechts, ſo iſt es jetzt umgekehrt, der „Rechtshänder“ iſt ein „Linkshänder“ geworden (Abb. 21). Auch ſonſt deuten alle Erfahrungen darauf hin, daß es keine beſonderen Anlagen für „Rechts“ und „Links“ gibt, ſondern nur ſolche für „Oben“ und „Unten“, für „Vorne“ und „Hinten“; durch Anordnung dieſer beiden Körperachſen (der anterio-poſterioren „Haupt— achſe“ und der ventral-dorſalen „Trans— verſalachſe“) wird die dritte, ſeitliche (laterale oder ſagittale) von ſelber mitbeſtimmt.
Ferner gibt es eine Störung der Pola— rität in bezug auf die Qualität des neu ge— wachſenen Gebildes: es wächſt manchmal ein anderes Organ an Stelle des entfernten: ſo bei Gliederfüßlern Fühler ſtatt Augen, Beine ſtatt Fühler, Ober- ſtatt Unterkiefer, Schreitbeine ſtatt Scheren, Vorder- ſtatt Hinterflügel (Taf. IV, Fig. Za, b) uſw. Solche „Heteromorphoſen“ ereignen ſich, wenn der Eingriff ſo tief war, daß die Region überſchritten wurde, in der ſich die notwendigen Stoffe für das richtige Glied vorfanden; es ſind aber noch Stoffe
Abb. 21. Stachelkrabbe (Eriphia spinifrons): oben
„Rechtshänder“, d. h. Knoten— ſchere rechts, Zähnchenſchere links; unten „Linkshänder“, entſtanden durch Verluſt der Knotenſchere und ihren Erſatz durch eine Zähnchenſchere, während ſich die Gegenſeite
für ein weniger differenziertes Glied verfüg— bar, und dieſe nächſtniedriger differenzierte Organſtufe wird dann aufgebaut. So wächſt, wenn man einem Krebs das Auge entfernt, wieder ein Auge; wenn man es aber mit
zur Knotenſchere ausbildete, (Nach Przibram.)
ſeinem Stiel entfernt, ein Fühler (Herbſt). Dies muß nicht daran liegen, daß man letzteren Falles das Augenganglion mitentfernte, denn bei anderen Heteromorphoſen iſt eine Abhängigkeit von Nervenzentren gewöhnlich nicht in Frage; ſondern nur an dem ſtärkeren Eingriff, der die „Augen— ſtoffe“ enthaltende Region überſchreitet.
Wir hörten vom Regenwurm und ſeinen drei Zonen, innerhalb deren man bei Zertrennung noch ganze Würmer bekommen kann. Trennt man aber zu weit vorne durch, ſo wächſt von der Wundfläche
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nach hinten zu kein Schwanz, ſondern ein Kopf; ſchneidet man zu weit rückwärts, ſo wächſt nach vorwärts ein Schwanz. Es entſtehen doppelköpfige, bzw. doppel— ſchwänzige Monſtra, weil man in eine Region ge— riet, die nur mehr über kopf-, bzw. ſchwanzbil— dende Stoffe verfügte, und die Polarität hat ſich infolgedeſſen umgekehrt. Umkehr findet auch ſtatt, wenn ein Molchbein ab— getrennt und verkehrt wieder angeheilt wird; es regeneriert unter allen Amſtänden nach außen einen Fuß mit den Zehen (Kurz). Ein Stengelſtück wird in derſelben auf— rechten Lage, wie es ſich am Stamme befand, in die Erde geſteckt und ent— wickelt hier Wurzeln („Wurzelpol“), am freien Ende Knoſpen, („Sproßpol“) ; verkehrt in die Erde geſteckt, entwickelt es aber ebenfalls in der Erde etwas dünnere Wurzeln, in der Luft etwas minder reichliche Knoſpen. Der Länge nach auf die Erde gelegt, treibt es in ganzer Ausdehnung nach unten Wurzeln, nach oben Knoſpen, dies am Wurzel-, jenes am Sproßpol ſchwächer. Abereinſtimmend verlaufen die Ergebniſſe mit Polypenſtöckchen hinſichtlich der Fangarmkränze („Hydranten“) und Wurzelausläufer („Stolonen“).
In ſolchen Fällen ſcheint es, als ſei die Polarität faſt be— liebig umkehrbar. Hängt man jedoch dieſelben Stengelſtücke frei— ſchwebend auf, ohne ſie in den Grund zu ſtecken, ſo bleibt die Polari— tät weitgehend erhalten (Abb. 22); ſehr gut läßt ſich dies auch an Bohnenkeimlingen zeigen, die in einer feuchten Kammer teils aufrecht, teils verkehrt ſuspendiert werden, worauf die Stengelenden immer nur am richtigen, dem Sproßpol, ergrünen, — alſo auch unten, wenn der unrichtige, der Wurzelpol, nach oben gewendet iſt (v. Portheim). Ebenſo iſt im Tierreich ein rückenſtändiges Organ niemals durch ein bauch— 133
Abb. 22. Stengelſtücke von Weiden mit Wur— a zel- und Sproßbildung, links in aufrechter, 73 rechts in verkehrter Lage aufgehängt. (a Sproß-, b Wurzelpol.) (Nach Vöchting.)
ſtändiges erſetzbar und umgekehrt. Hat ſich im Keimmaterial die Schei— dung in ventral:dorfal beſtimmte Zellen durch die Transverſalebene einmal vollzogen, ſo iſt ſie eine endgültige und kann nicht mehr vertauſcht werden.
Die Polarität der Organe und Organismen beruht auf der Po— larität ihrer Zellen. Daß die Zellen nach einer oder mehreren Achſen hin verſchieden ſind, erkennt man ſchon an der Lage des Kerns, der gewöhnlich einer freien Fläche (als günſtigſter Ernährungsgelegen— heit) näher liegt, — noch etwas näher das Zentralkörperchen. Auch in den Eizellen liegt der Kern (das „Keimbläschen“) mehr oder weniger ex— zentriſch, ſo daß man einen Kern- oder animalen Pol und einen Dotter- oder vegetativen Pol unterſcheiden kann. Aber ſelbſt eine kugelige Eizelle mit ebenſo kugeligem, zentral gelegenen Kern gibt ſogleich die bis dahin verborgene Exiſtenz polarer Achſen zu erkennen, wenn die Entwicklungs— furchen einzuſchneiden be—
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Abb. 23. Kompenſation durch Stofferſatz („Kom⸗ penſatoriſche Hypotypie“) beim kleinen Teichmolch Molge vulgaris: oben Männchen mit normalem Rücken⸗ und Schwanzkamm, unten männliches Tier, an deſſen Schwanzkamm während der Reſtitution des Rücken—
ginnen (S. 150). In den beſprochenen Fällen, wo Glieder oder ganze Rumpf— partien ihre Polarität um— kehren, müſſen ſich die Zellen derjenigen Flächen, von denen aus das inver— tierte Wachstum beginnt, entweder in Gänze gedreht oder ſo umdifferenziert haben, daß auch ihre Pola— rität jetzt die entgegengeſetzte
kamms Zacken eingeſchmolzen wurden. (Nach Kammerer.)
iſt als früher.
5. Ausgleichswachstum (Kompenſation)
Wir fanden ſchon bei Beſprechung der Amſchmelzung (Morphal— laris), daß Regenerationsprozeſſe auf zunächſt unbeteiligt geweſene Nachbargebiete, die nun proportional verkleinert werden, übergreifen. Einen anderen derartigen Fall lernten wir in Geſtalt des Scherenaus— tauſches ungleichſcheriger Krebſe (Abb. 21) kennen: eine Schere muß die andere ergänzen. Das Schrumpfen des Larvenſchwanzes, wenn die Hinterbeine des Froſches ihre volle Entwicklung erreichen, iſt ebenfalls eine Kompenſationserſcheinung; amputiert man die Hinterbeine, ſo wächſt der Schwanz zu außergewöhnlicher Größe heran und bleibt über die normale Zeit hinaus erhalten (Neotenie, vgl. S. 164).
Aus dieſen Beiſpielen erſieht man bereits, daß es zwei Arten von Kompenſationen gibt: entweder ein Nachbarorgan, das geeignet iſt, die Funktion des verlorenen Organs zu übernehmen, wird in Erfüllung ſeiner erhöhten Aufgabe beſonders groß und aufdifferenziert; oder es wird im Gegenteile zur Materiallieferung herangezogen, um den be— 134
nachbarten Ausfall mõglichſt raſch beieitigen zu helfen, — dann wird es kleiner. und ſeine Differenzierung nimmt ab. Die Morphallaxis (Sanzbildung aus wenig Material. Drieſchs Kleinganzgeſchehen ) iſt ein Beiſpiel für Kompenſation durch Materialerſatz (ſiehe auch Abb. 23), die Scherenumfehr und das Verhalten des Quappenſchwanzes ein Exempel für Kompenſation durch Funktionserſatz (vgl noch Abb. 24).
Die letztgenannte Erfcheinung vollzieht ſich gewöhnlich, wenn ein Organ verloten geht und nicht wieder nachwächſt, oder wenn es dem Körper zwar erhalten bleibt. aber nicht gehörig funftio- nieren kann. Wird der Haupt⸗ ſtamm eines Baumes abgebrochen, fo richtet ſich der zunächſt ftegende Seitenaſt empor und bildet einen ſtellvertretenden Gipfel. Wird ein Baum ſchrãg eingeſetzt, was in der Natur durch Winddruck ge⸗
da auch Aich. . Sompemjefisn dars Funk- 8 5 ti onserſas („Rupenisiuühe Sperr-
und der Hauptachſe immer fiumpfer meg, 1 Ferse der Kesgiasg ggg wird, bis nicht mehr viel an (Peiobeies . mad Amen des 5 States ik des rechte
180 Grad fehlt. dabei gleichzeitig die ehemalige Hauptachſe immer ſchwãcher ernährt und daher dünner, ſo bekommt der Baum im Laufe der Jahre ſein normales auftechtes Aus ſehen zurũck. Beide Fälle er- Hören ſich aus der abgelenkten Nichtung des Saftſtromes, deſſen
1 Der umzeleinie Fall = . bei einer me des Serffreſches M ndbende); im c derſeſbe Gall wie im d bei einer Onrwe Der Wers feli (Bro νπνν˙ .: im d ik arte an eimer Beiielfräizılaerme nas Des rechten Sterbens wer Ds limfe Vorderer erſchiemen. rf Femme
Hauptmenge bei der veränderten Lage eher in einen Geiten- als den Hanptſtengel eintreten kann. Geũnderte Nahrung verteilung bedingt auch wohl die an gewiſſen Pflanzen geſetzmãßig eintretende Verbreiterung der Blattſtiele zu Phyllodĩen bei Abfall der Blattſpreite (. B. einige
Sauerfler-, Afazien- und Widenarten),
Verbreiterung der Stengel zu
Flachſproſſen (Phyllokladien) bei Abfall der ganzen Blätter (3. B etliche Ginfter-, Spargel und Ampferarten |Muehlenbeckia]).
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Auch bei Ausfall oder Funktionsſtörung eines paarigen Organes beobachten wir (wie im Beiſpiel des Scherenaustauſches) Kompenſation durch Funktionserſatz. Bei Zerſtörung oder operativer Entfernung einer Niere oder Geſchlechtsdrüſe u. dgl. übernimmt das gleichnamige Organ der Gegenſeite die Funktion für beide Seiten ſo vollſtändig, daß kaum ein UAnterſchied zu merken iſt. Anter dem Einfluß doppelter Be— anſpruchung wächſt freilich auch die Größe des Organs aufs Doppelte an. Von beſonderem Intereſſe iſt es, daß dieſe Aufgabe in zweierlei Weiſe gelöſt werden kann: entweder in der gewöhnlichen Form des Wachstums, alſo durch Zellvermehrung; das doppeltgroße Organ enthält dann die doppelte Zahl normalgroßer Zellen („Hyperplaſie“). Oder jede Zelle überſchreitet ihre fire Größe und wächſt ausnahmsweiſe auf den zweifachen Umfang an, fo daß die Zellenzahl normal bleibt („Hyper— trophie“). Ob dieſer oder jener Kompenſationsmodus eingeſchlagen wird, hängt natürlich nicht vom Zufall ab, ſondern iſt kauſal beſtimmt: die Vergrößerung durch Zellvermehrung iſt an das Vorhandenſein for— mativer Reize (S. 56), die wohl meiſt in chemiſcher Form als innere Sekrete (vgl. S. 103 u. S. 169) zur Verfügung ſtehen, gebunden; herrſcht Mangel an ſolchen, ſo iſt es wahrſcheinlich die Funktions— anſtrengung allein, welche die Ausweitung der Zellen bewirkt, ohne daß dieſe ſich teilen.
Das Kompenſationswachstum iſt nur eine Spezialerſcheinung einer großen Gruppe von Erſcheinungen, die man als „Korrelation der Organe“ zuſammenfaßt. Eine Korrelation, die wohl auf dem Wege der Erregungsleitung zuſtande kommt, haben wir durch den Befund feſt— geſtellt, daß Sinnes- und Bewegungsfähigkeiten nie vielſeitig, ſondern ſtets nur einſeitig höchſte Stufen zu erklimmen vermögen; daß alſo z. B. ein Tier, das gut ſieht, nicht ebenſogut riechen kann, — eines, das gut fliegt, nicht ebenſogut ſchwimmen kann uſw. Andere Korrelationen ſind chemiſcher Beſchaffenheit; wir werden ſie in Geſtalt der Entwicklungserfolge innerſekretoriſcher Organe im nächſten Kapitel (S. 168) kennen lernen.
6. Pfropfwachstum oder Verpflanzung (Transplantation)
Während alle bisher beſprochenen Formen des Wachstums in der Natur vorkommen, iſt die Pfropfung oder Vereinigung fremder, nor— malerweiſe nicht zuſammenwachſender Teile ein Kunſtprodukt und wird faſt ausſchließlich vom Menſchen zu Experimentier-, Heil- oder land— wirtſchaftlichen Zwecken betrieben. Doch gibt es eine Selbſtver— pflanzung („Transpoſition“) von Keimmaterial, die zuweilen falſche Regenerationen (Heteromorphoſen) oder Spaltdoppelbildungen vor— täuſcht. Das entwicklungsmechaniſche Muſeum der Biologiſchen Ver— ſuchsanſtalt in Wien beſitzt einen Hai, auf deſſen Scheitel eine Floſſe wächſt: dieſe iſt wohl kaum nach einer Verletzung dort entſtanden, ſon— dern floſſenbildendes Keimmaterial dürfte durch irgendeinen mechaniſchen Zufall dorthin verſprengt worden ſein.
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Doppelbildungen, die aber nicht durch Spaltung mit nachfolgender Regeneration des Fehlenden, ſondern durch teilweiſe Verſchmelzung an— fänglich geſonderter Keime entſtanden, ſind die Verwachſungs— zwillinge, die in verſchiedenſten Vollſtändigkeitsgraden realiſiert ſein können: von Verwachſung nur eines begrenzten Körperabſchnittes (ſia— meſiſche Zwillinge, Schweſtern Blaſchek — künſtlich in den zu verſchie— denen experimentellen Zwecken vorgenommenen Vernähungen, „Para— bioſen“ ganzer Tiere) bis zur Totalverſchmelzung, die ein einheit— liches, doppeltgroßes Gebilde erzeugt (Zur Straßenſche Niefeneier des Pferdeſpulwurms, Experimente mit Seeigeleiern). Die Total— verſchmelzung kann wieder eine minder vollſtändige ſein, wenn der Rieſenkeimling die doppelte Zahl normal großer Zellen beſitzt; oder eine reſtloſe, wenn er die normale Zahl doppeltgroßer Zellen beſitzt. Gleich den Mehrlingsbildungen durch Zerfall eines Keimes kann auch die Einlingsbildung durch Verſchmelzung von Keimen ein erblicher Vorgang werden.
Die wenigen ohne Einflußnahme des Menſchen vorkommenden Pfropfungen vollziehen ſich — wenn man die Eiſtadien, die zwei ge— trennte Keime zu einem Rieſenkeim vereinigen, noch als Organbeſtand— teile des Mutterorganismus gelten läßt — ausnahmslos an ein und demſelben Individuum („autoplaſtiſche Transplantation“). Anter ihnen hat man wieder im engſten Sinne autoplaſtiſche zu unterſcheiden, welche die Verpflanzung auch in gleichartiges Gewebe vornehmen (3. B. Haut wieder auf Haut) oder ein vorübergehend entferntes Organ an der zuſtändigen Stelle wieder einheilen (3. B. ein Ovarium an feinem Aufhängeband, dem Meſovarium); und im weiteren Sinne autoplaſtiſche Transplantation, die in ein ungleichartiges Gewebe desſelben Indi— viduums geſchieht (3. B. Vorderbein in die Gegend des Hinterbeines, Hoden unter die Bauchhaut). Der Menſch nimmt auch Aberpflan— zungen von einem Individuum auf ein anderes derſelben Art vor („homoplaſtiſche Transplantation“), ja von einer Art auf eine zweite („heteroplaſtiſche Transplantation“). Das Gelingen hängt hauptſächlich vom Verwandtſchaftsgrad zu vereinigender Teile ab: am beiten gelingen autoplaſtiſche Transplantationen ins ſelbe Gewebe, am ſchwerſten heteroplaſtiſche in fremdes Gewebe. Das Verhalten des Gewebes durchkreuzt aber unter Amſtänden den Verwandtſchaftsgrad der Individuen und Arten: allenfalls geht eine homoplaſtiſche Trans— plantation mit verſchiedenem Gewebe wohl ſchlechter vonſtatten als eine heteroplaſtiſche mit gleichem Gewebe.
Das allgemeine Pfropfergebnis, ſozuſagen das Transplantations— geſetz, lautet: Stammſtück(„Subſtrat“) und Pfropfſtück („Trans— plantat“) ſind in ihrer Formbildung voneinander unab— hängig. Darauf beruht die „Veredlung“ der Obſtbäume und Blumen— ſorten: der Gärtner ſetzt voraus, daß die guten Eigenſchaften des Edel— reiſes von minderwertigen Qualitäten des „Wildlings“ nicht verdorben werden. Eine Vorderbeinanlage, in der Gegend des Hinterbeines zum
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Einheilen gebracht, entwickelt ſich doch zum Vorderbein und umgekehrt (Braus); zwei verſchiedenartige Froſchkeimlinge, miteinander zur Ver— wachſung gebracht, laſſen an der Kaulquappe und dem daraus ver— wandelten Froſch deutlich die Komponenten erkennen, die ihre Art— charaktere treu bewahrt haben (Vorn, Harriſon); gleiches gilt von ver— wachſenen Regenwurmarten (Joeſt) und Puppen verſchiedener Falter— arten (Crampton). Wenn in dieſem Falle die Färbungen der aus der Verwachſungspuppe geſchlüpften Falter an der Verwachſungszone ein wenig ineinander übergehen, ſo beruht das nur auf Diffuſion der Farb— ſtoffe, nicht auf Anderung der Pigmentproduktion in den Zellen. Ein— fache Diffuſionsprozeſſe erklären es auch, wenn bei Verwachſung einer nikotinhaltigen und einer faſt nikotinfreien Tabakspflanze nach einiger Zeit in letzterer ebenfalls mehr Nikotin nachzuweiſen iſt (Grafe und Linsbauer), oder Atropin bei Verwachſung des giftigen Stechapfels mit der ungiftigen Kartoffel (Meyer und Schmidt). Das Größerwerden eines Gerſtenkeimlings, der im Nährgewebe eines Weizenkornes ein— geſchloſſen wurde, — das Kleinerwerden desſelben, wenn er mit Nähr— gewebe vom Hafer ernährt wurde (Stingl), erklärt ſich zur Genüge aus dort günſtigeren, hier ungünſtigeren Ernährungsbedingungen, ohne daß man eine Beeinfluſſung der Formbildung und damit einen Austauſch von Artmerkmalen heranziehen könnte. Wird das Auge (Ahlenhuth) oder die Kieme (Kornfeld) einer jüngeren Salamanderlarve auf eine ältere verpflanzt oder umgekehrt, ſo verwandelt ſich das Transplantat ſtets gleichzeitig mit der ganzen Larve: dies kann zum Teil darauf be— ruhen, daß es, auf einem größeren Körper reichlicher ernährt, deſſen vorgeſchrittene Entwicklung einholte; auf einem zu jungen Körper unter— ernährt, in der Entwicklung entſprechend weit zurückblieb.
Die Unabhängigkeit von Anterlage und Pfropfreis erklärt ſich aus der wechſelſeitig vollſtändigen Aſſimilation aufgenommener Fremdſtoffe: ſo wenig der Einfluß von Fleiſch- oder Pflanzennahrung darin beſteht, uns der Organismenart ähnlich werden zu laſſen, die wir eſſen, — ſo wenig ein Kind mit der Ammenmilch Eigenſchaften ſeiner Nährmutter einſaugen kann; ebenſowenig kann das Pfropfreis ſeinem Subſtrat ähn— licher werden, weil es deſſen Säfte als Nahrung benützt. Demgemäß haben ſich auch die meiſten „Ausnahmen“ von der Transplantations— regel als trügeriſche „Chimären“ erwieſen. Die Botaniker kannten ſchon lange eine Reihe von „Pfropfbaſtarden“, deren Eigenſchaften wirklich wunderſchön zwiſchen denen der aufeinander gepfropften Arten zu ſtehen ſchienen; Winkler hat ſie neuerdings um viele Mittelformen vermehrt, die er aus Tomate und ſchwarzem Nachtſchatten gewann. Allein faſt überall ſtellte ſich heraus, daß die Zellen, deren Artzugehörig— keit an der Zahl ihrer Kernſchleifen (S. 176 und 192) zu erkennen iſt, artrein waren; der Miſchlingscharakter wird vorgetäuſcht, da die beiderlei Gewebe entweder nebeneinander wachſen (Sektorialchimäre — Abb. 25) oder, um die Täuſchung vollkommen zu machen, ſogar über- und durcheinander (Periklinalchimäre — Taf. 1, Fig. 1-3).
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Trotzdem iſt nicht daran zu zweifeln, daß das Anabhängigkeitsgeſetz, gleich ſo vielen anderen biologiſchen Geſetzen, nur Regel häufigſten Vorkommens iſt, aber auch wirklichen Abänderungen unterliegt: ein Winklerſcher Pfropfbaſtard iſt echt, das Solanum Darwinianum; ſeine Zellen beherbergen eine Kombination aus den Kernſchleifenzahlen der Stammeltern. Jedenfalls iſt, wie zur Herſtellung eines ſexuell er— zeugten Baſtards, auch hier die Vorausſetzung dafür, daß Zellen nicht bloß aneinander grenzen, ſondern miteinander verſchmelzen. Zwei Grenz— zellen, je eine im Pfropf- und Stammgewebe, müſſen wohl ineinander gefloſſen ſein, um den Pfropfhybrid zu erzielen, — alſo einen Be— fruchtungsprozeß vollzogen haben, wie er ſonſt nur bei den beſonders hierfür ſpezialiſierten Keimzellen anzutreffen iſt. — Andere ſicherſtehende Formbeeinfluſſungen durch Pfropfſtücke wurden bei Verpflanzung von Keimdrüſen, entweder des entgegengeſetzten Geſchlechts oder einer anderen Naſſe, beobachtet; fie find weſentlich anders zu beurteilen als die Pfropf— baſtarde. Sie beſtehen ja nicht darin, daß ein verpflanztes Organ Eigen— ſchaften ſeiner Nachbarorgane annimmt (Eierſtock bleibt natürlich, der Trans— plantationsregel gehorchend, ein Eier— ſtock auch im fremden Gewebe und im Männchen); ſondern durch Fernwir— kungen von großenteils innerſekreto— N e von riſcher Beſchaffenheit, vielleicht unter ſchwarzem Nachtſchatten (A) und To- regulierender Herrſchaft der Nerven— e e zentren, wird der Geſamthabitus ſeines Trägers oder der von ihm gelieferten Nachkommengeneration in geſetz— mäßiger Weiſe umgemodelt. Wir werden uns mit dieſen Dingen noch wiederholt zu beſchäftigen haben (S. 202 und 269).
Außer der Aberpflanzung (Transplantation), wobei die zu ver— pflanzenden Gewebe am neuen Ort anwachſen und lange lebenstätig bleiben ſollen, bedient ſich die experimentelle Lebensforſchung noch einiger anſchließender Methoden: der Einpflanzung („Implantation“), wo— bei das verpflanzte Stück am fremden Ort loſe liegen bleibt und früher oder ſpäter der Aufſaugung (Reſorption) anheimfällt; und der Ein— ſpritzung („Transfuſion“), wobei flüſſige Plasmen (Blut, Lymphe) oder Preßſaft aus vorher feſt geweſenem Plasma (Organextrakte) unter die Haut (ſubkutan), in die Leibeshöhle (intraperitoneal) oder in die Adern (intravenös) injiziert werden. Beide Methoden verzichten darauf, das Wachstum des verpflanzten Stoffes zu verfolgen; beſchränken ſich darauf, ſeinen chemiſchen Einfluß auf das Wachstum des als Anterlage gewählten Lebeweſens zu beobachten. — Bluttransfuſionen führte man urſprünglich mit der Abſicht aus, das Blut einer Tierart durch das einer zweiten zu erſetzen und auf ſolche Weiſe deren Arteigenſchaften zu verändern; man ſah bald, daß dieſer Tauſch wegen der ganz all—
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gemeinen Giftigkeit fremder Plasmen nicht gelingen konnte (S. 282). Denn jedes fremde Eiweiß wirkt giftig auf das eigene und wird nur durch Aſſimilation, alſo Umbau ins arteigene unter Ausſcheidung von Schutzſtoffen, entgiftet; mit abnehmendem Verwandtſchaftsgrad nimmt der Giftigkeitsgrad zu, — darauf beruht ja auch das verſchieden gute Gelingen der Transplantationen nach Gewebe, Individuum und Art. Demnach werden kleinere Mengen fremden Blutes zerſtört („hämoly— ſiert“), die Fragmente von den weißen Blutzellen verzehrt; große Mengen aber vergiften mit tödlichem Ausgang.
Den Injektionen und Transfuſionen verwandt iſt noch die Methode, fremde Plasmen zwecks Prüfung ihrer chemiſchen und formbildenden Wirkſamkeit durch den Verdauungskanal aufſaugen zu laſſen. Dies geſchieht entweder durch Verfütterung (per os) „intraſtomakal“ oder durch Kliſtiere (per anus) „infrarektal“. Da die zugeführten Stoffe durch die Verdauungsſäfte verändert werden, arbeitet dieſe Methode weniger zuverläſſig; ihre Erfolge, auf dem Gebiete der inneren Sekretion gelegen, kommen im nächſten Kapitel (S. 168 und 169) zur Sprache.
7. Auspflanzung (Explantation)
Die Verpflanzung eines Gewebes an fremden Ort, wo es dem Einfluß ſeines Stammgewebes entzogen iſt, gewährt ſchon mancherlei Einblicke ins Weſen des Wachstums, die an normaler Stelle unmög— lich wären; immerhin bleiben Ernährungs- und Poſitionsreize (S. 56) übrig, die durch die bloße Anweſenheit von Nachbarteilen gegeben ſind. Auch dieſe Einflüſſe ſind ausgeſchaltet, wenn Gewebeſtücke aus dem Zuſammenhange mit dem eigenen oder fremden Körper ganz losgelöſt lebens- und wachstumsfähig erhalten werden.
Die Pflege ausgepflanzter Gewebe geht auf amerifanifche Forfcher, beſonders Harriſon, Carrel und Burrows, zurück und knüpft ſich in Deutſchland vor allen an die Namen Hadda, Oppel und Braus, auf botanifchem Gebiete an Haberlandt, der als Vorläufer der Methode im Geſamtgebiete zu rühmen iſt; ſie beſteht im weſentlichen darin, eine kleine Gewebspartie in eine Nährflüſſigkeit einzulegen, die ihr die Er— nährungsbeziehung zu Nachbarpartien, aus denen ſie iſoliert wurde, er— ſetzt, — und ferner darin, die ſich anhäufenden giftigen Stoffwechſel- produkte, die im Organismus durch zirkulierende Flüſſigkeiten weg— geſpült würden, auszuwaſchen. Als Kulturgefäß dient ein ausgeſchliffener Objektträger, über deſſen Mulde ein Deckglas geklebt wird, — an deſſen Anterſeite hängt ein Tropfen Nährflüſſigkeit mit dem Gewebsſtück (da— her auch „Kultur in hängenden Tropfen“, Abb. 26) — oder für Maſſenkulturen eine größere, flache, ſogenannte Gabritſchewskyſche Schale mit luftdichtem Abſchluß zur Verhütung von Infektionen. Als Nährflüſſigkeit iſt Blutplasma derjenigen Tierart, von der das Gewebe herſtammt, am geeignetſten. Zum Auswaſchen der Exkretſtoffe dient Ringerfche Löſung, ein Gemiſch von Chlornatrium, Chlorkalzium, Chlor— 140
kalium und doppeltkohlenſaurem Natron in Waller. Auch Temperatur— bedingungen müſſen erfüllt fein: menſchliches Gewebe z. B. wird in Wärmeſchränken (Thermoſtaten) kultiviert, worin die Temperatur kon— ſtant auf 37“ C erhalten werden kann, denn jo hoch iſt die Körper— temperatur des Menſchen.
Was man nun zu ſehen bekommt, iſt nicht ein bloßes Abklingen der Lebensvorgänge, ein langſames Sterben: es wäre denkbar geweſen in Erinnerung daran, daß beim Tode des vielgewebigen Organismus nicht alle Teile ſogleich ihre Tätigkeit einſtellen, ſondern in vielen Zellen Stoffwechſelprozeſſe noch einige Zeit ablaufen. Wie der Geſamt— organismus ſeine zelligen Beſtandteile, die er oftmals wechſelt, überlebt; ſo überleben zuletzt dieſe ihn, wenn er, als Ganzes betrachtet, ſchon „tot“ iſt. Iſolierte Gewebſtücke aber ſtellen nicht, wie im Kadaver, ihre Funktionen allmählich ein, ſondern leben monate- ſelbſt * weiter (Abb. 27), ihre Zellen vermehren r = : N ſich und es werden darin ausge- ſchnittene Wunden zugeheilt. All das vollzieht ſich ohne den mecha— niſchen Druck, ohne die chemiſchen Sekrete, ohne die nervöſen Er— regungsübertragungen von ſeiten benachbarter Gewebe; das iſolierte Gewebe iſt ſeiner „Selbſtdifferen- Abb. 26. Gewebskultur („Deckglaskultur“, zierung“ überlaſſen. And allgemein „Kultur im hängenden Tropfen‘): oben der
8 . e 2 a als Kulturgefäß benutzte Objektträger mit biologiſch iſt vielleicht das inter- Hohlſchliff, Flächenanſicht; unten deſſenSeiten— eſſanteſte unter den bisher erzielten anſicht mit aufgekittetem Deckgläschen, an Ergebniffen der jungen Methode, dene daß jene Differenzierung eigentlich das Gegenteil einer ſolchen ift, eine „Entdifferenzierung“: während in ganz jungen Kulturen die neuen Zellen noch in der Form ihres Stammgewebes erſcheinen, iſt es ſpäter kaum mehr zu erkennen, ob die Kulturen aus Knorpel, Milz, Haut oder Muskeln hergeſtellt ſind. — Auch über den Chemotropismus (S. 68) der Nervenfaſer ſind wir erſt durch Deckglaskulturen (dank Harriſon) ins klare gekommen.
Es zeigt ſich wieder einmal die unüberſchätzbare Wichtigkeit der lebenden und Reinzucht: fie erſt hat uns eine wiſſenſchaftlich wie prak— tiſch erfolgreiche Bakteriologie begründen helfen; ſie hat die ganze Bio— logie in neue, verheißungsvolle Bahnen gelenkt, ſeitdem man endlich anfing, das lebende Tier, die lebende Pflanze ſtatt ausſchließlich den konſervierten Leichnam zu unterſuchen. Sie muß uns jetzt unſere ſchlimmſten Krankheiten bekämpfen lehren, die bösartigen Ge— ſchwülſte („malignen Tumoren“). Das Wachstum einer Krebs— geſchwulſt (Karzinoms oder Sarkoms) z. B. kann jetzt in Gewebskultur verfolgt werden; und es iſt möglich, dieſes Wachstum hemmenden Ein— flüſſen zu unterwerfen, deren Wirkſamkeit wir am Menſchenkörper nie erſtmalig hätten erproben dürfen.
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Abb. 27. Erplantierte Bindegewebskultur, 30 Tage alt, in der Mitte das urſprünglich iſolierte Gewebsſtück, inzwiſchen abgeſtorben, ringsum das neu hinzugekommene Gewebe mit Wachstumsringen.
(Nach Carrel aus Dekker, „Kosmos“ 1913, Nr. 2.)
Der nächſtfolgende Schritt wird offenbar darin beſtehen, nicht bloß iſolierte Gewebe, ſondern iſolierte Zellen zu pflegen, die Zelle eines vielzelligen Organismus als Arweſen zu behandeln. Auch dazu ſind Anſätze gegeben: die entwicklungsmechaniſchen Verſuche, und zwar die künſtliche Entwicklungserregung und äußere Beſamung von Eiern, die ſonſt der inneren Befruchtung unterliegen (S. 222); ferner die Los— trennung von Furchungskugeln aus Keimſtadien, worauf ſich dieſe Zellen weiterfurchen und entweder Teilembryonen oder kleine Ganz— bildungen liefern (S. 149), — ſie bilden den einen Anfang. Die Methode
Küſters, aus angeſchnittenen Oberhautzellen der Zwiebel die „Proto-
plaſten“ (den beweglichen Zellinhalt) austreten zu laſſen und zu ver— ſchmelzen, iſt der zweite Anfang; durch ſolche Zellverſchmelzung könnte es gelingen, dem Gebilde eine Lebensfähigkeit zu verleihen, die ihm ſonſt außerhalb des Gewebsverbandes nicht zukäme, — in gleicher Weiſe, wie es den beiden Geſchlechtszellen durch ihre Vereinigung zur befruch— teten Keimzelle gelingt, für ſich allein eine neue Entwicklungsepoche durchzuhalten.
Literatur über Wachstum:
Donaldſon, H. H., „The growth of the brain“. London und Neuyvyork, W. Scott publ. Co., 1909.
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Figdor, W., „Die Erſcheinung der Aniſophyllie“. Leipzig und Wien, F. Deuticke, 1909.
Friedenthal, H., „Beiträge zur Naturgeſchichte des Menſchen“. Jena, G. Fiſcher, ab 1908.
Friedenthal, H., „Arbeiten aus dem Gebiet der experimentellen Phyſio— logie“. Jena, G. Fiſcher, ab 1909.
Kaeſtner, S., „Die Entſtehung der Doppelbildungen des Menſchen und - der höheren Wirbeltiere“. Jena, G. Fiſcher, 1912.
Kellicott, W. E., „The growth of the brain and viscera in the smooth dogfish (Mustelus canis, Mitchill).“ Americ. Journal of Anatomy VIII Nr. 4, p. 319-353, 1908.
Korſchelt, E., „Regeneration und Transplantation“. Jena, G. Fiſcher, 1907.
Marchand, F., „Der Prozeß der Wundheilung mit Einſchluß der Trans— plantation“. Stuttgart, F. Enke, 1901.
Minot, Ch. S., „The Problem of age, growth and death‘. Neuyork und London, G. P. Putnams Sons, 1908.
Morgan, Th. H., „Regeneration“. Deutſch von M. Moſzkowski. Leipzig, W. Engelmann, 1907.
Nemee, B., „Studien über die Regeneration“. Berlin, Borntraeger, 1905.
Rubner, Max, „Das Problem der Lebensdauer und ſeine Beziehungen zu Wachstum und Ernährung“. München und Berlin, R. Oldenbourg, 1908.
Weismann, A., „Tatſachen und Auslegungen in bezug auf Regeneration“. Anatomiſcher Anzeiger XV. Jena, G. Fiſcher, 1899.
Williamſon, Ch. H., „On the Larval and Early Young stages, and rate of growth of the Shore- crab (Carcinas maenas)“. XXI. Annual Report of the Fishery Board for Scotland. Part. III, p. 136 - 177, 1903.
Winkler, H., „Anterſuchungen über Pfropfbaſtarde“. Jena, G. Fiſcher, ab 1912.
(Vgl. auch die Literatur zum folgenden Kapitel über „Entwicklung“, ferner
die Schriften von Mae Dougal im V., von Loeb, Steinach, Tand—
ler und Groß im VIII., von E. Schultz im IX. Kapitel.)
143
VII. Entwicklung (Embryogeneſe)
1. Furchung, Keimblätter- und Organbildung
Im vorigen Kapitel ſahen wir davon ab, daß die Fertigſtellung eines neuen Individuums nicht bloß Größenzunahme, ſondern auch „Entſtehung wahrnehmbarer Mannigfaltigkeit“ (Roux) bedeutet. Ganz rein war ja dieſe Abſtraktion nicht durchzuführen, von der wir uns bewußt bleiben müſſen, daß ſie eine begriffliche iſt, metho— diſcher Darſtellung zuliebe vorgenommen. Der größte Teil von Vor— gängen im Werden des jungen Lebeweſens, die keine bloßen Größen— ſchwankungen, ſondern Form- und Funktionsänderungen bringen, bleibt trotzdem noch dem gegenwärtigen Kapitel reſerviert. Dabei müſſen wir uns große Beſchränkung auferlegen: es gibt Tauſende von Tier- und Pflanzengruppen, die ſich in ihrer Form wohl unterſcheiden laſſen; gilt dies von der Geſtalt des ausgewachſenen Organismus, ſo natürlich auch vom Weg, der zu ihrer Erreichung führte. Seine Verfolgung iſt Gegenſtand einer ſpeziellen Wiſſenſchaft, der vergleichenden Entwicklungs— geſchichte (komparativen Embryologie); die allgemeine Biologie kann davon, getreu ihrer Benennung und Beſtimmung, nur das aufnehmen, was ganz großen Lebenskreiſen gemeinſam iſt. Gemeinſam ſind wenig— ſtens allen vielzelligen Tieren die erſten Entwicklungsſchritte, und dieſe alſo haben wir hier kennen zu lernen.
Die Entwicklung beginnt mit einer einzigen Zelle, die ſich abteilt, „furcht“. Die erſten Furchungsſtadien (Abb. 28) bezeichnet man nach der jeweils erreichten Zellenzahl, ſpricht alſo vom Zwei- Vier-, Acht, Sechzehnzellenſtadium; die abgeteilten Zellen heißen Furchungs— kugeln („Blaſtomeren“) und teilen ſich gleichzeitig; daher kann es kein Drei-, Fünfzellenſtadium u. dgl. geben. In kurzer Zeit entſteht ein
kugelförmiger Haufen ſelbſt wieder annähernd kugelförmiger Zellen, das
Maulbeerſtadium („Morula“).
Die in ſeinem Innern befindlichen Zellen bleiben nicht dort; ſie drängen peripheriewärts, zur Oberfläche, wo ſie mit der Amgebung in Berührung und ſo in günſtigere Ernährungs- und Atmungsbedingungen kommen. Im Innern entſteht dadurch ein Hohlraum, die primäre Leibeshöhle („Blaſtozöl“), die von einer einſchichtigen Zellenlage in Form einer Kugelſchale („Blaſtoderm“) allſeitig abgeſchloſſen iſt. Die ganze Entwicklungsſtufe iſt das Blaſenſtadium („Blaſtula“).
Wenn es ſo weit iſt, war die Größe der Furchungskugeln nicht mehr durchweg gleich geblieben, ſondern die am vegetativen Pol (S. 134) 144
abgeſchnürten Zellen ſind größer ausgefallen als die übrigen. Iſt die Größendifferenz unbedeutend, ſo durchſchneiden die Furchen das geſamte Eimaterial, und wir konſtatieren totale, adäquale Furchung (Abb. 28, obere Reihe — bei dotterarmen Eiern, Eiern der Schwämme, Neſſeltiere, Stachelhäuter, niederen Würmer, Manteltiere, Lanzett— fiſchchen und Säugetiere). Iſt viel Dotter vorhanden (bei Rippen quallen, einigen Ringelwürmern, Weichtieren, Schmelzſchuppern, Neun—
Abb. 28. Drei Typen der Eifurchung: Obere Reihe: totale adäquale Furchung beim Lanzettfiſchchen Amphioxus (das kleine Körnchen obenauf iſt ein NRichtungskörper— chen): A ungefurchtes Ei, B Zweizellen-, C Vierzellenſtadium von der Seite, D letzteres von unten, E Achtzellen-, F Sechzehnzellenſtadium. — Mittlere Reihe: totale in- äquale Furchung beim Neunauge, vom Vierzellenſtadium (A) angefangen zu vor— gerückteren Furchungsſtadien (C, D). — Untere Reihe: partielle diskoidale Fur— chung beim Huhn (nur der „Dotter“ mit „Keimſcheibe“, auf die ſich das Einſchneiden der Furchen beſchränkt, iſt vom Vierzellenſtadium an dargeſtellt).
(Aus Guenther, „Vom Urtier zum Menſchen“.)
augen und Amphibien), fo greifen die Furchen nur langſam durch, und die Zellen des Dotterpoles werden noch größer, weil inzwiſchen die Teilungen am Kernpol fortſchritten: wir haben immer noch eine totale, jedoch inäquale Furchung vor uns (Abb. 28, mittlere Reihe). Iſt das Ei noch reicher an Dotter (Kopffüßler, Haie, Knochenfiſche, Rep— tilien, Vögel), ſo vermögen ihn die Furchen nicht zu zerteilen, die Fur— chung beſchränkt ſich dann auf eine flache, die Gegend des Kernpoles einnehmende „Keimſcheibe“, die durch eine niedrig ſpaltförmige Furchungs— höhle vom Dotter geſchieden iſt: partielle, diskoidale Furchung (Abb. 28, untere Reihe). Endlich iſt bei den Gliedertieren eine be—
Kammerer, Allgemeine Biologie 10 145
fondere, ebenfalls durch große Mengen an Nahrungsdotter bedingte Form der Furchung ausgebildet, die fuperfiziale Furchung. Hier beſchränkt ſich der Dotter nicht auf den vegetativen Pol, ſondern iſt im ganzen Amkreiſe des Eies verbreitet; die Furchung geht im Innern vor ſich, aber die Furchungszellen trennen ſich voneinander und wandern an die Oberfläche, wo ſie ſich zum Blaſtoderm gruppieren; ein Blaſtozöl gibt es dann nicht, denn die geſamte Furchungshöhle wird vom Dotter ausgefüllt.
Die größeren Zellen der Dotterregion ſtreben nun wieder nach innen: war eine Furchung vorausgegangen, die mit ſehr viel, den größten oder ganzen Teil der Leibeshöhle einnehmenden Dotter zu kämpfen hatte, ſo beteiligen ſie ſich nicht aktiv, ſondern gelangen dadurch ins Innere, daß ſie von den ſeitlich vom animalen Pol nachdrängenden kleinen Zellen überwachſen werden („Epibolie“). In anderen Fällen be— wirkt der Platzmangel, der ſich als Folge der fortgeſetzten Zellvermehrung einſtellen muß, daß einzelne Zellen aus dem Blaſtoderm ins Innere gedrängt werden, entweder nur am vegetativen Pol („unipolare Einwanderung“) oder an mehreren Punkten ( multipolare Einwanderung“); im Innern vermehren ſich dann die eingewan— derten Zellen und bilden einen ſoliden Zellhaufen. Noch einfacher iſt es, wenn ſämtliche Zellen des Blaſtoderms ſich parallel zur Oberfläche, alſo konzentriſch teilen, ſo daß mit einem Male aus der einſchichtigen eine zweiſchichtige Blaſe geworden iſt („Delamination“). Der bei weitem häufigſte Fall jedoch (Abb. 29) folgt einer annähernd äqualen Furchung und verläuft ſo, daß ſich die Zellen der Dotterregion in Form eines Kugelſegmentes einſtülpen („Invagination“!). Jetzt hat der Keimling aufgehört, Kugelgeſtalt zu beſitzen; auch die primäre Leibes— höhle iſt nicht mehr rund, ſondern abgeflacht, — oft ſo ſtark, daß ſie nahezu ſchwindet. Dafür iſt durch die Einſtülpung eine neue, mit der Außenwelt kommunizierende Höhle entſtanden, die Ardarmhöhle („Gaſtrozöl“): wo keine Einſtülpung dazu führt, alſo bei der Einwan— derung und Aberwachſung, fehlt fie entweder oder bildet ſich nachträg— lich, indem zwiſchen den inneren Zellenmaſſen ein Spalt entſteht, der nach außen durchbricht. Das Entwicklungsſtadium, welches ſomit alles in allem dadurch gekennzeichnet iſt, daß die Einſchichtigkeit des Blaſen— ſtadiums einer Zweiſchichtigkeit gewichen iſt, heißt nach ſeiner Geſtalt das Becherſtadium („Gaſtrula“).
Zugleich ſehen wir die erſte Arbeitsteilung zwiſchen den Zellen ein—
getreten; deshalb nennt man auch die beiden Zellſchichten, aus denen der Becher beſteht, „Primitivorgane“ oder, weil ſpäter alle anderen Organe daraus entkeimen, „Keimblätter“. Das innere Keimblatt oder Darmblatt („Entoderm“) dient fortan vorwiegend der Verdauung, heißt daher auch „Ardarm“, und die Offnung, durch die es nach außen mündet, „Armund“; das äußere Keimblatt oder Hautblatt („Ekto— derm“) dient als ſchützende Bedeckung, — bei Tieren, die auf dem Becherſtadium ſchon frei ſchwimmen, vorläufig auch zur Bewegung, indem auf jeder Zelle ſchlagende Wimpern oder Geißeln wachſen.
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29. Bildung des Bech Koralle: Links im ganz
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Zwiſchen innerem und äußerem Keimblatt entſteht nun ein drittes, das mittlere Keimblatt („Meſoderm“). Bei den Hohltieren be— ſchränkt es ſich auf Abſcheidung einer gelatineartigen Maſſe, der „Stütz— gallerte“, ſeitens der Innenflächen der anderen Keimblätter; auch etliche ihrer Zellen verlaſſen den feſten Zuſammenſchluß und wandern in jene Gallerte ein (S. 152, Abb. 30). Bei allen Tieren jedoch, die im Stamm— baum höher ſtehen als die Hohltiere, geht die Meſodermbildung viel weiter, und es entſteht ein Primitivorgan, das die Harnausſcheidung und Erzeugung von Fortpflanzungszellen übernimmt. Die dabei beob— achteten Vorgänge laſſen ſich ähnlich denen der Entodermbildung in zwei Hauptgruppen bringen: entweder löſen ſich zwei ſymmetriſch ge— legene Entodermzellen von ihren Geſchwiſterzellen los und wandern in die primäre Leibeshöhle, wo ſie ſich ſelbſtändig weiterteilen und daher gewiſſermaßen eine neue Furchung mit Morula- und Blaſtulabildung durchlaufen; nach Erreichung dieſes Stadiums haben wir alſo paarige Blaſen vor uns, die Zölomſäcke, welche eine „ſekundäre Leibes— höhle“ einſchließen, das Zölom. Oder das innere Keimblatt liefert dadurch ein Zwiſchenblatt, daß es ſich beiderſeits einſtülpt, alſo gleich— ſam für ſich zwei neue Becherſtadien bildet; allein dieſe ſchließen ſich und ſchnüren ſich dabei vom Entoderm ab, und wir haben nunmehr durch „Faltung“ dasſelbe Reſultat vor uns wie früher durch einzeln losgelöſte „Armeſodermzellen“: die beiden Zölomſäckchen mit ihren ſekundären Leibeshöhlen. Tiere, deren Rumpf eine Gliederung in hinter— einander liegende Abſchnitte (Segmente) aufweiſt, bilden ebenſoviele Paare von Zölomſäckchen, als ſie Segmente beſitzen (S. 199, Abb. 50), — in jedem Abteil ein Paar.
Die drei Keimblätter oder Primitivorgane liefern nunmehr das Material für ſämtliche Körperteile, die wir bei irgendeinem höher— ſtehenden Tiere zu ſehen gewohnt ſind: aus dem Ektoderm entſteht die Haut mit ihren Drüſen und Sinnesorganen ſowie das Nervenſyſtem; aus dem Meſoderm entſtehen die Muskeln und Stützſubſtanzen, Binde— gewebe, Sehnen, Knorpel, Knochen ſowie Blutgefäße und Geſchlechts— organe; aus dem Entoderm der Verdauungskanal (Darm) mit ſeinen Anhangsdrüſen, ferner Lunge und Nieren.
Die Vorgänge, durch die all jene Entwicklungen möglich werden,
find kaum andere als folche, die wir ſchon bei Blaſtulation, Gaſtrula-
tion und Zölombildung beobachtet haben: J. Ein- und Ausſtül— pungen, die ſich durch neue Faltungen nach innen oder außen ihrer— ſeits gliedern und durch Abſchnürung vom Arſprungsorgan zu ſelb— ſtändigen Organen werden können. Die Form der Einſtülpung beſtimmt die Form des Organes nach ſeiner gänzlichen Abſchnürung: eine falten— oder rinnenförmige Einſtülpung wird zum geſchloſſenen langen Rohr, wie Blutgefäße und Rückenmark; eine ſackförmige Einſtülpung zum rundlichen Hohlkörper, wie Geſchlechtsorgane und viele innere Drüſen. — 2. Auswandern einzelner Zellen, die ſich nachträglich wieder zu feſten Verbänden zuſammenſchließen oder ſolche durch fortgeſetzte
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Teilungen aus ſich hervorgehen laſſen, jo mitunter die Bindegewebe. — 3. Solide Wucherungen, die durch Abſpaltung (Delamination) vom Arſprungsort getrennt werden und nachträglich Hohlräume in ſich ausbilden.
Die erſten Entwicklungsſchritte bei höheren Pflanzen ſeien mit dem Hinweis abgetan, daß auch hier hochgradige Abereinſtimmung waltet; man kann auch hier von Furchung, Furchungszellen und einem kugel— förmigen „Morula“-Stadium ſprechen. Blaſtula, Gaſtrula und Zölom— bildung entfallen zwar, weil es bei Pflanzen keine primäre und ſekun— däre Leibeshöhle noch einen Ardarm gibt; doch iſt „Delamination“ der äußerſten Zellſchicht, des „Dermatogens“ (= Ektoderms der Tiere), parallel zur Peripherie in zwei Schichten ebenſo weit und allgemein verbreitet, als eben dieſer Vorgang im Tierreich (nämlich nur bei der Rüſſelqualle Geryonia beobachtet) als Ausnahme vorkommt.
2. Entwicklungsmechaniſche Verſuche
Unter Führung von O. und R. Hertwig, Pflüger und namentlich Roux entſtand zu Ende des 19. Jahrhunderts eine neue Wiſſenſchaft, die ſich zur Aufgabe ſtellte, experimentell die ganze Folge von Urfachen und Wirkungen aufzudecken, die vom reifen Ei durch den Organismus wieder zur Bildung reifer Eier hinführt: die Entwicklungsmechanik oder Lehre von den Arſachen der organiſchen Geſtaltungen, ſomit die Lehre von den Arſachen der Entſtehung, Erhaltung und Rückbildung dieſer Geſtaltungen (Roux). In ſolch weiter Faſſung wird die Entwicklungs— mechanik gleichbedeutend mit der geſamten experimentellen Morphologie; da fie ſich jedoch in ihrer erſten Zeit ganz vorwiegend an Eiſtadien be— tätigte, ſo faſſen wir ſie hier enger und nur als experimentelle Entwicklungsgeſchichte (experimentelle Embryologie).
Mit ihrer Hilfe konnte zunächſt nachgewieſen werden, daß in den Eiern bereits vor der Befruchtung verſchiedene Subſtanzen vorhanden ſind, die ſpäter organbildend wirken. Wird z. B. das Ei des Stein— ſeeigels in äquatorialer Richtung zerriſſen, fo entſtehen „Halbgaſtrulä“; aus vegetativen Stücken ſolche ohne oder mit unvollſtändigem Hautblatt, aus animalen Stücken ſolche ohne Darmblatt. Erfolgt jedoch die Zer— reißung ſenkrecht zum Aquator, fo entſtehen halbgroße „Ganzgaſtrulä“. Die in der Aquatorialgegend vorhandene Grenzzone iſt oft ſchon äußer— lich durch einen orangeroten Farbgürtel gekennzeichnet. Umgekehrt iſt der Dotter nicht als organbildende Subſtanz, ſondern nur als Nähr— plasma anzuſehen: läßt man Froſcheier, die normalerweiſe eine inäquale, aber totale Furchung zeigen, mit Hilfe eines Zentrifugenapparates im Kreiſe wirbeln, ſo kann der ganze Dotter, weil ſchwerer, in der vege— tativen Eiregion zuſammengedrängt werden, wenn entſprechende Orien— tierung des Eies vorgenommen worden war; und nun verläuft die Fur— chung wie bei einem Vogelei diskoidal und partiell, aber es entſteht ſchließlich ein normaler Keimling.
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Weiterhin wurde darüber experimentiert, wovon die Richtung der einzelnen Furchen abhängt. Roux ließ Samen längs einer Seiden— ſchnur an beliebig gewählte Stellen des Froſcheies herantreten; ſtets greift dann die erſte Furche in der Ebene des „Befruchtungs— meridianes“ ein, der durch den Kernpol und die Eintrittsſtelle des Samens beſtimmt iſt; ſenkrecht zu dieſer Ebene teilt ſich der Kern. In Eiern, wohin die Samenfäden nicht an beliebiger Oberflächenſtelle ein— dringen können, ſondern wo dieſe Stelle durch eine kleine Eingangs— pforte („Mikropyle“) feſtgelegt iſt — wie im Ei des Seeigels — da iſt natürlich auch die Befruchtungs- und die mit ihr zuſammenfallende erſte Furchungsebene von vornherein beſtimmt. Der Grundſatz: die Furchungsebene ſteht ſenkrecht auf der Achſenebene der geteilten Kerne, gilt auch für die weiteren Furchungen; dieſe Achſe aber ſtellt ſich ſtets in den längſten Durchmeſſer ein. Der Beweis dafür kann durch Preſſung der Eier zwiſchen Glasplättchen erbracht werden: während gewöhnlich meridionale mit äquatorialen (bei diskoidaler Fur— chung radiäre mit zirkulären) Furchen abwechſeln, ſtehen ſie dort alle— ſamt parallel zur Druckrichtung (ſenkrecht zur Glasplatte), weil die Kerne ſich parallel zur Glasplatte, entſprechend dem in dieſer Richtung aufgezwungenen größten Eidurchmeſſer, geteilt hatten; es entſteht eine zellige Platte, deren Blaſtomeren alle in einer Ebene ausgebreitet liegen. Zwiſchen lotrechten Glasplatten find ſämtliche Furchen Aquatorial-, zwiſchen wagrechten Platten Meridionalfurchen, — aufrecht:vertifale Lage des Eies in beiden Fällen vorausgeſetzt.
In chemiſcher Beziehung ſind es namentlich die Kalzium- und Natriumſalze, welche die normale Anordnung der Furchungskugeln (nach Plateaus Geſetz der kleinſten Oberfläche) ermöglichen, indem ſie teils den Zuſammenhalt erhöhen, teils die notwendige Auflockerung ge— ſtatten. In kalziumfreiem Seewaſſer trennen ſich die Furchungskugeln voneinander (Herbſt), in außerdem natriumfreiem unterbleibt dies; zer— fallene Furchungskugeln, neuerdings in kalkhaltiges Waſſer gebracht, vereinigen ſich wieder. Die Eier des Fiſches Fundulus entwickeln ſich in deſtilliertem Waſſer ebenſogut wie in normalem Seewaſſer, nicht aber in ſolchem, das entweder nur Kalzium oder nur Natrium enthält: die Wirkung dieſer Stoffe iſt demnach eine antagoniſtiſche.
Sonſtige entwicklungsmechaniſche Verſuche gehen hauptſächlich dar— auf aus, dem Ei beſtimmte Teile zu entnehmen, z. B. einzelne Fur— chungskugeln zu iſolieren, um nun zu ſehen, inwieweit ſich der Neft oder der entnommene Teil weiter zu entwickeln imſtande iſt. Daran, was dem Entwicklungsreſultat des Reſtes zu einem ganzen Keimling etwa fehlt, erkennen wir, was aus dem weggenommenen Teil hätte werden ſollen, — ſeine „proſpektive Bedeutung“ (Drieſch); daran, was alles aus dem weggenommenen Teil trotz Fehlens des Reſtes werden kann, erkennen wir ſeine „proſpektive Potenz“. Beim Seeigel kann noch jede Furchungskugel des Vierzellenſtadiums, durch Schütteln oder kalkfreies Seewaſſer iſoliert, einen ganzen Seeigel liefern; ihre pro—
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ſpektive Potenz iſt alſo viel größer als ihre proſpektive Bedeutung, iſt ebenſo groß wie die des ganzen Eies. Beim Froſch dagegen liefert ſchon die eine Furchungskugel des Zweizellenſtadiums, wenn die andere durch Anſtich verläßlich abgetötet iſt, nur einen halben Embryo; meiſt eine linke oder rechte Hälfte, — ein Beweis, daß die erſte Furche mit der Symmetrieebene des entwickelten Tieres übereinſtimmt und mithin, nach dem früher Gehörten, Links und Rechts durch die Eintrittsſtelle des Samenfadens beſtimmt wird. Seltener liefert die eine Froſch— blaſtomere eine vordere bzw. hintere Embryohälfte, in welchem Falle die erſte Furche mit der Sagittalebene des fertigen Tieres zuſammen— fiel. Hier iſt die proſpektive Potenz der Furchungskugeln nur etwa ebenſo groß wie ihre proſpektive Bedeutung. Zwiſchen den Extremen, wo ein Bruchſtück ſchon alles, und wo es nur genau ebenſoviel zu leiſten vermag, als ihm in normaler Entwicklung zukäme, gibt es viele Aber— gänge, wo ein Bruchſtück in verſchiedenen Graden zwar mehr, als ihm ſonſt vorgeſchrieben, aber nicht alles leiſtet. Dem Seeigel analog ver— halten ſich die Eier der übrigen Stachelhäuter, ferner der Neſſeltiere, Schnurwürmer, des Lanzettfiſches, Neunauges und der Knochenfiſche, ſowie der Molche, vorausgeſetzt, daß die erſte Furche der Symmetrie— ebene entſpricht. Mehr oder weniger dem Froſch analog verhalten ſich die Eier der Nippenquallen, Rund- und Ringelwürmer, Weich- und Gliedertiere, der Manteltiere und der Molche, wenn hier die erſte Furche der Transverſalebene entſpricht.
Worauf beruhen dieſe Einſchränkungen in der proſpektiven Potenz, zumal ſie, wie aus der Aufzählung erſichtlich, mit der Stammesgeſchichte nichts zu tun haben? Sie können, beſonders bei Trennung ſpäter Furchungsſtadien, darauf beruhen, daß in einer Furchungskugel nicht mehr alle erforderlichen Stoffe vorhanden ſind, weil ſie bereits auf ver— ſchiedene Zellen verteilt worden ſind; ſie können aber, namentlich bei Iſolierung erſter Furchungsſtadien, auch nur darauf zurückgehen, daß die organbildenden Stoffe, als Vorbereitung ihrer ſpäteren Aufteilung in verſchiedene Zellen, einſtweilen in verſchiedene Regionen derſelben Zelle gewandert ſind und nicht wieder in diejenige gegenſeitige Lage gebracht werden können, die ſie im ungefurchten und unverletzten Ei eingenommen hatten. Iſt aber eine ſolche Amlagerung tunlich, dann ſind die Furchungskugeln ohne weiteres „alles vermögend“ (toti— potent); zuweilen kann künſtlich nachgeholfen werden, um nachträglich die proſpektive Potenz zu vergrößern: dieſen Fall finden wir beim Froſchei. Frei ſich ſelbſt überlaſſen, iſt es ſtets ſo orientiert, daß ſein ſchwarzes Feld nach oben, ſein weißlichgelbes nach unten blickt; die dunkle Subſtanz iſt nämlich dotterärmer und leichter, die helle dotter— reicher und ſchwerer (nicht aber ausſchließlich dotterführend, — vgl. den früher referierten O. Hertwigſchen Zentrifugenverſuch!). Fixiert man das Ei ſo, daß der gelbliche, ſchwerere Pol nach oben, der ſchwärzliche, leichtere nach unten gedreht verharren muß (DO. Schultze), fo findet im Innern ein Abſinken der hellen, ein Aufſteigen der dunkleren Subſtanz
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ſtatt, bis der frühere Zuſtand hergeſtellt if. Wird der Rourfche Ver— ſuch mit dem Schultzeſchen kombiniert, d. h. werden Zweizellenſtadien von Fröſchen, deren eine Furchungskugel durch Anſtechen getötet iſt, zwangsweiſe umgedreht, ſo iſt damit die Möglichkeit einer Neuordnung der verſchieden ſchweren Subſtanzen herbeigeführt, und nun liefert jede Furchungskugel einen ganzen Keimling.
Daß iſolierte Bezirke ſich überhaupt weiterentwickeln; daß manche Eier dies in deſtilliertem Waſſer und bei Zuſatz verſchiedener, hier nicht beſonders aufgezählter Chemikalien tun; daß der richtende Einfluß der Schwerkraft, wie zentrifugierte Eier beweiſen, dem Eintwicklungsverlauf nichts anzuhaben vermag: dies zuſammen beweiſt, in welchem Grade
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gerade die Eientwicklung — viel mehr als die ſpätere — von äußeren Faktoren unabhängig iſt. Das Ei und ſeine Keimbezirke bieten in vollem Maße das Bild einer „Selbſtdifferenzierung“.
3. Biogenetiſche Rekapitulationsregel
Im Abſchnitt „Furchung, Keimblätter- und Organbildung“ wurde geſagt, daß die Furchungsſtadien einſchließlich Blaſtula und Gaſtrula allen vielzelligen Tieren gemeinſam ſeien. Die meiſten gehen ja über die Gaſtrula noch weit hinaus (die Leibeshöhlentiere oder Zölo— maten); andere dagegen (die Hohltiere oder Zölenteraten) bleiben zeitlebens auf dem Becherſtadium ſtehen. Am klarſten iſt dies bei einer Qualle erſichtlich (Abb. 30): hier haben wir mit ganz geringen Ab— änderungen eine richtige Gaſtrula, die mit dem (durch ein Schlundrohr etwas nach innen verlagerten) Armund nach unten im Meere ſchwebt
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DDD Abb. 31. Schematiſcher Längsſchnitt durch einen Süßwaſſerpolypen (Hydra): ec Ektoderm, en Entoderm, c Neſſelzellen. Zwei Knoſpen, die linke eben als Ausbuchtung der Leibeswand angelegt, die rechte ſchon größer und mit Fangarmen, aber Mundöffnung
noch nicht in den Magenraum (Ardarm, Gaſtrovascularraum) durchgebrochen. (Aus Guenther, „Vom Urtier zum Menſchen “)
und die Bechergeſtalt auch im übrigen beibehalten hat, bis auf die Be— reicherung durch Fangarme, die im Amkreiſe des Mundes abwärts hängen und dem leichteren Beuteerwerb dienen. Im Gegenſatz zur Qualle iſt der Polyp (Abb. 31) ein aufrechtſtehender Becher, mit dem
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Armund nach oben, der andere Pol zur Fußplatte gewandelt, womit das Tier ſich an der Unterlage feſtſaugt; ſonſt wieder faſt keine Zutat als der den Mund umgebende Fangarmkranz. Stärker abgeändert iſt der Becherbau beim Schwamm (Abb. 32): nach einem freiſchwimmend verlebten Blaſenſtadium ſetzt ſich das Tier nicht mit dem Fußpol, ſon— dern mit dem Mundpol feſt, — der Urmund verwächſt und an ſeiner Stelle bilden ſich in der Leibeswand zahlreiche Kanäle, die mit feinen Poren (daher der Name „Porentiere“) nach außen münden und durch einen Flimmerapparat (betrieben in den Geißelkammern von den eigen— artigen „Kragenzellen“) das Waſſer zum Einſtrömen bringen. Am freien Pol, der alſo dem verſchwundenen Armund gerade gegenüber liegt, bricht eine neue Offnung durch, das „Oskulum“, bei welchem das zu den Poren herein— beförderte Waſſer nach Entnahme ſeines Ge— haltes an Nahrungs— partifeln wieder zum Ausfluſſe gebracht wird. Wenn nun alle e vielzelligen Tiere ein Urs Rn I Gaſtrulaſtadium durch- 1 HIN 5 GGG laufen, das beim
Abb. 32. Schematische Längsſchnitte durch einzeln lebende Stamm der Hohltiere Schwämme: links durch einen niederen Schwamm, rechts ſchon Endſtadium iſt,
f 2 A in Stingalerte, 1 Poren (Einfuhröffnungen, a oeruum ſo hat wahrſcheinlich (Ausfubröffnung), A Ausfuhrraum, sk Geißelkammern, in dieſem Tierſtamm T em Zorfaßt gelebt der die typische Becher—
form beſaß und von dem ſich alle übrigen Tiere ableiten, — die heutigen Hohltiere mit geringen, die höheren Tiere mit bedeutenden Abänderungen und Fortſchritten. Jenen mutmaßlichen, gemeinſamen Ahn nennt Haeckel „Gaſträa“, das Arbechertier; und die dargelegte ſtammesgeſchichtliche Anſchauung iſt ſeine berühmte „Gaſträatheorie“. Aber nicht nur das Becherſtadium wird von allen vielzelligen Tieren in jedem Indi— viduum wiederholt, ſondern allgemein wiederholt jede höherſtehende Tier— und Pflanzengruppe die vorausgehenden Stadien einſchließlich der nächſt tieferſtehenden Gruppe. In dieſer Erweiterung wird die Gaſträatheorie zum „biogenetiſchen Grundgeſetz“, deſſen grundlegendſte Stütze ſie bleibt. Seine kürzeſte Faſſung lautet: Die Keimesgeſchichte (Entwicklung des Individuums) iſt eine gedrängte Wiederholung der Stammesgeſchichte (Entwicklung der Gruppen). Auch der menſchliche Organismus ähnelt am Beginne ſeiner Entwicklung — als Keimzelle — dem Artier; ſpäter wird er zum Hohltier (Gaſtrula), noch ſpäter zum Wurm; abermals ſpäter bekommt er Kiemenſpalten und Kiemenbogen wie ein Fiſch, von welch letzteren unſer Zungenbein ein Reſt iſt, abnormerweiſe aber auch
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noch mehr zurückbleiben; endlich auf vorgeſchrittener Stufe der Embryo: geneſe iſt die Frucht irgendeines Säugetieres noch kaum von der einer Menſchenmutter zu unterſcheiden. Obwohl Darwin, der dieſe Regel— mäßigkeit „Nekapitulationstheorie“ nannte, und Fritz Müller, der fie an Krebstieren ausführlich begründete, die keimesgeſchichtliche Wiederholung ſtammesgeſchichtlicher Hauptſtationen ſchon früher erkannt hatten, ver— dankt ſie doch erſt Haeckels tiefer entwicklungsgeſchichtlicher Kenntnis die Anwendung auf alle Tier- und Pflanzenſtämme.
Die Entwicklung einer Bohne aus dem Samen läßt aber doch an— ſcheinend jede Andeutung dafür vermiſſen, daß die Blütenpflanzen eine Ahnenreihe von den Sporenpflanzen herauf durchmeſſen haben? —: die neuen Studien zeigen immer mehr, daß die vermißten Durchgangsſtufen nur wegen ihrer ſtarken Verkümmerung nicht aufgefunden werden konnten, trotzdem aber vorhanden ſind. Betrachten wir zuerſt die Entwicklung eines Farnkrauts (Taf. I, Fig. 5): auf dem Farnwedel (a) entſtehen Sporen (b, c), aus denen ohne Befruchtung ein anfangs algen- (d), dann moosähnlicher (e, f, g) Vorkeim wächſt: hier alſo offenbart ſich das biogenetiſche Grundgeſetz zwanglos. Die Vorkeime erzeugen männ— liche und weibliche Keimzellen (h, i) — manchmal ein und derſelbe Vor— keim beiderlei (f), manchmal nur je einerlei — die aus ihrer Verſchmel— zung neue Farnwedel (g) hervorſprießen laſſen. Auch die höchſten Blütenpflanzen beſitzen Vorkeime, und zwar getrenntgeſchlechtliche; aber ſie ſind ganz kümmerlich geworden und bleiben dauernd in den Fort— pflanzungsorganen der Blüten eingeſchloſſen (S. 213, Abb. 56): in den Fruchtblättern liegt der weibliche Vorkeim als „Nährgewebe“ (Endo- ſperm) mit der Eizelle; die Staubblätter liefern den männlichen Vor— keim, der als „Pollenſchlauch“ die Samenzellen durch Narbe und Griffel zu den Eizellen hinunterführt. Nach anderer Auffaſſung hätte man das Pollenkorn ſelbſt als männlichen, den ganzen Embryoſack in der Samenknoſpe als weiblichen Vorkeim zu bezeichnen; an der Gültigkeit des hier vorgebrachten Prinzips wird durch dieſe Auffaſſungsverſchieden— heit natürlich nichts verändert.
Welch feine ſtammesgeſchichtliche Anterſcheidungen das biogenetiſche Grundgeſetz wahrzunehmen geſtattet, erhellt aus folgendem Beiſpiel: Felsklippen der Adria beherbergen dunkle Abarten der auf dem Feſt— land grünen, braunftreifigen Wieſeneidechſe (Lacerta serpa); von bloßer Verdüſterung zu einfarbigem Pechſchwarz gibt es ſämtliche Aber— gänge (vgl. auch S. 285, Abb. 77), und nirgends zwei Inſeln, deren Bewohner einander gleichen. Auf Brusnik lebt eine Form, deren er— wachſene Männchen bis auf blaue Bauchrandſchildchen kohlſchwarz ſind; die Jungen aber zeigen die ſcharfe Längsſtreifung der Stammform, nur iſt die Grundfarbe nicht grün, ſondern braun, — Spuren der Streifung erhalten ſich noch beim erwachſenen Weibchen. Auf Kamik und Pomo jedoch erſcheinen die Eidechſen beiderlei Geſchlechtes ganz ſchwarz; erſt die friſch dem Ei entſchlüpften Jungen belehren, daß eigentlich die Form von Kamik den Endpunkt der Schwärzung (des „Melanismus“) dar—
ſtellt; die von Pomo befigen nämlich noch die Streifenzeichnung, die von Kamik nicht mehr oder nur ſehr undeutlich.
Wichtige Beiträge zum biogenetiſchen Grundgeſetz liefert die Re— generationslehre: nicht nur beim erſtmaligen, ſondern auch beim noch— maligen Wachstum wiederholen ſich frühere, teils keimes-, teils ſogar ſtammesgeſchichtliche Zuſtände (hypotypiſche und ataviſtiſche Re— generationen). Bleiben wir dei den geſchwärzten Inſelraſſen der Eidechſe: ihr Schwanz beſitzt im Falle der Regeneration auf einer Zwiſchenſtufe häufig die lichte Färbung und Zeichnung der Stammform. Es gelang mir durch künſtliche Mittel, den ganzen Schwärzling („Ni— grino“) in dieſe Stammform aufzuhellen: dann wiederholt einige Zeit noch der fertig nachgewachſene Schwanz die urſprüngliche Dunkel— färbung. Nicht die Farbe, ſondern die Schuppengeſtalt des regenerierten Echſenſchweifes verhalfen Werner zu Vermutungen über verwandtſchaft— liche Zuſammenhänge der Gattungen und Familien. Die Fangheu— ſchrecke tritt in zwei Hauptfärbungen auf: Grün und Braun. Während der Larvenentwicklung kann dasſelbe Exemplar von einer zur anderen Farbe übergehen; regeneriert nun die braun gewordene Schrecke ein Bein, ſo wird es zuerſt grün; umgekehrt das einer grün gewordenen zuerſt braun.
Regenerationsvorgänge beweiſen manchmal das Walten des bio— genetiſchen Grundgeſetzes, wo es auf anderem Wege zu verſagen ſcheint: der ſchwarzgelbe Erdmolch, an deſſen Farbkleid ſich durch Haltung auf gelbem bzw. ſchwarzem Grund gleichſinnige, erblich werdende Verſchie— bungen im Bereiche der beiden Farbenbezirke vornehmen laſſen, trägt den annähernden Typus ſeines endgültigen Zeichnungsmuſters ſchon gleich nach Verwandlung aus der noch nicht gelbſchwarzen, ſondern braungrauen Salamanderlarve. Schneidet man nun Hautſtückchen heraus, ſo regeneriert für gewöhnlich, wie nicht anders zu erwarten, gelbe Haut gelb, ſchwarze ſchwarz, ſcheckige zweifarbig unter Einhaltung der Grenz— konturen. Hat man aber ein Stück gelbe Haut entfernt, die vorher ſchwarz geweſen war, ſo nimmt die Erſatzhaut zunächſt Anlauf, wieder ſchwarz zu werden; dann bildet ſich unter dem ſchwarzen eine Schicht gelber Farbſtoff, es entſteht als zweite Durchgangsſtufe eine ölgrüne Interferenzfarbe, die ſich ſchließlich zu Reingelb aufhellt. Hat man ein Stück ſchwarze Haut entfernt, die vorher gelb geweſen war, ſo zeigt die nachgewachſene Haut das Beſtreben, wieder gelb zu werden; dann erſt bildet ſich zwiſchen dem gelben ſchwarzes Pigment, es entſteht als zweites Durchgangsſtadium eine ſchmutzig graugelbe Miſchfarbe, die ſich endlich zu Tiefſchwarz verdüſtert. Dieſe Ereigniſſe beziehen ſich auf farbenunwirkſame Böden. Entfernt man jedoch gelbe, vorher ſchwarz geweſene Haut, und das Tier lebt während des Heilungs— prozeſſes auf gelbem Grund, fo entfällt das erſte, total ſchwarze Durch— gangsſtadium; es entſteht übereinander gelagertes ſchwarzes und gelbes Pigment gleichzeitig, — der ölgrüne Fleck, der jetzt in ſehr kurzer Zeit das reingelbe Endſtadium erreicht. Entſprechend umgekehrt nach Ent: 156
fernung ſchwarzer, gelb geweſener Haut und Haltung auf ſchwarzem Grund. So gewährt uns das Experiment mehr, als wir anfangs forderten: nicht nur die Gültigkeit des biogenetiſchen Grundgeſetzes zeigt es, ſondern verſchafft uns außerdem die Einſicht, warum wir in der Keimentwicklung ſo oft Formen miſſen, die unbedingt zu ſeinen Ahnen gehört haben, — es geſtattet urſächlichen Einblick ins Getriebe, wo die Natur Spuren der Stammesgeſchichte in der Individual— geſchichte verwirrt, verwiſcht, verfälſcht, — durch Neuerwerbungen („Caenogeneſis“) von außen den alten inneren Gang (Palin— geneſis“) verändert.
Aber nicht bloß Durchgangsſtadien fallen zum Opfer, wenn das Lebeweſen neue Pfade der Anpaſſung wandelt; ſondern oft genug ſogar Reifeſtadien; und hier iſt der Punkt, wo das biogenetiſche Grundgeſetz ſeine härteſte Prüfung beſtehen muß. Ehe wir darauf ein— gehen, müſſen wir einiges über Larvenentwicklung und deren möglichen Stillſtand („Epiſtaſe“) vorausgeſchickt haben; abſchließend ſei nur noch bemerkt, daß das biogenetiſche Grundgeſetz uns in dieſen Fällen ſeine Hilfe verſagt. Es bleibt zwar gültig, wenn wir uns deſſen bewußt bleiben, daß es ja keine unveränderte Wiederholung der Ahnenformen fordert, ſondern nur eine durch ſpätere Erwerbungen modifizierte; be— trifft aber die Modifikation keine Zwiſchen-, ſondern Endſtadien, jo hört es aus Gründen, die uns bald verſtändlicher klingen werden, auf, der „Ariadnefaden“ zu ſein, der unſer Verſtändnis durchs Labyrinth der Entwicklungsformen leitet. Dieſe Beſchränkung war für Roux maß— gebend, um vom biogenetiſchen Grundgeſetz nur mehr als von einer Regel häufigen Vorkommens zu ſprechen und es demgemäß „Ontogenetiſche Rekapitulationsregel“ zu benennen. Es iſt dies nichts weiter als ge— meinſames Geſchick aller Natur-„Geſetze“ und der Lebensgeſetze im be— ſonderen: ſie ſind nicht ſtarr, ſondern den Amſtänden nach verände— rungs- und bewegungsfähig, untertan jenem größten Geſetze der An— paſſung, dem auch das biogenetiſche Geſchehen feine Wege dankt.
4. Direkte und indirekte Entwicklung
Wir ſehen die biogenetiſche Wiederholungsregel in vielen Fällen beſtätigt, wo das junge Lebeweſen nach Verlaſſen ſeiner Keimhüllen noch keineswegs dem alten gleicht, ſondern als pflanzlicher „Sämling“, als tieriſche „Larve“ noch eine Verwandlung („Metamorphoſe“) durch— machen muß, um die endgültige Form zu erreichen. Inwiefern dies in der Pflanzenwelt zutrifft, iſt im vorigen Abſchnitt berührt worden; noch ſei erwähnt, daß die erſten Blätter der Blütenpflanzen („Prim— ordialblätter“) ſich in ihrer Form von den ſpäteren oft unterſcheiden und dann biogenetiſche Spekulationen anregen, — die Hülſenfrüchtler und manche Kreuzblütler (Hirtentäſchel) ſind bekannte Beiſpiele dafür, deren Zahl bei Beſprechung der Entwicklungshemmungen noch erweitert werden ſoll.
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Die niedere Tierwelt ift reich an ſtammesgeſchichtlichen Larven: formen: die Trochophora (Abb. 33) darf, weil zwei großen Stämmen, den Würmern und Weichtieren, gemeinſam, vielleicht als bedeutſamſte gelten. Sie iſt zweiſeitig-ſymmetriſch, meiſt von verkürzt-eiförmiger Ge—
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Abb. 33. Trochophoralarve des Wurmes Poly- gordius: Wkr präoraler, wkr poſtoraler Wimper— franz, wz adorale Wimperzone, WS apikaler Wimper— ſchopf, O Mund, Oe Speijerobr, J Magen, J, Darm, ED Enddarm, A After, Neph Nierenkanälchen, Mstr Meſodermſtreifen, v.LM bauchſeitiger, d. LM rückenſeitiger Längsmuskel, de. LM Längsmuskel zur Speiſeröhre, SP Scheitelplatte, v. LN bauchſeitiger Längsnerv („Schlundkommiſſur“), n Nerven. (Nach Hatſchek.)
ſtalt. Am vorderen Kör— perende (Scheitel- oder Apikalpol) findet ſich ein Schopf kräftiger Wimper— haare (apikaler Wimper— ſchopf); ein äquatorial vor dem Munde gelegener (prä— oraler) Wimperkranz teilt die Körperoberfläche in eine vordere (Scheitelfeld) und hintere Hälfte (Gegenfeld). Hinter dem Munde liegt parallel der poſtorale Wim— perkranz; zwiſchen beiden Wimperkränzen eine Zone zarter Wimpern, die adorale Wimperzone. Vom Munde erſtreckt ſich eine Wimper— furche bis ans Hinterende (den Gegenpol): der ventrale Wimperſtreif. Häufig tritt noch ein präanaler Wim— perkranz (vor dem After) hinzu. Die Trochophora
beſitzt ein Hautnervenſyſtem mit Sinnesorganen; der hufeiſenförmige Darm beſteht aus Schlund, Mittel- und Afterdarm. — Die „Pro: trochula“, eine Larvenform der Plattwürmer, geht dem Trochophora— ſtadium unmittelbar voraus; ſie beſitzt keinen Afterdarm, und die Sonderung des Mitteldarmes in zwei Abteilungen iſt noch nicht aus— geprägt.
Die Beſchreibung der Trochophoralarve gibt Gelegenheit zum Nachtrag eines der intereſſanteſten entwicklungsmechaniſchen Experimente: wir betonten zu Anfang dieſes Kapitels, daß die Scheidung der Ent— wicklungsprozeſſe in Wachstum und Differenzierung eine rein begriff— liche Abſtraktion ſei; mitunter kann ſie aber doch konkret, die das Größenwachstum bedingende Zellvermehrung von der Organ— bildung experimentell getrennt werden. Lillie brachte an Eiern des Borſtenwurmes Chaetopterus künſtliche Entwicklung ohne Beſamung (jungfräuliche Zeugung vgl. S. 222) zuwege: dabei fanden Kernteilungen ſtatt, die aber nicht zu Abſchnürungen im Zelleib, nicht zur Furchung führten, ſo daß ſchließlich alle Kernſtücke wieder beiſammen lagen; ihre Zahl entſprach der Summe aller, die bei normaler Befruchtung in den 158
Zellen hätten liegen ſollen. Trotzdem kam es zur Entſtehung trocho— phoraähnlicher Embryonen.
Wichtige ſtammeshiſtoriſche Larvenformen beſitzen die Stachelhäuter: fie weiſen auf gemeinſamen Arſprung mit den Eichelwürmern oder Binnenatmern (Enteropneusta) hin und verbinden ſo den Stachelhäuter— typus mit dem Wurmtypus. Die Eichelwurmlarve, die „Tornariaſ“, iſt ganz ähnlich organiſiert wie die „Bipinnaria“ und „Braſchio— laria“ der Seeſterne, die „Auricularia“ der Seewalzen und die „Pluteus“ Larve der Seeigel: fie beſitzt eine doppelte Wimperſchnur und einen präanalen Wimperkranz; eine Ausſackung des Darmes bildet die Vorſtufe zum „Waſſergefäßſyſtem“, das bei jenen Tieren als Pump—
Abb. 34. Verſchiedene Inſektenlarven und ihr Arbild, das flügelloſe Inſekt Campodea (a). — b Larve einer Eintagsfliege, c eines Schwimmkäfers, d Engerling eines Maikäfers, e Schmetterlingsraupe eines Abendfalters, f Afterraupe einer Blattweſpe, g Made einer Ameiſe, h Made einer Fliege. (Nach Packard, Korſchelt-Heider und Ratzeburg aus Schmidts Wörterbuch der Biologie.)
werk die Bewegung vermittelt; am Scheitel befindet ſich eine Hautver— dickung (Scheitelplatte) mit zwei Augenflecken.
Die Inſektenlarven (Abb. 34 — z. B. Raupen der Schmetter— linge, Afterraupen der Blattweſpen, Maden der Fliegen und ſtechenden Hautflügler, Engerlinge der Blatthornkäfer) wiederholen
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Abb. 35. Neſſelfalter, kleiner Fuchs (Vanessa urticae), Raupen, links jung nebſt abgeſtreiften Häuten, rechts eine Raupe im Begriffe ſich zu verpuppen.
(Naturphotos von A. Cerny. Originale.)
innerhalb der Einſchränkungen, die Späterwerbungen mit ſich bringen, entweder die Geſtalt eines der niedrigſten ungeflügelten Inſekten („Cam— podea“-Larve der Pelz, Netz- und Trugnetzflügler) oder eines Tauſend— fußes oder Wurmes; unwillkürlich hat dem der Volksmund Ausdruck verliehen, wenn er die Schnellkäferlarven „Drahtwürmer“, die des Müllerkäfers „Mehlwürmer“, die des Kornrüßlers ſchwarze, der Korn— motte weiße „Kornwürmer“ nennt. Die Amphibien-, beſonders die Froſchlarven („Kaulquappen“) ähneln Fiſchen, während die plank— toniſch (ſchwebend) lebenden Larven vieler Krebſe (3. B. die „Zos a“ der Krabben) derart mit Anpaſſungsmerkmalen beladen ſind, daß man darin die Arſprungsform nicht mehr erkennt. („Chryſa—
Bei den lis“), wes—
Haut-, Zwei-, halb man ge—
Pelz⸗ und echten Netz— nannte Kerb— tierordnun—
flüglern, den
Käfern und gen, alſo Schmetter— ſolche mit lingen (Ab— „vollkom—
bild. 35—38) mener Ver— iſt zwiſchen wandlung“ Larve und (holometa—
bole Inſek— ten) denen noch ein Sta— mit „uns dium einge— vollkom—
ſchaltet, die Abb. 36. Neſſelfalter, kleiner Fuchs (Vanessa mener Ver— urticae), Puppen („Stürzpuppen“). d u P u p b e (Nuturphotograpbie von A. Cerny, Original.) wand lu ng
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Volltier („Imago“)
(hemimetabole Inſekten) gegenüberſtellt. Bei dieſen, den Trugnetz-, Gerade- und Lederflüglern, den Kau- und Schnabelkerfen geht die Larve durch Vermittlung einer „Nymphe“, die ſich von der Larve nur durch Beſitz von Flügelſtummeln unterſchei— det, allmählich ins Volltier über. Anter den Holometa— bolen kann die Stadienglie— derung in Larve, Puppe und Imago gelegentlich — Pflaſterkäfer! — als Aber— verwandlung (Hyper— metamorphoſe“ — Fabre) durch Hinzutreten von zweier— lei aufeinanderfolgenden Lar—
wichtigſten Merkmale, damit von einer Puppe geſprochen werden kann, werden im vorübergehen— den Verzicht auf Orts— bewegung und Einſtel— lung der Nahrungsauf— nahme geſehen; laſſen wir nur das letztere Merkmal gelten — und dazu ſind wir gezwun— gen, denn ſchon manche Inſektenpuppen, am mei— ſten die der Mücken, ſind ſehr beweglich —, ſo fällt die Schranke, welche dieſen diskontinu— ierlichen Entwicklungs— gang als ausſchließliches Eigentum der holometa—
bolen Inſekten von dem Abb. 38. Neſſelfalter, kleiner Fuchs (Vanessa
anderer, ſich indirekt ent— urticae), Schmetterling, vor kurzem ausgeſchlüpft, noch - - auf jeiner leeren Puppenhülſe ſitzend. wickelnder Tiere trennt. (Naturphotographie von A. Cerny, Original.)
Kammerer, Allgemeine Biologie 11 161
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Wohl bei allen Verwandlungen erleidet der Nahrungserwerb vor ihrem Eintritt eine Unterbrechung; ja die Hungerepiſode wird für Durchführung der Metamorphoſe urſächlich, indem ſie die Aufſaugung larvaler Ge— webe ermöglicht; dementſprechend ſind die Imaginalſtadien gewöhnlich zunächſt merklich kleiner als die voraufgegangenen Larvalſtadien. Die vollendete Reſorption der Reſerveſtoffe aus den Samenlappen („Kotyle— donen“) der Pflanzen iſt das Signal für wichtige Umgeftaltungen der Belaubung im Sinne der Erreichung ihrer definitiven Geſtalt; das Faſten führt den „Metanauplius“ der niederen Krebſe von ihrer Naupliuslarve zur Endform, bringt das „Megalops“ Stadium der höheren, kurzſchwän— zigen Krebſe von der Zosalarve zur fertigen Krabbe, veranlaßt bei der vierbeinig gewordenen Kaulquappe das Schrumpfen des langen Ruder— ſchwanzes. „LUnfer Froſch,“ ſagt Looß, „kann während feiner Ver— wandlungszeit gar nicht freſſen ... genau aus demſelben Grunde, wie er für eine Schmetterlings- oder Fliegenpuppe maßgebend und hier allgemein bekannt iſt . . . Denn während der Verwandlung iſt bereits die Mundöffnung einerſeits weder imſtande, die Nahrung aufzunehmen, welche die Kaulquappe genoß; durch die Entwicklung der knöchernen Kieferbogen des ausgebildeten Froſches ſind die Bewegungsmuskeln der hornigen Larvenkiefer außer Tätigkeit geſetzt, dieſe ſelbſt aber ſitzen nur noch ziemlich loſe den Mundrändern auf und vermögen nicht mehr an feſten Gegenſtänden zu nagen; noch iſt ſie andererſeits in der Lage, die Nahrung des erwachſenen Froſches zu erbeuten und feſtzuhalten ... der Darm vom Beginn des Oeſophagus bis zu ſeiner Erweiterung ins Rectum war ſtets und ausnahmlaos leer.“
Viele Gründe ſprechen dafür, die indirekte („heteroblaſtiſche“) Entwicklung mit Vorſtadien und Verwandlung als das urſprüngliche, die direkte („homoblaſtiſche“) Entwicklung, wobei die Organiſation des neugeborenen Lebeweſens bis auf Dimenſionsverſchiebungen der des alten gleicht, als das abgeleitete Geſchehen aufzufaſſen. Wie läßt ſich nun der Übergang von der einen zur anderen verſtehen? Wenn gewiſſe flügelloſe Inſekten, z. B. die Bettwanze, nach dem Verlaſſen des Eies ſchon das verkleinerte Abbild des erwachſenen Tieres darſtellt, ſo iſt dies nur bedingt durch das, man möchte ſagen zufällige Fehlen des— jenigen Organes, das hier den Hauptunterſchied zwiſchen Larve und Imago ausmacht, — eben der Flugwerkzeuge. Das iſt alſo nur dem Scheine, nicht dem Weſen nach direkte Entwicklung; dies Weſentliche ergibt ſich vielmehr dadurch, daß immer mehr Vorſtadien noch im Ei durchlaufen werden, zuletzt mit Einſchluß der Metamorphoſe. Be— zeichnend iſt, wie einander naheſtehende Formen, von denen die einen im Meere lihrer eigentlichen Heimat) leben, die anderen ins Süß— waſſer oder ans Feſtland wanderten, ſich in ihrer Entwicklung ver— halten: Schritt für Schritt läßt ſich insbeſondere bei den Würmern, Weichtieren und Krebſen verfolgen, wie die Meeresformen eine kom— plizierte Verwandlung durchmachen (3. B. Nerels als Ringelwurm, Hummer als Krebs, marine Schnecken), während die Binnenformen ſich 162
direkt entwickeln (z. B. Regenwurm, Blutegel, Flußkrebs, Sumpfdeckel— ſchnecke).
Beim Abergang vom Waſſer- zum Landleben zeigen die Fröſche dasſelbe: in dem Maße, als ſie ihre Entwicklung außer Waſſer verlegen und dadurch von ihrem heimatlichen Elemente unabhängig werden, ſchlüpfen die Larven ſpäter aus dem Ei. Man kann die ge— wöhnliche Froſchentwicklung nach den Fortſchritten der Atmungs-, Be— wegungs- und Ernährungswerkzeuge in folgende Perioden zerlegen: reine Hautatmung; Entſtehung äußerer Kiemen; Erſatz durch innere Kiemen und Lungen; Hervorſprießen der Hinter-, der Vorderbeine; Abhäuten des Hornkieferapparates und Erſatz durch das breitklaffende Froſchmaul; Schrumpfen des Schwanzes. Anſere weſteuropäiſche Ge— burtshelferkröte (Alytes) verläßt das Ei auf dem fußloſen Stadium mit inneren Kiemen — desgleichen unſer Laubfroſch, wenn durch Waſſer— entzug künſtlich dazu gezwungen! Bei experimenteller Steigerung des Vorganges, Beſchleunigung der Embryonalentwicklung durch Wärme, Verzögerung der Ausſchlüpfbewegungen durch Finſternis und Feuchtig— keitsmangel, verläßt die Geburtshelferkröte das Ei erſt auf dem Stadium mit Hinterbeinen; ein ſüdamerikaniſcher Baumfroſch (Hyla goeldii) ver— läßt es als vierbeinige Quappe mit langem, der Antillenfroſch (Hylodes) mit Stumpfſchwanz, ein großer Froſch der Salomonsinſeln (Pana opisthodon) bereits ganz ohne Schwanz. Weitere Stufen dieſes Pro— zeſſes, bzw. Begleiterſcheinungen desſelben, ſind Lebendgebären und Brutpflege, wovon erſt im nächſten Kapitel die Rede ſein ſoll. Am den Keimling eine um ſo vieles längere Zeit in ſich behalten und er— nähren zu können, muß das Ei reich mit Dotter ausgeſtattet und daher größer ſein, was hinwiederum mit Einſchränkung der Eierzahl Hand in Hand geht. Im Pflanzenreich ſehen wir den analogen Prozeß im Auftreten von Reſerveſtoffen im Samen, teils als freies „Endo— ſperm“, teils gebunden an die 1—15 „Kotyledonen“; ganz in dieſen Nährgeweben eingebettet liegt der Keimling, bereits deutlich in Würzelchen, Stämmchen und Knöſpchen geſondert und daher zu mehr minder „direkter“ Entwicklung bereit.
5. Entwicklungshemmung (Epiſtaſe)
Alle Entwicklungsvorgänge ſind nicht nur durch den Amfang der Ent— wicklungsarbeit, ſondern einigermaßen auch durch die Zeit beſtimmt, in der ſie jene Arbeit leiſten; und durch die Reihenfolge, in der die ein— zelnen Organbildungen auftreten. Der Schmetterlingsſammler weiß genau, wie lange dieſe oder jene Raupe zur Verpuppung braucht und wie lange ihre Puppenruhe dauert; der Viehzüchter kennt die Trächtig— keitsdauer ſeiner Haustiere, der Landwirt berechnet beim Säen im vor— aus die Zeit der Ernte. Freilich unterliegt dieſe Zeitbeſtimmung Schwankungen, die ihrerſeits von den verſchiedenſten äußeren und inneren Einflüſſen, als Klima, Geſundheits- und Ernährungszuſtand, bedingt
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ſind. Eine Raupe oder Kaulquappe, die zu wenig zu freſſen bekommt, oder zwar genug, aber nicht die richtige Nahrung — Raupe etwa nicht die ihr zuſagende Futterpflanze, Quappe nur vegetabiliſches Futter ohne Fleiſch —, befindet ſich monatelang mit all ihren Organen und Ge— weben, ihrem Größen- und Geſamthabitus auf gleichem Stadium wie zu Beginn der Not: fie iſt zur kränklichen Kümmer-, in unferem Beiſpiel zur Hungerform geworden.
Es gibt aber Einflüſſe, die den Organismus zwingen, Jugend— ſtadien beizubehalten, ohne daß er im übrigen eine Herabminderung feiner Konſtitution erfährt; Einflüſſe, die fein Wachstum ungehemmt fortſchreiten laſſen, aber den Differenzierungen Halt gebieten, — wo— durch abermals, wie bei Lillies Trochophoralarven aus ungefurchtem Ei, die ſonſt nur abſtrakt zu ſcheidenden Grundprozeſſe der Entwicklung, Größenzunahme und Differenzierung, getrennt wären. Wie das gemeint iſt, zeigt eine Kaulquappe, die ebenſo raſch oder ſogar raſcher wächſt als der verwandelte Froſch; die aber immer noch waſſerlebende, kiemen— atmende Quappe iſt zu einer Zeit, da fie längſt am Ufer hüpfen ſollte. Allerdings leiſtet ſie auch Entwicklungsarbeit: bekommt ihre Gliedmaßen, nach Abwurf der Hornkiefer ihr klaffendes Froſchmaul, — atmet aber neben Lungen immer noch durch Kiemen und beſitzt noch den mächtigen Larvenſchwanz. Man nennt das Feſthalten einzelner oder vieler in— fantiler Merkmale über den normalen Termin hinaus „Neotenie“ und ſpricht von partieller Neotenie, wenn die Verwandlung noch vor Geſchlechtsreife ſchließlich eintritt; von totaler Neotenie, wenn die Jugendform als ſolche fortpflanzungsfähig wird und ſich dann meiſt überhaupt nicht mehr verwandelt.
Neotenie iſt im Tier- und im Pflanzenreich weit verbreitet. Am auffälligſten iſt ſie bei indirekter Entwicklung, weil das Behalten von Larvencharakteren ſtärker abſticht als das Stehenbleiben eines relativ untergeordneten Merkmals bei Lebeweſen, die im großen und ganzen von der Geburt an gleich ausſehen. Wenn Molch-, Froſch- und In— ſektenlarven in ihrem Zuſtande verbleiben, iſt es ſinnfälliger, als wenn Lachsforellen, ſtatt im Meere das „Lachsſtadium“ zu erreichen, in Flüſſen und Seen nicht übers „Forellſtadium“ hinausgehen; und wenn ein Menſch neoteniſch wird, indem er ſein Milchgebiß nicht wechſelt oder das Aberbleibſel eines Kiemenbogens behält. — Gut ausgeprägte Neo- tenien bei Pflanzen beginnen jetzt erſt die Aufmerkſamkeit der Bo— taniker auf ſich zu lenken: die Froſchlöffelgewächſe haben zuerſt ſpreiten— loſe, band- oder ſchleifenförmige, meiſt unter Waſſer verbleibende Blätter, während die ſpäter über den Waſſerſpiegel treibenden Blätter in Stiel und lanzett- bis pfeilförmige Spreite geſondert ſind; im tiefen Waſſer perſiſtieren die Schleifenblätter, und dennoch werden Blütenſtände an— gelegt, die mit ihren Schäften das Niveau erreichen und ſich zu nor— malen Blüten entfalten. Die phyllodineen Akazien treiben in der Jugend fiedrige Blätter, ſpäter nur noch blattartig verbreiterte Stengel— gebilde (Phyllodien), und erlangen erſt im letzten Stadium die Blüten—
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reife; in feuchten Waldgebirgen können aber die gefiederten Jugend— blätter behalten und die ſpäter doch erſcheinenden Phyllodien auf wenige Stellen unterhalb der Blütenſtände beſchränkt werden.
Geſchlechtsreife Jugendformen kommen noch in anderer Weiſe zuſtande als dadurch, daß die Weiterentwicklung entſprechend lange ver— ſchoben wird; nämlich auch dadurch, daß die Geſchlechtsreife ſelbſt ent— ſprechend verfrüht wird. Dann liegt nicht Neotenie, ſondern „Pro— geneſe“ vor: Neotenie iſt die Erhaltung kindlicher Charaktere beim Erwachſenſein, Progeneſe Eintritt der Zeugungsreife vor dem Erwachſen— ſein. Obwohl beide Erſcheinungen ihrem Weſen nach geradezu gegen— ſätzlich ſind und dementſprechend auch durch konträre Arſachen zuſtande kommen, ſind ſie in der Praxis, beſonders wenn man die Arſachen nicht kennt, ſchwer zu unterſcheiden; mit Rückſicht darauf nennt Jäkel beide zuſammen mit demſelben Namen: „Epiſtaſe“. — Progeneſe liegt vor, wenn ein Säugling bereits funktionierende Geſchlechtsteile beſitzt („Pu - bertas praecox); wenn beim ſchmarotzenden Wurm Gyrodactylus bis 4 Generationen (ähnlich auch beim Leberegel, S. 239, Abb. 70) in— einander geſchachtelt liegen, weil ſchon die Embryonen ſelbſt wieder Embryonen enthalten, und wenn die Gallmücken ſchon als Larven Eier legen („Pädogeneſis“); ſowie bei der zweimaligen Geſchlechtsreife der Rippenquallen, die darin beſteht, daß die Larven kurz nach Ver— laſſen der Eihülle geſchlechtsreif werden und befruchtete Eier legen, gleichzeitig aber heranwachſen, — allmählich unterbleibt dann die Er— zeugung von Samen und Ei, die Larve verwandelt ſich, und das Tier wird nachher nochmals geſchlechtsreif („Diſſogonie )).
Das eigenartige Intereſſe der epiſtatiſchen Erſcheinungen erſchöpft ſich nicht in ihrer keimesgeſchichtlichen Bedeutung; ſondern ſicherlich iſt ihnen in der Stammesentwicklung eine große Rolle zugefallen. Zuerſt ereignen ſie ſich nur an wenigen Individuen einer Art, wenn dieſe von entwicklungshemmenden Einflüſſen getroffen werden; ſo an der Molch— larvenbevölkerung eines Tümpels, der kalt, tief und dunkel iſt und deſſen Waſſer dabei die nötige Atemluft und genügende Nahrung enthält. In mehreren Fällen (mexikaniſcher Axolotl, Geburtshelferkröte, Augen— troſt) iſt aber nachgewieſen worden, daß jene individuelle und akzidentelle Epiſtaſe erblich und dann durch Verbreitung des Ent— wicklungsſtillſtandes auf ſämtliche Nachkommen zur generellen und habituellen Epiſtaſe wird. Dementſprechend finden wir unter jetzt lebenden, ja unter ausgeſtorbenen Tieren und Pflanzen viele Arten und Gruppen, die kaum anders als durch Erblichwerden von Hemmungs— zuſtänden erklärt werden können. Das Beibehalten der Wimperkränze beim Wurm Ophryotrocha puerilis, der Vorniere beim Seebullen, Flughahn und Sandälchen, — die zweizeilige ftatt ſpiralige Beblätte— rung bei manchen Eukalypten iſt hierher zu rechnen; ferner ſind die „Appendikularien“ geſchlechtsreife Larvenformen der Seeſcheiden, die Kiemenlurche ſolche der Lungenmolche. Das Lebermoos Metzgeriopsis pusilla iſt ein weitergewachſener Vorkeim, der hier den eigentlichen
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Vegetationskörper darſtellt, ſtatt wie ſonſt nur ein vorübergehendes Stadium. — Bei alledem iſt zu beachten, daß die Rückſtands— formen nicht etwa Rückſchlägen („Atavismen“) gleichzuſetzen ſind, die eine getreue Wiederholung des Ahnenzuſtandes in ſich ſchließen: ſondern Epiſtaſe muß ſtets etwas Neues oder wenigſtens neue Kombination alter Merkmale herbeiführen; erſtens weil nicht alle Merkmale gleichmäßig und gleichzeitig ſtehenbleiben, vielmehr einige retardiert werden, andere ſich weiterentwickeln; zweitens weil die Jugendformen ſchon an und für ſich fo viele ſpät erworbene („caenogenetifche”) Anpaſſungsmerkmale aufweiſen, daß fie genau in dieſer Form eben nur als Durchgangsſtadium zu einer anders aus— ſehenden Folgeform, nicht aber ſelbſt als geſchlechtsreife, abgeſchloſſene Formen eriſtierten.
Die erbliche Feſtlegung der Rückſtandsformen kann auch in der Weiſe erfolgen, daß bloß die Möglichkeit, nach Belieben infantile Organe beizubehalten oder weiterzubilden, faſt in jedem Exemplar einer Art veranlagt wird; das berühmteſte zoologiſche Beiſpiel für annähernde Verwirklichung dieſer weitgehenden Möglichkeit iſt der mexikaniſche Axolotl (Amblystoma mexicanum), von dem in der Natur zwei grundverſchiedene fortpflanzungsfähige Formen auftreten: eine Waſſer- oder Larven- und eine Land- oder eigentliche Molchform. Noch plaſtiſcher find die „amphibiſchen Pflanzen“, von denen beim Waſſer— knöterich (Polygonum amphibium) und Waſſerhahnenfuß (Ranunculus aquatilis) tatſächlich jedes Exemplar nach Belieben ſubmers oder terreſtriſch leben kann und je nachdem ſeine verſchiedenen Blattformen entwickelt.
Die Möglichkeit oder Neigung zu Epiſtaſen kann ferner auf ein beſtimmtes Geſchlecht, in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle aufs weibliche, beſchränkt ſein; die Männchen ſind faſt überall ver— änderlicher und fortſchrittlicher, — man darf ſich darüber nicht täuſchen, wenn vielfach Weibchen, wie bei Lurchen und Kerfen, größer werden; das iſt einmal bedingt durch die Notwendigkeit, umfangreiche Eierſtöcke unterzubringen, — und dann hat, wie wir bereits zur Genüge wiſſen, ſtärkeres Wachstum mit der Differenzierungshöhe nichts zu ſchaffen. Dies in Rechnung gezogen, kann man ſagen, daß bei größeren Ge— ſchlechtsunterſchieden das Weibchen faſt überall eine in der Entwicklung ſtehengebliebene Jugendform darſtellt; man verſteht es am beſten, wenn man etwa an die Haarverteilung des reifen menſchlichen Weibes erinnert, die durchaus auf der Stufe des fünfzehnjährigen Jünglings verharrt, bis dann im Klimakterium aus Gründen, die wir erſt im fol— genden Abſchnitt würdigen werden, manchmal ein Amſchwung in männ— liche Richtung (Bart alter Frauen u. dgl.) nachgeholt wird. Aus— nahmen von der Regel, die das Weibchen als epiſtatiſche Form des Männchens anſehen laſſen, ergeben ſich erſt, wenn die Lebensbedingungen derartige ſind, daß auch beim Männchen oder vielleicht ſogar nur beim 166
Männchen Epiſtaſe eintreten muß. Nun gehören zu denjenigen Ein— flüſſen, die durch ihre günſtigen, das Größenwachstum befördernden Ernährungsbedingungen Epiſtaſe hervorrufen, namentlich noch Sym— bioſe (Genoſſenſchaft auf Grund gegenſeitiger Vorteile) und Paraſitis— mus (Genoſſenſchaft auf Grund einſeitiger Vorteile). And hier findet ſich der kraſſeſte Fall, wo das Männchen infolge des Schmarotzerlebens bei ſeinem eigenen Weibchen vollkommen ſtationäre Larvenform geblieben iſt: der Sternwurm Bonellia viridis, von dem neueſtens Baltzer ſogar experimentell nachweiſen konnte, daß die Larven noch nicht geſchlechtlich beſtimmt ſind, ſondern ſich zu Männchen entwickeln, wenn ſie Gelegen— heit haben, ſich am Rüſſel eines Weibchens feſtzuſetzen; ſonſt aber werden ſie zu Weibchen.
An Geſchlechtsunterſchieden läßt ſich zeigen, wie leicht Entwick— lungsſtillſtände (Epiftafen) mit Entwicklungs rückſchritten (Ata— vismen, Rudimenten) verwechſelt werden können. Manche Inſekten, jo Leuchtkäfer („Johanneswürmchen“), Froſtſpanner, Küchenſchabe uſw., haben Weibchen mit kümmerlichen oder ganz verkümmerten Flügeln und ſehen deshalb einigermaßen larvenähnlich aus. Anter die Epiſtaſe— fälle könnte man ſie aber nur einreihen, wenn dieſe Flügel auf unent— wickelter Stufe ſtehengeblieben wären, während ſie ſich in Wahrheit rückentwickelt haben; hingegen ſind die Erſatzkönige und -königinnen der Termiten als Nymphen mit Flügelſtummeln, deren Geſchlechts— organe vor der Zeit gereift ſind, ſowie die flügelloſen Fang- und Ge— ſpenſtſchreckenarten wohl echte Epiſtaſen.
Wie verhält ſich nun zu den Epiſtaſen das biogenetiſche Grund— geſetz? Seine Gültigkeit an und für ſich wird durch ſie nicht erſchüttert, weil es bei richtiger Würdigung des Verhältniſſes zwiſchen reiner Ahnenform (Palingeneſe) und ſpäterer Zutat (Caenogeneſe) nicht dar— auf ankommen kann, ob Zwiſchen- oder Endſtadien durch caenogenetiſche Anpaſſungsvorgänge unterdrückt wurden. Aber die Verwendbar— keit des Geſetzes zur Entwirrung der Stammesverwandtſchaften hat gelitten. Nehmen wir die Entwicklung der vorhin erwähnten Akazien: ſie beginnt mit Fiederblättern, die allmählich durch Blattſtielverbreite— rungen (Phyllodien) erſetzt werden; hier geſtattet die biogenetiſche Regel den Schluß, daß ſie von Formen abſtammen, bei denen die Entwicklung mit den Fiederblättchen bereits fertig war. Es gibt aber auch phyllo— dine Akazien, die es nicht mehr zur Bildung von Phyllodien bringen, ſondern auf der Stufe mit Fliederblättern ſtehen bleiben: ſie ſtammen von phyllodienbildenden Akazien ab, aber die biogenetiſche Regel verrät es uns nicht, weil in ihrer Keimesgeſchichte das phyllodientragende Durchgangsſtadium fehlt, trotzdem es in der Stammesgeſchichte als Endglied vorhanden war. Genau ſo iſt es bei den Amphibien: es gibt ſicherlich Lungenmolche, die von Kiemenmolchen abſtammen und das kiementragende Stadium als Durchgangsſtation aufweiſen; aber auch Kiemenmolche, die von Lungenmolchen abſtammen und denen ein lungen— atmendes Durchgangsſtadium abgeht.
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6. Innerſekretoriſche Formbildung
Die beiden Arten der Epiſtaſe, hochgradige Beſchleunigung der Keimreife (Progeneſe) und hochgradige Verzögerung der Körperreife (Neotenie) ſind Verſchiebungen in der Normalfolge der Organentwicklung mit Beziehung auf das Geſchlechtsorgan. Es können aber, wahrſcheinlich auch ohne Anteil oder Anſtoß der Keimdrüſe, noch andere Organgruppen die Reihe ihrer Entwicklung vertauſchen. Hierher würde das wiederholt berichtete Auftreten von Flügeln und fertigen Extremitäten an Maden und Larven, ſowie das Erhaltenbleiben von Raupenfüßen an Puppen zu rechnen ſein. Es entſpringt daraus die Frage: Welche Einflüſſe ſind denn eigentlich für das „richtige“ Zu— ſammentreffen der Stadien in den einzelnen Organen und Geweben maßgebend, von denen wir ja aus entwicklungsmechaniſchen Verſuchen wiſſen, daß ſie ſich größtenteils durch „Selbſtdifferenzierung“ entwickeln?
Suchen wir dieſe Frage noch einmal in betreff der Epiſtaſe zu be— antworten, weil hier Fortſchritte in ihrer Löſung für den Gegenſtand des jetzt in Rede ſtehenden Abſchnittes beſonders lehrreich ſind. Was bei einem Aberblick unſerer Erfahrung Zuerſt auffällt, ſind äußere Einflüſſe, wie die der Ernährung, Temperatur und Feuchtigkeit; diesbezüglich läßt ſich folgende Regel ableiten: diejenigen Faktoren, die dem Wachstum (rein als Größenzunahme genommen) günſtig ſind, ziehen ein Beibehalten der Jugendform nach ſich; Faktoren dagegen, die jenes vegetative Wachstum hemmen, löſen zugleich eine Frühreife der ge— ſchlechtlichen Fähigkeit aus. Die gewöhnliche Kombination günſtiger und ungünſtiger Faktoren ergibt dann die „normalen“ Entwicklungs— termine, wenn wir ſolche überhaupt abſtrahieren können.
Nun ſchien es, wie bei den meiſten formbildenden Einflüſſen, ſo auch bei denen, die Epiſtaſe hervorrufen, als ob ſie ſich letzten Endes alle auf Ernährung zurückführen ließen: jede Anderung der Lebens— weiſe, die infolge Beunruhigung eine Nahrungspauſe eintreten ließ, ſo auch das Austrocknen der Gewäſſer mit Zugrundegehen der Nahrungs— organismen als Begleiterſcheinung, beſchleunigt die Metamorphoſe; jede andere, die für regelmäßige Aſſimilation (Luftgehalt reichlichen Waſſers) oder geringe Diſſimilation (Kälte und Dunkelheit) Sorge trägt, verzögert die Metamorphoſe. Neueſte Unterfuchungen von Gudernatſch, Babäk, Adler und Romeis laſſen jetzt erſehen, daß auch hier noch nicht das letzte Glied in der Arſachenkette gefunden war, ſondern je nachdem die Er— nährung, vielleicht auch unmittelbar manch anderer Faktor, das Wachs— tum der Drüſen mit innerer Sekretion („endokrine Drüſen“, vgl. S. 103, 104) befördert oder nicht, wirken dieſe Drüſen befördernd oder hemmend auf die Geſamtentwicklung. Durch Verfütterung von Schild— drüſenſubſtanz wird die Verwandlung außerordentlich beſchleunigt, durch ſolche des Brieſels (Thymus) verzögert oder verhindert; Entfernung der Thymus läßt die Geſchlechtsorgane ungewöhnlich groß werden und regt die Schilddrüſe zu vermehrter Tätigkeit an; Entfernung des Hirn— 168
anhangs (Hppophyfe) erzeugt Rieſenlarven, die ſich nicht verwandeln, letzteres jedenfalls mittelbar durch gleichzeitige Verkümmerung der Schild— drüſe; Entfernung der Zirbeldrüſe (Epiphyſe) zwingt die Larven, ſchneller zu wachſen und zeitig in die Verwandlung einzutreten, die aber un— vollendet bleibt.
Dieſe wenigen Worte machen bereits darauf aufmerkſam, daß die einzelnen Drüſen teilweiſe zuſammenarbeiten und durch ihre inneren Sekrete gleichſinnige formbildende Reſultate erzielen (Synergiſten), teilweife aber einander in Schranken halten, ja zu zerſtören ſuchen (Antagoniſten). Es eriftiert alſo ein vieldrüſiges Syſtem, von dem kein Teil erkranken oder das Abergewicht erlangen darf, ohne das Gleich— gewicht der übrigen und damit den Geſamtkörper in Mitleidenſchaft zu ziehen. Die hauptſächlichen Mitglieder dieſes „polyglandulären Syſtems“ find Schilddrüſe (Thyreoidea) und Beiſchilddrüſen oder Epithelkörperchen (Parathyreoideae), Brieſeldrüſe (Thymus), Neben— nieren (Glandulae adrenales), Hirnanhang (Hypophyſis oder Gl. pitui- taria), Zirbeldrüſe (Epiphyſis oder Gl. pinealis), ſowie eine Reihe drü— ſiger Organe, die außer ihrer inneren auch äußere Sekretion beſitzen: Geſchlechtsdrüſen (Gonaden), Langerhansſche Inſeln in der Bauch— ſpeicheldrüſe, Leber, Nieren, Magen- und Darmdrüſen. Die Methoden, um in die Wirkungsweiſe des Drüſenapparates Einblick zu gewinnen, ſind uns ſamt und ſonders bereits bekannt: Ausſchaltung der von ihnen erzeugten Sekrete („Hormone“) durch teilweiſes, einſeitig oder beid— ſeitig totales Wegoperieren, allenfalls Abbinden der Gefäße; und in ihrer Wiedereinſchaltung, meiſt an fremdem Ort, durch Transplantation, Implantation, Injektion, Verfütterung oder Einlauf in den Maſtdarm. Der Einblick in ihre Wirkungsweiſe iſt durch den komplizierten Syn— ergismus und Antagonismus ſehr erſchwert; ſelten kann ohne weiteres geſagt werden, ob eine Folgeerſcheinung auf die operierte Drüſe ſelbſt zurückzuführen ſei, oder auf die vermehrte Funktion einer antagoniſti— ſchen, oder die verminderte einer ſynergiſtiſchen Drüſe. Förderung und Hemmung liegen ſogar mitunter in verſchiedenen Anteilen derſelben Drüſe beieinander: ſo produziert die Nebennierenrinde das Cholin, welches den Blutdruck herabſetzt, das Nebennierenmark Adrenalin, welches ihn erhöht.
Die Lehre von der inneren Sekretion iſt heute eine eigene Wiſſen— ſchaft geworden, die ungeheure Literaturen hervorbringt; ſie enthält aber noch viele Widerſprüche, die von der eben bezeichneten Schwierigkeit herrühren, ſowie daher, daß anſcheinend häufig das Zuviel eines Hormons ebenſo wirkt wie das Zuwenig: jo kommt es bei Fehlen oder Anterentwicklung der Schilddrüſe zur Abmagerung infolge Herabſetzung des Stoffwechſels, bei Verzehren von Schilddrüſenſubſtanz oder Aberentwicklung („Kropf“) ebenfalls zum Magerwerden, diesmal infolge geſteigerter Orydationen und beſonders geſteigerter Fettverbren— nung; auch recht häufig in beiden Fällen zu Wachstumshemmungen (Abb. 39), beſonders des Gehirnes („Kretinismus“), und teigiger Schwel—
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lung des Anterhautbindegewebes („Myrödem“). Dies Berühren der Extreme iſt nichts weiter als der chemiſche Spezialfall einer allgemeineren Erſcheinung, die wir im Kapitel „Abſtammung“ auch von Temperatur— und anderen Faktoren kennen lernen werden. Dazu kommen endlich noch Schwierigkeiten, die ſich aus verſchiedener Tätigkeit der Drüſen in verſchiedenen Altersſtufen herleiten; ſowie daher, daß Antagonismus zweier Drüſen zuweilen mit Funk— tionserſatz verwechſelt wird. So beobachtet man, daß nach Ent— d — fernung der Schilddrüſen die Beiſchilddrüſen bedeutend an Äh größer werden: man deutete dies in der Weiſe, daß die | Beiſchilddrüſen normalerweiſe vom Hormon der eigent— lichen Schilddrüſen in Schach gehalten werden, mithin als feindlichen Gegenſatz; in Wirklichkeit handelt es ſich um helfendes Ergänzen, indem die ähnlich wie die A Schilddrüſen funktionierenden Beiſchilddrüſen möglichſt ER viel von dem erſetzen, was dem Organismus durch Ausfall der erſteren entgeht. Ahnlich iſt ö das Verhältnis zwiſchen Schilddrüſe und , Brieſel: jene gelangt erſt zur Höhe ihrer ſekretoriſchen Tätigkeit, wenn dieſe zur Zeit — der Geſchlechtsreife völlig verſchwindet; aber 7 dN nicht von der mächtig gewordenen Schild:
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ddddrüſe wird die Thymus vernichtet, ſondern „ 1 von der herangereiften Geſchlechtsdrüſe, die WW NN zugleich das von Schild- und Thymusdrüſe / N gemeinſam beförderte Körperwachstum ſiſtiert. U er u Das tut die Geſchlechtsdrüſe aber hin—
wiederum nicht direkt, ſondern durch Herab— Abb. 39. Ziegen gleichen Alters 0 ‚1 EG ch 5 (vier Monate) und Wurfes (Se. ſetzung der Hypophyſentätigkeit, deren Hor⸗ ſchwiſter): dem Tiere a wurde mon — neben dem im Verein mit der Epi—
am 21. Lebenstage die Schild- 7 & Br u 8 prüfe ganz entfernt, b nor- phyſe ausgeübten Fettanſatz die Ber:
males Kontrolltier. knöcherung hemmt: ſolange aber das Skelett Ne Eiſelsberg aus Przibre „ . 2 2 eee benran, noch teilwpeiſe knorpelig bleibt, beſonders im
Bereiche der Fugen zwiſchen Schaft und Knorren der Gliedmaßenknochen —, ebenſolange kann die Längen— zunahme der Knochen noch fortſchreiten, die ja aber für die Ge— ſamtlänge des Körpers in erſter Linie maßgebend iſt. Der zuletzt ge— ſchilderte Gegenſatz zwiſchen Geſchlechtsdrüſe und Hirnanhang bzw. Zirbeldrüſe bringt es zuwege, wenn Kaſtraten (Perſonen mit entfernten Geſchlechtsorganen) einerſeits übermäßig groß werden, andererſeits, wenigſtens an beſtimmten Stellen, übermäßige Fettanſammlung auf— weiſen. Direkt verantwortlich ſind die Geſchlechtsdrüſen vielleicht nur für das Wachstum derjenigen Körperteile, die Hilfswerkzeuge der Zeugung oder Anterſchiede zwiſchen Männchen und Weibchen darſtellen; hierüber ſoll einiges noch im Abſchnitt „Sexualität“ des folgenden Kapitels Platz finden (S. 208, Abb. 54). 170
Die Geſchlechtsdrüſen gehören in die mehrfach erwähnte merk: würdige Gruppe der aus innen- und außenſekretoriſchem An— teil zuſammengeſetzten Drüſen; die Beſprechung ihrer äußeren Sekrete, der Eier im Ovarium, der Samenfäden im Teſtikel, bleibt gleich— falls dem Kapitel „Vermehrung“ vorbehalten. Solche Doppeldrüſen ſind ferner unter anderen noch ſämtliche Verdauungsdrüſen: die äußere Sekretion der Leber, Bauchſpeicheldrüſe und der Darmdrüſen wurde ſchon im Kapitel „Stoffwechſel“ beſprochen; doch ſei jetzt noch einiges über deren Hormonbereitung nachgetragen. Die Leber reguliert den Zuckergehalt des Blutes, indem ſie den Aberſchuß daran in ein anderes Kohlehydrat, das unlösliche und als Reſerveſubſtanz dienende Glykogen, umwandelt; bei Mangel an Zucker wird dieſer umgekehrt wieder aus einem Teil des Glykogens neu gebildet und in ſolcher Geftalt zu den Geweben transportiert. Die Langerhansſchen Inſeln der Bauchſpeichel— drüſe (Pankreas) ſind Mitarbeiter der genannten Leberfunktion: ſie liefern das Antidiabetin, ohne welches die Zuckerbildung in der Leber nicht ſtattfinden kann, ſo daß dann der Organismus an Zucker verarmen müßte. Die innere Sekretion geht gewöhnlich der äußeren parallel; Erhöhung der erſteren vermehrt auch die letztere: ſobald der Speiſebrei durch den Pförtner des Magens in den Zwölffingerdarm übertritt, alſo wenn deſſen Drüſen auf dem Höhepunkte ihrer eiweiß— ſpaltenden Fermentbildung ſtehen, entſenden ſie gleichzeitig ein Hormon zum Pankreas, der daraufhin durch den Wirſungſchen Gang Bauch— ſpeichel in den Zwölffingerdarm fließen läßt, wo er ſich mit dem Speiſe— brei miſcht. Auch in der Geſchlechtsdrüſe beſteht die Einrichtung, daß vermehrte Sekretion nach außen (erhöhte Geſchlechtstätigkeit) vermehrte Sekretion nach innen (erhöhte Ausbildung der Geſchlechtsattribute) mit ſich bringt.
Es beruhen alſo viele Vorgänge, die man ſich bis vor kurzem unter rein nervöſer Herrſchaft dachte, auf chemiſchen Einflüſſen der inneren Sekrete, die zwar von den Nervenzentren aus reguliert werden, aber auch ihrerſeits nervöſe Prozeſſe beſtimmen: ſo treten nach Ent— fernung wie bei krankhafter Vergrößerung der Schilddrüſe im ſym— pathiſchen Nervenſyſtem Störungen (Vaſedowſche Krankheit) auf; ſo bewirkt ein Plus an Markſubſtanz der Nebenniere oder Adrenalin— einführung bei geſunden Individuen Pupillenerweiterung, Sträuben der Haare und Hemmung der wurmförmigen („periſtaltiſchen“) Bewegungen des Darmes.
Künftige Erforſchung der Hormonwirkungen wird auch das Pflanzen- reich mehr als bisher in den Kreis ihrer Betrachtungen ziehen müſſen; es unterliegt keinem Zweifel, daß dort, trotzdem es an ſpezialiſierten „endokrinen Drüſen“ gebricht, innere Sekrete für geregelte Formbildung faſt ebenſo in Betracht kommen wie im Tierreich. Anverkennbare Zeichen fürs Walten innerer Sekretion ſind es hier, wenn bei alleiniger Ver— dunkelung der Samenlappen (Kotyledonen) das darunter befindliche Stengelſtück („Hypokotyl“) vergeilt, d. h. ſich unproportioniert in die
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Länge ſtreckt; umgekehrt bei ausschließlicher Verdunkelung des Hypo— kotyls die Kotyledonen durch Kleinerwerden das Merkmal vergeilter Blätter annehmen. Und wenn von zwei gegenſtändigen Blättern (3. B. der Roßkaſtanie) zuweilen nur das eine, da ſtärker belichtete Blatt ge— deiht, groß und breit wird, während das andere ſchrumpft und welkt, ſo iſt dies ſchwerlich auf bloßen Waſſertransport zurückzuführen, ſondern chemiſch wirkſamer Safttransport dürfte daran beteiligt ſein.
Die Geſamtwirkung der ſo fein aufeinander abgeſtimmten inneren Sekrete iſt keine geringere, als Wahrung der für beſtes Funktionieren des Geſamtkörpers und ſeiner Teile richtigen Körperproportionen. Ihr Optimum verrät ſich im „Ebenmaß“ der Glieder: der Arzt beginnt heute an Fehlern dieſer „Wohlgeſtalt“ ſchon äußerlich zu erkennen, wo und wann das Gleichgewicht innerer Drüſen eine Störung erlitt: bei kurzbeinigen Perſonen mit niedrigen Hüften vermutet er meiſt mit Recht, daß ſie geſchlechtlich frühreif waren, weshalb der Hirnanhang vorzeitig dem Verknöcherungsprozeß der Knorpelfugen freien Lauf laſſen mußte; bei gewiſſen fettleibigen Kindern ſchließt er wenigſtens von un— gefähr auf Aberwuchern des Hirnanhangs oder der Zirbeldrüſe (hypo— phyſäre, epiphyſäre Fettſucht), und wenn ſich das Abel zur Pubertäts— zeit nicht beſſert, auf Anterentwicklung der Keimdrüſen („Eunuchoidis— mus“) und ſo fort. Nirgends jedoch vermag innere Sekretion die Entwicklung eines Organes ſelbſtändig zu veranlaſſen oder ganz zu verhindern: ſie beſtimmt nur ſeinen Entwicklungsgrad; ihre normale Tätigkeit beſteht in Herbeiführung feiner zweckmäßigſten Größe, in der das Organ dem Organismus die beſten Dienſte zu leiſten vermag. Die Schöpfung eines neuen Individuums vollzieht ſich unter Größenentwick— lung (Wachstum) und Formentwiclung (Differenzierung): die innere Sekretion beteiligt ſich nur an der erſteren; die andere erfolgt unabhängig von Hormonen, iſt „Selbſtdifferenzierung“ der Gewebe und Organe aus den Keimbezirken der Fortpflanzungszelle. Die Aufgabe der inneren Sekrete beſteht nur darin, mit Hilfe der ihnen aus dem Keim qualitativ fertig überlieferten Erbanlagen auch quantitativ das Richtige herauszuarbeiten.
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(Vergl. auch die Literatur zum vorausgehenden Kapitel über „Wachstum“,
ſowie die Schriften von Godlewski, Halban, Kammerer, Klengel
im VIII., von Deläge und Semon im IX, von Haacke und Abel uſw.
im X. Kapitel.)
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VIII. Zeugung und Vermehrung (Reproduktion)
1. Zellteilung (Diviſion)
Zellteilung iſt die Fortpflanzung der Zellen und daher die einzige Vermehrungsart der Einzeller; auf Zellteilung beruht deshalb aber letzten Endes auch das Wachstum und jede Fortpflanzung der Viel— zeller. Wir mußten daher ſchon in den bisherigen Kapiteln ſo häufig auf dieſes Phänomen Bedacht nehmen; in großen Zügen iſt es uns bereits vertraut geworden. Im ſimpelſten Falle iſt die Zellteilung eine Zwei- und Gleichteilung (Abb. 40), wobei die Zelle nach gürtelförmiger Einſchnürung der Quere nach in zwei Hälften zerfällt, deren jede als— bald wieder die Form des Ganzen annimmt und bald auch die Größe des Ganzen zurückgewinnt. Doch kommt außer der Querteilung (Infuſorien, Flagellaten) auch Längsteilung oder „Spaltung“ vor (Kieſelalgen, manche Bakterien). And nicht immer ſind die ſich trennenden Zeile gleichgroß; iſt der eine Teil erheblich kleiner, fo ſpricht man von „Zellknoſpung“. Endlich erfolgen Teilung und Knoſpung nicht regelmäßig in zwei Stücke, ſondern bisweilen zerſchnüren ſich Zellen auf einmal in mehrere oder viele Stücke („Zerfallsteilung“, Sporulation — Abb. 41).
In allen Fällen gehen Kern und Zentralkörperchen der Teilung des Zelleibes voran. Nur bei manchen Arweſen, alternden und kranken Zellen, ſowie manchen Gewebezellen bei Pflanzen iſt die Kerntei— lung — gleichſam, als käme es hier auf Genauigkeit nicht ſo ſehr an — ein ſummariſcher Prozeß, der analog demjenigen, den wir am Zelleib ſtets beobachten, in Einſchnürung und Zerfall beſteht (Abb. 40). Der Kern bleibt währenddeſſen in ſcharfen Amriſſen ununterbrochen ſichtbar und verändert nur ſeine Geſtalt, die zunächſt biskuitförmig, dann bei ſtärkerer Streckung des die Einſchnürung bezeichnenden Verbindungs— ſtranges und ſtärkerer Verſchiebung der keuligen Enden in entgegen— geſetzte Zellpole hantelförmig ausſieht, bis endlich der Verbindungsſtrang zerreißt und die Kerne ſich zu ihrer vorherigen Form runden. Mittler— weile iſt auch die Durchſchnürung des Zelleibes vollzogen worden. Kerne, die im Ruhezuſtand nicht die rundliche oder Bohnenform be— ſitzen, nehmen im Teilungszuſtand doch die Biskoten- bis Hantelform an (z. B. der hufeiſenförmige Kern des Glockentierchens), woraus man ſchließen darf, die Rundform des Kernes, aus der die Biskuitform unmittelbar hervorwächſt, ſei ſeine urſprünglichſte.
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Schon bei vielen Ar— weſen und wohl bei ſämt— lichen normal verlaufen— den Zellteilungen der höheren Tiere, den meiſten normal verlaufenden Zell— teilungen der höheren Pflanzen treffen wir nicht die ſoeben beſchriebene, direkte oder amitotiſche Kernteilung, ſondern die genauer und kompli— zierter arbeitende indirekte oder mitotiſche Kern— teilung („Kernwan— derung“ oder Karyoki— neſe — Abb. 42, doch hier der ſchematiſchen Einfach— heit zuliebe nicht alle nachfolgend beſchriebenen Details dargeſtellth. Wenn hier die Geſamtzelle in den Teilungszuſtand über— geht, beginnt das Zentral: körperchen (Zentroſoma), das in der ruhenden Zelle auch durch künſtliche Färbemittel und ſtärkſte Vergrößerung ſchwer ſicht— bar gemacht werden kann, deutlich ins Auge zu fal— len; denn jetzt iſt es rings von Strahlen umgeben, die dadurch zuſtande kom— men, daß das Plasma ſich in ſeiner Amgebung radienförmig geordnet hat. Dies winzige Zentral— körperchen iſt es, das ſich zu allererſt — noch vor dem Zellkern — teilt; ſeine Teilhälften, ebenfalls von radiären Plasmafäden umſtrahlt, wandern zu ent— gegengeſetzten Zellpolen. In Pflanzenzellen iſt
k Kern, v pulfierende Vakuole.
eilung.
(Aus Guenther, „Vom Urtier zum Menſchen“.)
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Imöbe in ſechs aufeinander folgenden Stadien der
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Abb. 40.
zwar bis jetzt nur an wenigen Gattungen (3. B. Gingko) ein Zentral— körperchen nachgewieſen worden, grundſätzlich aber beſteht eine überein— ſtimmende Anordnung von Plasmaſtrahlen, alſo mindeſtens eine dem „Zentroſoma“ entſprechende, phyſiologiſch und energetiſch mit ihm gleich— bedeutende ns Der Kern war mittlerweile nur auffällig angeſchwollen, wobei feine Umriffe verſchwammen („DTeilungswachs— tum des Kernes“); ja, ſchließlich werden die Kerngrenzen unficht- bar, — die Kernmembran hat ſich im Plasma aufgelöſt. Etwas anderes allerdings iſt vom Kern übriggeblieben: ſchon während der Auflöſung konnte man wahrnehmen, daß ſtark färbbare Subſtanzen, die vorher wohl gleich mäßiger verteilt waren, ſich an beſtimmten Stellen zunehmend verdichteten, bis endlich ein knäuelförmig verwickelter Faden vor Augen lag (Knäuelſtadium, „Spirem“); und nun zerfällt der Faden in eine Gruppe ſchleifen-, haken-, ſtäbchen-, kugel- oder eiförmiger Kör—
2 Sr e Abb. 41. Zerfallsteilung einer Amöbe (Protomyxa aurantiaca) innerhalb einer vor— her von ihr abgeſchiedenen Kapſel (Zyſte) A; in B iſt die Zyſte geplatzt, die Tochter— zellen ſtrecken eine Geißel aus, mit der ſie fortrudern; ſpäter (die am weiteſten nach rechts gelangten) verwandeln ſie ſich in Amöben mit unregelmäßiger Pſeudopodien— bildung.
(Aus Guenther, „Vom Urtier zum Menſchen“.)
perchen, — die Kernſchleifen, Kernſtäbchen oder Chromoſomen. Della Valle hat es jüngſt ſehr wahrſcheinlich gemacht, daß die Chromo— ſomen nichts andres ſind als fließendweiche Kriſtalle; während die nicht färbbaren (achromatiſchen) Kernſtoffe aus dem Zelleib Flüſſigkeit auf— nehmen und ſich vorübergehend darin löſen, wird den färbbaren (chro— matiſchen) Subſtanzen Flüſſigkeit entzogen; ſie kriſtalliſieren aus der Löſung und werden zu ſcharf umſchriebenen Einzelkörperchen. Da ſie
wahrſcheinlich auch untereinander noch qualitativ verſchieden find, fällt
ihre Form ſo ungleich aus: den Geſtalten der Schleifenſtücke (Hufeiſen oder Haarnadeln), Stäbchen, Kügelchen uſw. begegnet man zuweilen ſogar in derſelben Zelle.
Die von den Zentralkörperchen ausgehenden, aus Filarſubſtanz be— ſtehenden Plasmaſtrahlen werden nach der Zellmitte zu ſo lang, daß ſie einander berühren und miteinander eine ſpinnrockenähnliche Figur, die „Teilungsſpindel“, erzeugen; ſenkrecht zur Spindel ordnen ſich nun die Chromoſomen in einer Ebene (Achſen- oder Aquatorial— platte) regelmäßig an; gekrümmte Schleifenſtücke wenden dabei ihre Ambiegungsſtellen dem Zentrum, die offenen Enden der Peripherie zu
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Abb. 42. Zellteilung mit indirekter Kernteilung (Mitofe), ſchematiſch: e Zentroſom, darunter der Kern. In & Zentroſom geteilt, B Knäuelſtadium, C das Knäuel in Chromoſomen zerfallen, D Aqua— torialplatte, E jedes Chromoſom längsgeſpalten, F die Spalthälften werden zu den Zentroſphären in die Pole gezogen, G beginnende Ein— ſchnürung des Zelleibs und Neuformung der Tochterkerne, H beides vollendet. Nähere Erklärung im Text, woſelbſt auch Einzelheiten an— geführt ſind, die im Schema nicht angebracht werden konnten. (Aus Guenther, „Vom Urtier zum Menſchen“.)
Kammerer, Allgemeine Biologie 12
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und zeigen auf dieſe Weiſe, in der Richtung der Spindelachſe geſehen, ins— geſamt die Form eines Sternes („Aſterſtadium“). — Jetzt zerfällt jedes Chromoſom der Länge nach in zwei Hälften; dieſe Spalthälften „wandern“ oder werden vielmehr in die beiden Pole zu den Zentral— körperchen hingezogen; die Zugkraft ſcheint von den ſich verkürzenden Spindelfäden geliefert zu werden, die ſich an die Chromoſomen heften und ſie ſo umdrehen, daß nunmehr die Schleifenwinkel nach außen, die Winkelöffnungen nach innen gekehrt ſind. Zugleich mit Spaltung der Chromoſomen begann die Einſchnürung des Zelleibes, die raſch zu Ende geführt wird; und in den definitiv getrennten Tochterzellen erfolgt die Neuordnung („Metakineſe“) der Tochterkerne, wobei dieſelben Stadien wie bei der Karyokineſe nochmals durchlaufen werden, nur in umgekehrter Reihenfolge. Die herüber- und hinübergezogenen Chromoſomen bilden dementſprechend dort die ſternförmige Tochterplatte („Doppelſtern“- oder „Diaſterſtadium“), gehen in die Knäuelform über („Doppel— knäuel“- oder „Dispiremſtadium “) und verklumpen ſchließlich wieder mit den achromatiſchen Kernſtoffen zu einem neuen, ſcharfbegrenzten und membranverſehenen Kern.
2. Zellverſchmelzung (Kopulation)
Die Protiſten eines Waſſertropfens vermehren ſich alſo durch fort— geſetzte Zerteilung ihrer einzigen Leibeszelle: aus einem Arweſen ſind in wenig Tagen Millionen geworden. Man glaubte deshalb, ſolch Einzeller ſei im Gegenſatz zum Vielzeller unſterblich; in der abertauſendſten Zellgeneration ſei immer noch dasſelbe Plasma zugegen wie in der erſten, — Plasma, das nur durch Aſſimilation ſo zugenommen hat, daß es jetzt für Millionen- und Billionenbevölkerungen ausreicht. Die beſonders von Weismann herrührende Anſicht von der Anſterblich— keit des Protoplas mas iſt jetzt namentlich durch Woodruff, der Pantoffeltierchen bis zur 4102. Generation zog, wohl endgültig wid er— legt. Zunächſt mußte man erkennen, daß auch der einzellige Leib mit dem Leben des Individuums vergängliches „Perſonenplasma“ und durch Generationen fortlebendes „Keimplasma“ beſitze, denn man ſieht bei jeder Teilung beſtimmte Partien zerfallen. Am Zelleib ſchwinden Wimpern als ſichtbarſter Ausdruck des Zugrundegehens äußerer Schichten, die nach vollzogener Teilung erneuert werden; bei doppelkernigen In— fuſorien zerkrümelt der Hauptkern und wird reſorbiert, um aus dem Kleinkern (Erſatzkern) wieder aufgebaut zu werden. Das entſpricht noch nicht dem Tod des vielzelligen Individuums, ſondern nur dem Verbrauch und Erſatz bei ſeiner phyſiologiſchen Regeneration. Aber nach Tauſenden von Teilungen werden in der Protiſtenpopulation Be— wegung, Ernährung und Wachstum träger; daher wachſen die Zellen langſamer zur Teilungsgröße heran, und auch die Teilungen erfolgen alſo in zunehmend ſchwerfälligerem Tempo. Endlich hören ſie ganz auf, und bald ſetzt ein Maſſenſterben ein: die Arweſenbevölkerung iſt 178
in einen „Depreſſionszuſtand“ geraten. Etliche Zellindividuen überleben, werden wieder friſcher und zeugen neuerdings tauſende Zell— generationen — wenngleich vielleicht etwas weniger als in voriger Teilungsperiode —, bis eine abermalige Depreſſionsperiode hereinbricht. So wiederholt ſich das Spiel; aber die Erſchöpfung, von der ein Groß— teil der Bevölkerung ergriffen war, macht ſich, nur in mählicherer Zu— nahme, auch bei den Auserwählten geltend, die den Depreſſionszuſtand zunächſt überdauerten; bei jeder folgenden Depreſſionsperiode ſind es immer weniger und mattere Exemplare, die eine neue Teilungs— periode von jeweils abnehmender Dauer eröffnen, — und ſchließlich müßte die Population ausſterben.
Denken wir uns die Zellmilliarden eines höheren Lebeweſens in alle Winde zerſtreut und jede Zelle einzeln lebend — in dieſem Zerfall beſteht ja der Hauptunterſchied des Arweſens gegenüber dem Zuſammen— halt des vielzelligen Weſens — ſo iſt der Lebenskreislauf hier wie dort derſelbe. Ob die Zellen ſich zerſtreuen und zu ſelbſtändigen Individuen werden, ob ſie aneinander haften bleiben und insgeſamt ein Individuum bilden, — ſie entgehen nicht dem Depreſſionszuſtand: im Vielzeller iſt er durch Abſchluß des Körperwachstums gekennzeichnet, denn dieſer Abſchluß beruht ja darauf, daß die Zellen ſich ganz lang— ſam oder gar nicht mehr teilen. And jenes Maſſenſterben der Ein— zeller entſpricht dem Tod des vielzelligen Individuums: nichts würde von ihm übrigbleiben, wenn nicht auserwählte Zellen ihre Friſche be— wahrt hätten und nun aus ſich das Ganze wiederherſtellten; im zu— ſammengeſetzten Organismus nennt man fie Keimzellen (Gametozyten, Gameten).
Wenn nun, wie beim Schickſal des Arweſenbeſtandes geſchildert, dieſe Zellen aus ſich allein die Kraft zur neuen Teilungs— (vielzelligen Wachstums-) Periode aufbringen, ſo iſt es das— ſelbe, als wenn aus dem Ei allein, ohne „Befruchtung“, ein neues Weſen erſteht. Tatſächlich kommt ſolch jungfräuliche Entwicklung vor, — wir werden ſie als „Parthenogeneſe“ näher kennen lernen. And nochmals, wie in der Protiſtenbevölkerung die Zahl der Teilungs— perioden, die ſolch widerſtandsfähigen Zellen verdankt werden, begrenzt iſt, ſo auch bei den Vielzellerindividuen die Zahl der Generationen, die durch jungfräuliche Entwicklung nacheinander erzeugt werden können: aus dem unbefruchteten Ei ein Exemplar, das wieder ſolche Eier legt, — ewig geht es nicht fort.
Um den Perſonentod nicht zum Generationentod werden zu laſſen, tritt etwas ein, was dem Prinzip der Vermehrung ſchnurſtracks zu widerſprechen ſcheint; nicht eine Zelle, ſondern zwei zuſammen, die ſamt ihren Kernen verſchmelzen („kopulieren“), eröffnen die neue Tei— lungs- und Wachstumsepoche. Verminderung der Zellen, die entſteht, wenn je zwei und zwei der auserwählten „Gameten“ ſich zur „Zy— gote“ vereinigen, wird von der dadurch ermöglichten Vertauſendfachung überwogen.
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Woher rührt die Kraft, die zwei Zellen in ihrer Vereinigung be— kommen, da fie fie einzeln nicht beſaßen? Die erquilite Stoffbereiche— rung, die der auf anderem Wege nicht mehr gut ernährungsfähigen Zelle geboten wird, kann es in rein quantitativer Beziehung nicht ge— leiſtet haben; bedenken wir vielmehr, daß es verſchiedene, ſtofflich feſt— gelegte Qualitäten ſind, die von den Zellen in ihre Kopulation mit— gebracht werden! Iſt die eine irgendwo krankhaft veranlagt, ſo wird um ſo kräftigere Beſchaffenheit gerade dieſes Teiles bei der anderen die Kränklichkeit hinwegſchaffen, und vice versa: gute Beſchaffenheit eines Teiles hier vermag minderwertige Konſtitution desſelben Stoffes dort auszugleichen. Die Wahrſcheinlichkeit ſpricht dafür, daß die „ſtarken“ und die „ſchwachen“ Stellen zweier zuſammenkommender Kopulations— zellen nicht gerade dieſelben ſein werden. Immerhin könnte dieſer Fall eintreten, und zwar dann, wenn kopulierende Zellen von gleicher Ur: ſprungszelle abjtammen. Die Häufung ausgezeichneter Qualitäten würde dann das Amkommen der Zellbevölkerung trotz Kopulation nicht hindern, ja nur beſchleunigen können, wenn eben auch ſchädliche Eigen— ſchaften gleichſinnig angeſammelt werden. Was vermöchte z. B. fein— ſinnigſte Irritabilität und flinkſte Beweglichkeit den Zellen zu helfen, wenn ſie nicht auch zugleich vortrefflich zu aſſimilieren verſtünden? So bietet alſo die Zellverſchmelzung Garantie gegen das Ausſterben nur, wenn keine pathologiſchen Anlagen gehäuft werden, ſondern Antüchtig— keiten des einen durch Gediegenheiten des anderen Partners aufgehoben werden. Von kopulationsbedürftigen Abkömmlingen einer gemeinſamen Arſprungszelle kann das nicht gewährleiſtet werden; vielmehr müſſen wir als Bedingung ſicheren Aberlebens die weitere Forderung erheben, daß Kopulanten von verſchiedenen Arzellen und daher aus verſchiedenen Arweſenbevölkerungen herſtammen. And abermals läßt ſich die Er— kenntnis ſchrankenlos auf den Lebenszyklus der Vielzeller übertragen: Verſchmelzung zweier Keimzellen, die aus derſelben Pflanzenblüte ſtammen („Selbſtbeſtäubung , liefert entweder ſofort ein ungünſtiges Refultat, oder es folgen einander mehrere Generationen, in deren „Raſſe— reinheit“ ſich gute Eigenſchaften unberührt und vielleicht ſogar kumuliert erhalten; aber die Zeugungskraft nimmt ab, in Degeneration aller Art findet ſolche Zucht ihr Ende. Selbſtbefruchtung iſt nur wenigen Tieren (Lungenſchnecken, künſtlich bei Seeſcheiden) möglich; aber ſchon „Inzeſt“ zwiſchen nahen, „Inzucht“ zwiſchen weiteren Blutsver— wandten bringt zu ähnliches Keimmaterial ineinander, ſo daß höchſte Ausbildung von Vorzügen zuletzt den Nachteilen nicht mehr gebietet, weil ſie es ſind, die über weitere Lebensfähigkeit negativ entſcheiden.
3. Kernvertauſchung (Konjugation)
Bei manchen Aufgußtierchen (3. B. Paramaecium, Didinium) iſt eine Einrichtung getroffen, die eine weitere Erſparung von Zellindividuen einſchließt (Abb. 43). Nicht die ganzen Zellen beteiligen ſich am Auf—
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friſchungswerk und verſchmelzen (totale Kopulation), fondern nur deren hierfür entſcheidendſte Teile, — die Kerne, welche, wie wir im Kapitel „Vererbung“ hören werden, wahrſcheinlich den geſamten An— lagenſchatz enthalten (partielle Kopulation, Konjugation). Zu dem Zwecke legen ſich die Zellen aneinander, platten ſich ab, und man könnte vermuten, dies ſei Einleitung zur unauflöslichen Ehe; allein es teilen ſich nach einer Reihe vorbereitender Veränderungen nur die Klein— kerne, je ein Stück (ſtationärer Kern) bleibt, wo es war, — das jeweils andere Stück (Wanderfern) gleitet über eine Plasmabrücke in die fremde Zelle hinüber und verſchmilzt mit deren dort verbliebenem ſtationären Kern. Das Verſchmelzungsprodukt der Kleinkernfragmente liefert einen neuen Großkern, während der alte Großkern zerfällt und verſchwindet. Nach vollzogenem Austauſch von Kernſubſtanzen trennen ſich die Konjuganten und vermögen von nun ab, gleich Kopulanten, eine neue Teilungsperiode durchzuhalten.
Die Konjugation bietet, äußerlich genommen, das Bild einer Be— gattung höherer Zwitter, die ſich wechſelſeitig befruchten, wie die Lungenſchnecken und Regenwürmer: wenn man den Begriff unfcharf faßt als vorübergehende Vereinigung zweier Individuen im Gegenſatz zur Kopulation, die deren dauernde Vereinigung bedeutet, ſo wäre die Konjugation weit verbreitet. Die Begattung aller höheren Tiere wäre eingeſchloſſen und die Befruchtung niederer Pflanzen, ge— wiſſer Pilze und Algen, von welch letzteren man eine ganze Ordnung nach ihrem häufigſten Zeugungsakt „Konjugaten“ genannt hat. Es ſind Fadenalgen, wie ſie die mächtigen „Algenfladen“ unſerer Tümpel und Gräben bilden: zahlloſe Fäden ſetzen, indem fie ſich nach allen Rich— tungen durchkreuzen, ein dichtes, watteähnliches Gewirr zuſammen, das bei Tage, infolge darin ausgeſchiedener Sauerſtoffblaſen, an die Ober— fläche emporgetrieben wird, bei Nacht wegen ausſetzender Aſſimilation, Verbrauch des Sauerſtoffs zur Atmung und Beſchwerung durch die tagsüber angeſammelte Stärke unterſinkt. Jeder Faden beſteht aus einer Kette von Zellen, die durch gleichſinnig fortſchreitende Teilungen in langer Reihe aneinander gewachſen ſind. Liegen zwei ſolche Fäden, etwa von der Schraubenalge (Spirogyra), im gehörigen Reifezuſtand parallel nebeneinander, ſo wachſen Plasmabrücken zwiſchen je zwei ein— ander gegenüberlie genden Zellen, und der Inhalt der einen fließt in die andere hinüber und verſchmilzt dort mit ihr zur „Dauerſpore“; danach wird die Verbindung zwiſchen den Fäden, indem ſie verfault, wieder aufgehoben. Faßt man den Algenfaden als Pflanzenindividuum auf, ſo haben ſich zwei Individuen vorübergehend vereinigt, mithin kon— jugiert; und da in aufeinander folgenden Zellen der plasmatiſche In— halt nicht nach gleicher Richtung überzufließen braucht, ſondern vielleicht hier nach links, dort nach rechts, ſo haben die Fäden Zellſubſtanz aus— getauſcht. Gegenüber der Infuſorienkonjugation beſtehen aber Unter: ſchiede: der Austauſch betrifft nicht Teile der Zelle, ſondern ganze Zellen eines mehrzelligen „Individuums“, das aber wegen fehlender Arbeits— 182
teilung feiner gleichartigen Komponenten beſſer als „Kolonie aus ein- zelnen Zellindividuen“ betrachtet wird. Dieſe Zellindividuen vereinigen ſich bleibend, — ſie konjugieren nicht, ſondern kopulieren. And nicht der Zellfaden als ſolcher erhält ſich infolge der ſtattgefundenen Ver— ſchmelzung am Leben, — im Gegenteile, er verweſt; ſondern nur die | Verſchmelzungsprodukte überdauern als dickwandige Sporen alle jetzt etwa einſetzenden ſchlechten Bedingungen — Froſt oder Dürre —, um zu gegebener Zeit einen ganz neuen Algenfaden aus ſich hervorkeimen zu laſſen. Scheidet man ſolche Fälle aus, die von der Botanik viel— fach als „Konjugation“ geführt werden, ſo gelten ſie ebenſo wie die Keimzellenverſchmelzung der Tiere als „Kopulationen“, und die echte Konjugation büßt als Spezialerſcheinung der Infuſorien ihre allgemeine | Bedeutung ein. Wichtig iſt fie zur Einſicht in die Tatſache, daß es bei der auffriſchenden Zeugung hauptſächlich auf die Zellkerne ankommt, da ja am Wanderkern höchſtens eine verſchwindende Menge Zellplasma adhäriert, wenn er in die andere Zelle abgeſchoben wird.
4. Geſchlechtlichkeit (Sexualität) a) Geſchlechtertrennung (ſexuelle Differenzierung)
Bisher hatten wir vorausgeſetzt, daß kopulierende Zellen — zwar nicht ihren inneren Anlagen, aber dem Amfang und Ausſehen nach — einander gleich find („Iſogamie“); auch die Konjugation kann, falls wir im Kern das allein Maßgebende erblicken, hier noch eingerechnet werden. Indes bemächtigt ſich die allgegenwärtige Arbeitsteilung auch der Gameten: war die Doppelarbeit der Beiſtellung erforderlichen Keim— materiales und des gegenſeitigen Auffindens urſprünglich von gleichen Zellen in gleicher Weiſe zu leiſten, jo ſehen wir ſchon bei manchen Ur- weſen jene zweifache Arbeit in qualitativer Weiſe aufgeteilt, indem ſehr kleine „Mikrogameten“ das Suchen und Finden, große „Makrogameten“ | die Materiallieferung und damit die Dauerfähigkeit übernehmen. Dieſer Anterſchied zwiſchen kopulierenden Zellen („Heterogamie“) kommt morphologiſch in folgender Weiſe zuſtande: die eine Zelle oder Zell— kolonie teilt ſich in langſamem Rhythmus, behält alſo in jedem Teilungs— intervall genügend Zeit, um zur vollen Größe heranzuwachſen, liefert demzufolge relativ große, maſſige, ſehr lange teilungs- und lebensfähig bleibende Tochterzellen, aber in geringer Zahl; eine andere Zelle oder Zellkolonie dagegen ſchlägt ein ſchnelles Teilungstempo ein, ſo zwar, daß vor dem Auseinanderfallen in zwei Tochterzellen oft ſchon dieſe ſelbſt im Begriffe ſind, in zwei oder mehrere Stücke zu zerſpringen. Die Teilprodukte ſind demgemäß zahlreicher, aber klein, plasmaarm und wegen des Stoffmangels ſehr vergänglich. Kopulation erfolgt nun nicht mehr zwiſchen gleich beſchaffenen, ſondern nur zwiſchen je einer großen und kleinen Zelle. Bei der einzelligen Grünalge Ulothrix, bei den Geißelträgern Stephanosphaera und Trichosphaerium iſt noch kein Anter—
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ſchied zu merken; bei Pandorina beginnt er hervorzutreten, bei Eudorina (Abb. 44) iſt er faſt ſo groß wie zwifchen Eiern und Samenfäden höherer Tiere, Samenknoſpen und Pollenkörnern höherer Pflanzen. Die Bewegungsfähigkeit der großen oder Makrogameten, die den Eiern der höheren Organismen entſprechen (S. 37, Abb. 5, Detail 5), iſt erheblich eingeſchränkt, — von herabgeſetzter Beweglichkeit bis zu gänzlichem Bewegungsverluſt gibt es wiederum, wie hinſichtlich der Größen ſelbſt, alle Abergänge. Bei den Geißelinfuſorien macht ſich jener Verluſt oft
ſchon äußerlich durch Verkümme— rung der zum Ru— dern dienenden peit— ſchenförmigen Fort— ſätze bemerkbar. And was die kleinen oder Ss lifrogameten, FAN die den (mit ihrem „Schwanz“ einem Geißel— —infuſor ähnlich gebliebenen) Seamenkörperchen der höheren „Tiere entſprechen (S. 37, Abb. 5, Detail 6), an Maſſe und damit an ſelbſtändiger Lebensfähigkeit verloren ha— ben, gewannen ſie an Maſſen— haftigkeit des Auftretens und an Bewegungsfähigkeit: ſo ſind die Ausſichten auf Stoff— Abb. 44. Geißelalge Eudorina elegans, eine gewinn der Kopulationszellen
weibliche (aus e 1 und auf das gegenſeitige Fin⸗ umſchwärmt von drei, zum Teil (me, me) noch bündel— 5 . .
förmig zuſammenbängenden Partien männlicher Keim— den letzten Endes ziemlich zellen (Mifrogameten). Bei c Kopulatin einer Makro— gleichgeblieben, aber ein Vor—
ee de l e En teil wurde doch errungen: Aus Guenther, „Vom Urtier zum Menſchen“.) 2 6 5
jetzt iſt es in der Regel un— möglich, daß Zellen verſchmelzen, die von gleichen Arſprungszellen oder Zellkolonien abſtammen; die verſchiedene Abſtammung gewähr— leiſtet aber, in Homologie mit der Fremdkreuzung oder Wechſel— befruchtung höherer Lebeweſen, wirkſamere Aufhebung der erworbenen Schädigungen.
Zwar gibt es Zellenhaufen, die an einem Ende Makrogameten ab— ſchnüren, an anderer Stelle den Teilungsrhythmus beſchleunigen oder in Zerfallsteilung übergehen und Mikrogameten liefern; das ſind dann zwitterige Zellkolonien (3. B. das Kugeltierchen, Volvox globator, unter den Geißelträgern), wie ſie ja auch bei den zuſammengeſetzten Lebeweſen in Geſtalt der meiſten Blumen, einiger Polypen (S. 228,
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Abb. 63 D) und der Landſchnecken, Erdwürmer (S. 199, Abb. 50), See— ſcheiden (S. 275, Abb. 76) vorkommen. Aber dann iſt häufig auf andere Art verhindert, daß Selbſtbefruchtung, Verſchmelzung der vom ſelben
Zellkomplerx abſtam— menden Mikro- und Makrogameten, ein— trete. Bei Volvox glo- bator ſind die Mikro— gameten fertig und ſchwärmen aus, wenn die Makrogameten noch gar nicht kopu— lationsreif ſind; ſie können deshalb nur mit den Makrogame— ten einer benachbarten, weiter vorgeſchrittenen Kolonie kopulieren. In nächſter Verwandt— ſchaft des Volvox glo- bator, bei Volvox aureus (Abb. 45), iſt die Zwitterigkeit bereits der Getrenntgeſchlech— tigkeit gewichen: ein und dieſelbe Zellen— kolonie kann hier nicht beiderlei Keimzellen, ſondern nur entweder Makro- oder Mikroga— meten erzeugen. Einen Zellenhaufen dieſes
Geſchöpfes, das dem = gemeinſamen Arſprung
von Tier- und Pflan— zenreich ganz nahe ſteht — das Maul- beerſtadium der Fur— chung iſt eine Wieder— holung der Geißel— trägerkolonie in der Keimlingsbildung ſelbſt der höchſten Lebe— weſen —, einen ſol— chen Haufen im übri— gen gleichartiger, nur
(Aus Guenther,
„Vom Urtier zum Menſchen.“)
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nahe beiſammen liegender Zellen, der irgendwo Mikrogameten abſchnürt, dürfen wir bereits als ein Männchen; einen ebenſolchen, der Makro— gameten abſchnürt, als Weibchen bezeichnen.
b) Geſchlechtsbeſtimmung (jeruelle Determinierung) *
Der Leſer, der S. 41, 42 erfuhr, daß letztlich Kohäſionsverluſt am Aquator der Zelle ſchuld daran iſt, wenn ſie ſich teilt, mag jetzt fragen: wie kommt es, daß eben dieſer Verluſt ihrer zuſammenhaltenden Kraft bei der Mikrogamete ſchon um vieles früher eintritt, lang ehe ſie die für den betreffenden Organismus ſonſt normale Zellengröße erreicht hat? Jedem wird von vornherein klar ſein, daß es Faktoren geben muß, etwa Schwankungen der Ernährung, Temperatur, des Druckes in der um— gebenden Flüſſigkeit, die den Mechanismus der Zellteilung beeinfluſſen. Beiſpielsweiſe ermittelten Popoffs Kulturverſuche mit dem Glocken— tierchen Carchesium Wärme als förderlich zur Bildung von Makro-, Kälte zur Bildung von Mikrogameten. Nun bleiben aber ſolche Er— lebniſſe, welche die Zelle in bezug auf die energetiſche Situation ihrer Amwelt zu machen in der Lage war, eindrucksweiſe lange in ihr er— halten, ſelbſt wenn die Schwankungen der Lebenslage wieder zur Norm zurückkehrten. So iſt verſtehbar, daß Verſchiebungen des Tei— lungsrhythmus, die urſprünglich phyſikaliſch-chemiſch bedingt waren und zur Differenzierung von Makro- und Mikrogameten geführt haben, ſich unabänderlich feſtlegen und fortan auch bei gleichbleibender energe— tiſcher Situation ablaufen. Der äußere Arſachenmechanismus iſt dann durch Vermittlung des Plasmagedächtniſſes ein innerer geworden.
doch eine allgemeine Anregung darf theoretiſchen Erwägungen entnommen werden: wir erkannten das Einſetzen der Geſchlechtertren— nung im Protiſtenreich; halten wir dieſe Tatſache zuſammen mit der biogenetiſchen Wiederholungsregel und dem einzelligen Entwicklungs— beginn im Pflanzen- und Tierreich, ſo wird daraus zu folgern ſein, daß die Entſcheidung, ob fpäter aus dem Keim ein Männchen oder Weibchen wird, ſchon in jenem einzelligen Keim ge— troffen iſt, ſpäteſtens im Augenblick ſeines Zuſammenſchmelzens zur Zygote.
Dieſe Aberlegungen finden ihre Begründung in den Experimenten über Geſchlechtsbeſtimmung: ſie zeigen, daß es zwar ſchwer iſt, aus einem Keim je nach Wahl ein Weibchen oder ein Männchen zu machen, — und um ſo ſchwerer, je höher die ſtammesgeſchichtliche Stellung des Organismus, die zugleich einen annähernd ebenſo hohen Grad an erb— licher Firation der Geſchlechtertrennung bedeuten kann; daß aber ſicheres Gelingen möglich iſt bei Einflußnahme auf den unentwickelten Keim. In höheren Tieren mit innerer Befruchtung und Entwicklung iſt uns dieſes kritiſche Stadium ſchwer zugänglich; deshalb haben Ver— ſuche, das Geſchlecht von Säugetieren einſchließlich des Menſchen be— liebig zu beſtimmen, die mehrdeutigſten Ergebniſſe gehabt. Es wäre aber ungerechte Zweifelſucht, ebenſolchen Verſuchen an niederen Tieren, 186
ſowie an niederen und einigen höheren Pflanzen die pofitive Eindeutig— keit abzuſprechen. Im ſo weniger wird man das tun dürfen, als ſämt— liche Ergebniſſe ſich zwanglos einer gemeinſamen Regel fügen, die in folgendem Satze ausgeſprochen iſt: alle äußeren und inneren Be— dingungen, die den Ernährungsprozeß in der Zelle ſteigern, beeinfluſſen fie in weiblicher Richtung; alle, die ihn herabſetzen, in männlicher Rich- tung. — Die beſſer und die ſchlechter ernährte, die weiblich und die männlich induzierte Zelle ſind fürs Auge am Größenverhältnis zwiſchen Kern und Leib („Kern-Plasma-Relation“, S. 116) zu erkennen: in allen männlichen Zellen, am ſchärfſten ausgeſprochen in den Mikro— gameten (Samenzellen) mit ihrer winzigen Plasmamenge, iſt jenes Verhältnis zugunſten des Kernes verſchoben; in weiblichen, beſonders den Eizellen, umgekehrt. Wenn daher in einem Kern die Kern— plasmarelation K/P einen großen Zähler, einen kleinen Nenner dieſes Bruches bekommt, ſo begünſtigt ſie die Entſtehung eines Männchens, im entgegengeſetzten Falle die eines Weibchens. Hunger, Kälte, Dunkel— heit, Gifte oder ſchädliche Abfälle, mit einem Worte Einflüſſe, die den Stoffwechſel beeinträchtigen, machen die Zelle plasmaärmer, wodurch der Kern für ſie verhältnismäßig zu groß erſcheint; Wärme, maßvolle Sät— tigung — nicht übertriebene Maſt, die auf die Dauer ebenfalls das Aufnahmsvermögen behindert —, Licht, Abweſenheit torifcher Stoffe machen die Zelle plasmareicher, wodurch der Kern in ihr relativ klein erſcheint. An jener Grenze, wo Entwicklung überhaupt noch zuſtande kommt — man denke an die Majorität männlicher Fehl- und Tot— geburten —, entſteht das Männchen; in dieſer Fülle, wo die Entwick— lung leicht und beſtens zuſtande kommt, entſteht das Weibchen.
Am bereitwilligſten fügen ſich geſchlechtsbeſtimmenden Einflüſſen die Zwitter (Hermapbroditen), indem fie durch Anterdrückung des einen Geſchlechtes das andere ausſchließlich hervortreten laſſen, alſo getrennt geſchlechtlich (Gonochoriſten) werden. Gelungene Verſuche liegen vor am Süßwaſſerpolypen (S. 228, Abb. 63), der Schlauchalge Vaucheria, Farnen und Schachtelhalmen, Mais und Waſſermelonen. Nächſtdem gelingt es am eheſten, einen getrennt geſchlechtigen Organismus nur teil— weiſe umzuſtimmen, nämlich das ihm eigene Geſchlecht nicht ganz ver— ſchwinden, ſondern nur daneben auch das andere ſichtbar zu machen, — alſo im Gegenſatz zur vorigen Gruppe Amwandlung von Gonochoris— mus in Hermaphrodismus. Bejahende Verſuche liegen vor am Süß— waſſerwurm Criodrilus (S. 199, Abb. 50), an Hopfen, Lichtnelke und wieder am Mais. Dieſer iſt ſehr lehrreich: die normale Maispflanze iſt zwitterig in der Weiſe, daß der Halm gipfelſtändig eine Rifpe aus lauter männlichen (Staub-) Blüten, in den Blattachſeln Kolben durchweg aus weiblichen (Frucht-) Blüten trägt. Zwitterig am Mais iſt alſo das Pflanzenindividuum als Ganzes betrachtet; reingeſchlechtlich jedoch iſt ein und derſelbe Blütenſtand. Zwitterigkeit wird zur Getrenntgeſchlecht— lichkeit, wenn entweder die männlichen oder die weiblichen Blütenſtände gar nicht gebildet werden: letzteres geſchieht bei dichtem Anbau als
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Viehfutter, wegen Lichtmangel und unzureichender Ernährung auch aus dem Boden. Getrenntgeſchlechtigkeit wird zur Zwitterigkeit, wenn inner— halb der männlichen Blütenſtände weibliche, innerhalb der weiblichen Stände männliche Blütenbeſtandteile auftreten: letzteres geſchieht nach Iltis bei paraſitären Erkrankungen (Maisbrand), die den Ernährungs— zuftand im Kolben lokal benachteiligen; beides iſt in Experimenten von Blaringhem mit abnormer Düngung, Feuchtigkeit und Beleuchtung erzielt worden. — Keiner beſonderen Schwierigkeit endlich unterliegt es, einen geſchlechtstätigen, gleichviel ob getrennt- oder gemiſchtgeſchlecht— lichen Organismus in geſchlechtsloſen Zuſtand überzuführen: abgeſehen natürlich von operativer und degenerativer Kaſtration iſt insbeſondere jeder Einfluß, der übermäßige Anhäufung von Reſerveſtoffen (Fett u. dgl.) erzwingt, dazu imſtande; am bekannteſten iſt die durch Aber— düngung, Warmhaltung und Abhaltung gewiſſer Strahlengattungen erzeugte „Verlaubung“ (Phyllodie) der Pflanzen, — die Erſchei— nung „gefüllter Blüten“ bei den in fetter Erde und unter Miſt— beetfenſtern kultivierten Gartenblumen beruht darauf und beſteht in Am— wandlung von Staub- und Fruchtblättern in Blumenblätter, wenn nicht ganzer Blüten in Laubblattroſetten.
Am ſchwerſten iſt es, wie geſagt, einen getrenntgeſchlechtlichen Or— ganismus ſo umzuſtimmen, daß ſein eigenes Geſchlecht vollkommen ver— ſchwindet und nur das andere zur Geltung gelangt. Die Keimzelle ift ja, ſo behaupteten wir bereits auf Grund der biogenetiſchen Wieder— holungsregel, geſchlechtlich differenziert; und wir ſehen ihr das zuweilen ſchon mit unſeren beſchränkten Beobachtungsmitteln in ihrer Kernplasma— relation an, außerdem und beſſer, wie bald zu beſchreiben, in ihrem Chromoſomenbeſtand. Wenn doch aber andererſeits das Geſchlecht willkürlich hervorgebracht werden kann, ſo iſt jene Differenzierung keine eindeutige, ſondern muß mindeſtens eine zweideutige ſein; außer den Stoffen, welche die Anlage zu weiblicher Entwicklung vorſtellen (Gyno— plasma), müſſen noch ſolche mit männlicher Entwicklungstendenz vor— handen ſein (Androplasma), — jene in der männlich, dieſe in der weiblich differenzierten Zelle gehemmt oder in geringerer Menge vor— handen. Jede Zelle vereinigt aber beiderlei Geſchlechtsſtoffe, und wenn wir ſie mit Erfolg geſchlechtlich „beſtimmen“, ſo verſchaffen wir der von uns gewählten Geſchlechtstendenz gegenüber der jeweils anderen defini— tive, ausſchließliche Gültigkeit. Wir brauchen, ſtrenge genommen, das Geſchlecht nicht erſt zu determinieren; ſondern das Außerſte, was wir tun können, beſteht darin, die eine Tendenz durch deren Hemmung und Aktivierung der entgegengeſetzten in dieſe andere umzuſchalten. Statt „Beſtimmung“ hätte man alſo genauer und beſcheidener nur von „Amſtimmung“ des Geſchlechtes zu ſprechen. Die Keimzelle befindet ſich im Zuſtande „potentieller Zwittrigkeit“: wir vollbringen an ihr dasſelbe wie bei einem Zwitter, der es normalerweiſe zeitlebens bleibt; wir verſchieben das Gleichgewicht der beiden Geſchlechtsanlagen bis zum Antergang der einen zur alleinigen Weiterbildung der anderen.
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Je früher mit der Amſtimmung begonnen wird, deſto verläßlicher und nachhaltiger fällt das Ergebnis aus. Die beſten Objekte dafür find Rädertiere (S. 238, Abb. 68 unten), Pflanzenläuſe (S. 238, Abb. 69) und niedere Krebſe (beſonders die Waſſerflöhe, Daphniden — S. 238, Abb. 68 oben) mit ihrer ohnedies von der Jahreszeit abhängigen Serualitätsänderung, die alſo vermutlich trotz mancher Hartnäckigkeit nicht in der Stärke erblich fixiert iſt wie bei anderen Tieren. Woltereck unterſcheidet bei Waſſerflöhen folgende empfängliche Epochen der Ge— ſchlechtsumwandlung: erſtens kurz ehe das Ei aus dem Eierſtock aus— tritt, zweitens auf viel früheren Stadien, nämlich im unausgebildeten Keimlager des Eivorrates für künftige Würfe, dann in der Geſchlechts— Dieſe ſenſiblen Perioden werden als Möglichkeiten „pro gamer Ge— ſchlechtsbeſtimmung“ (vor der Befruchtung) zuſammengefaßt; die „ſyngame Geſchlechtsbeſtimmung“ (während und durch Befruchtung) rechnen wir zur Geſchlechtsverteilung und Geſchlechtsvererbung; es er— übrigt, die „epigame Geſchlechtsbeſtimmung“ (nach der Befruchtung) zu beſprechen, deren neueſten, merkwürdigſten Fall wir ſchon kennen, weil er mit Neotenie des paraſitiſchen Männchens verknüpft ift: beim Sternwurm Bonellia viridis (S. 167). Im allgemeinen begünſtigt ſchmarotzende Lebensweiſe das Zwittertum (3. B. Schleimfiſch Myxine, Aſſel Cymothoa, Würmer Rhabdonema und Myzostoma); man wird ſich vorſtellen dürfen, daß deshalb in den Bonellialarven verhältnis— mäßig lange eine hermaphroditiſche Anlage erhalten bleibt, die eine ſo ſpäte Entſcheidung erlaubt. Außerdem ſind natürlich durch das extreme Beibehalten von Larvencharakteren nur ſeitens des Männchens beſondere Bedingungen geſchaffen. Auffälligerweiſe bewahren aber auch viele Froſchlarven lange einen geſchlechtlich unentſchiedenen Charakter, der in Verſuchen von Hertwig durch Kälte beſonders häufig in entſchieden männlichen übergeführt wurde. Kowalewsky will bei Kaninchen bis zum Ende der erſten Schwangerſchaftshälfte durch Sauerſtoffmangel ein Geſchlechtsverhältnis von 5—7 Männchen zu 1 Weibchen hergeſtellt haben. Einige andere Fälle übergehe ich, weil ſie den Einwand nicht ausſchließen, daß das in der Nachzucht fehlende oder ſpärlich vorhandene Geſchlecht nur vermehrter Sterblichkeit unterlag, indem es dem geſchlechts— beſtimmenden Faktor weniger Widerſtand leiſtete. Meiſt iſt das männ— liche Geſchlecht diesbezüglich hinfälliger.
c) Geſchlechtsvererbung (ſexuelle Heredität)
Das Gegenſtück zur nachträglichen Amſtimmung liefert die vor— herige Beſtimmung („Präinduktion“) des Geſchlechtes auf Gene— rationen hinaus, wie ſie von De Vries am Mohn, von Blaringhem am Mais, von Klebs an Ehrenpreis und Hauswurz, von Maupas und Shull an Rädertieren, genaueſtens von Woltereck an Waſſerflöhen feſtgeſtellt ́̃urde. Hier überall kann mit den Geſchlechtsanlagen während ihrer vorhin aufgezählten „ſenſiblen Perioden“ eine Veränderung ge—
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ſchehen, die nicht bloß das Geschlecht des ſich unmittelbar entwickelnden Individuums, ſondern auch das ſeiner Nachzucht zu beeinfluſſen vermag: man kann nicht anders ſagen, als daß in dieſen Fällen die Eigenſchaft, einem beſtimmten Geſchlechte anzugehören, erſt erworben und dann ver— erbt wurde. Schon daraus iſt zu erſehen, daß das Geſchlecht der erb— lichen Abertragung von Generation zu Generation unterliegt gleich irgendeinem Raſſenmerkmale. Nicht nur dort tritt dieſe Tatſache her— vor, wo es galt, ein zuerſt umgeſchaltetes Geſchlecht nachher konſtant zu erhalten, ſondern auch dann, wenn nur das bereits vorhandene Ge— ſchlecht im Generationsverlaufe verfolgt wird. Das iſt in der zwei— geſchlechtlichen Fortpflanzung, an der von vornherein beide Geſchlechter beteiligt ſind, durch Kreuzungsverſuche möglich, in denen ein Merkmal normalerweiſe nur mit einem Geſchlecht verknüpft erſcheint, durch be— ſondere Zuchtanordnung auch aufs andere Geſchlecht übertragen wird („geſchlechtsbegrenzte Vererbung“). Das Beiſpiel des Stachel— beerſpanners und ſeiner in der Natur dem weiblichen Geſchlecht eigen— tümlichen milchfarbenen Abart (var. lacticolor) ſoll zeigen, wie das ge— meint iſt (Taf. IV, Fig. la und b).
Doncaſter und Raynor, die beide Formen kreuzten, konnten alſo zu Beginn von der gewöhnlichen, ſchwarzgefleckten Form nur ein Männchen nehmen, weil von der anderen Form zunächſt keine Männchen exiſtierten. Man erhält eine in beiden Geſchlechtern aus lauter typiſchen gefleckten Tieren beſtehende Tochter- und daraus eine Enkelgeneration, die aus ¼ typiſchen Exemplaren (Männchen und Weibchen) ſowie aus % milchfarbenen Exemplaren (lauter Weibchen) beſteht. Jetzt wird ein typiſch ausſehendes Männchen der Tochtergeneration (die aus Miſchung von Typus X lacticolor hervorging) mit einem milchfarbenen Weibchen gekreuzt, und das Ergebnis find ¼ typiſche Exemplare (Männchen und Weibchen), ſowie ¼ Lacticolorexemplare, unter denen ſich aber diesmal neben Weibchen auch Männchen befinden. Schließlich führen wir eine Kreuzung aus, die umgekehrt iſt wie die vorige, was wir erſt jetzt tun können, weil wir ja erſt jetzt milchfarbene Männchen haben: ein typiſch ausſehendes Weibchen der Tochtergeneration (das in bezug auf die Merkmale „typiſch“ und „lacticolor“ gemiſchtraſſig iſt) ergibt mit dem Lacticolormännchen zur Hälfte typiſche, zur anderen Hälfte milchfarbene Exemplare; doch diesmal ſind alle typiſchen Formen Männchen und alle milchfarbenen Weibchen, alſo gleichviele Männchen und Weibchen mit daran geknüpften Geſchlechtsmerkmalen. Wir könnten jetzt beliebig lange fortzüchten: immer würden die Männchen der reich— lich ſchwarz gezeichneten, die Weibchen der auf weißem Grund nur ein wenig gelb gezeichneten Raſſe angehören, immer würden von den einen wie den anderen 50% vorhanden ſein.
Analoge Nachweiſe glückten bei Hühnern, Fliegen und durch Stammbaumſtudien menſchlicher Familien mit geſchlechtsbegrenzten Leiden (Bluterkrankheit, Farbenblindheit); ſowie durch Correns' Kreuzungen der gemeinen Zaunrübe (Bryonia dioica) mit der weißen Zaunrübe (B. alba);
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erſtere iſt „zweihäufig“ (diöziſch), d. h. vollkommen getrenntgeſchlechtlich, — ein Exemplar trägt nur männliche, ein anderes nur weibliche Blüten; letztere iſt „einhäuſig“ (monöziſch), d. h. unvollkommen zwittrig, — männliche (Staubgefäße) und weibliche (Stempel) Organe ſind zwar nicht in einer Blüte, aber doch als Staub- und Stempelblüten auf demſelben | Stock vereinigt. Ergebniſſe dieſer Kreuzungen zeigen, daß alle Samen— | knoſpen die Tendenz haben, ausschließlich weibliche Nachkommen zu geben, die Staubkörner dagegen zur Hälfte die Tendenz, Männchen, — zur | anderen Hälfte die Tendenz, Weibchen zu liefern. Beim Zuſammen— kommen von Keimzellen mit ungleicher Geſchlechtstendenz behält die männ— liche die Oberhand, ſo daß dann der Nachkomme ein Männchen wird. Wir können nunmehr das allgemeine Geſchlechtsvererbungsreſultat der Züchtungs- und Stammbaumforſchung in einfache Formeln bringen, deren volles Verſtändnis freilich erſt nach Kenntnisnahme der Mendel— ſchen Regeln (im folgenden Kapitel, S. 259) möglich iſt, denn ſie ſind f ein Ausdruck und Spezialfall dieſer Vererbungsregeln. Bezeichnen wir | die männliche Anlage eines Staubkornes bzw. Samenfadens mit M, die weibliche einer Samenknoſpe bzw. eines Eies mit w, fo entſteht | durch ihren Zuſammentritt ein Männchen mit der Anlagenzuſammen— ſetzung Mw, — alſo zwar ein in bezug auf ſeine Geſchlechtsanlage nicht ganz rein-, ſondern gemiſchtraſſiges Männchen, aber nach dem eben Gehörten immerhin ein Männchen. Daraus folgt, daß ein weibliches Individuum in feinem Anlagenſchatz die Anlage M nicht beſitzen darf, denn überall, wo M dabei iſt, gelangt nur M zur äußerlichen Geltung. Das Weibchen beſäße alſo die Anlagenzuſammenſetzung ww, und bei der gewöhnlichen Fortpflanzung gelangten fortwährend Männchen Mw mit Weibchen ww zur Vermiſchung. Sollten ſich dieſe Geſchlechts— anlagen bei den Nachkommen in noch ſo vielen Kombinationen ergehen, jo find doch nur folgende möglich: MW, WM, ww, ww, — jede davon wegen gleicher Wahrſcheinlichkeit in gleicher Häufigkeit; da w unficht- bar bleibt, wo M mit zugegen iſt, fo bedeutet das ebenſoviele Männchen wie Weibchen. Man hat Fälle vorgefunden, wo nicht die männliche Anlage über die weibliche, ſondern umgekehrt die weib— liche Geſchlechtstendenz über die männliche dominiert: dann iſt aber das weibliche Geſchlecht gemiſchtraſſig; es kreuzen ſich Wm mit mm, was die gleich oft realiſierten Kombinationen Wm, mW, mm, mm liefert, — alſo praktiſch dasſelbe Endreſultat wie früher, Weibchen und Männchen im ungefähren Häufigkeitsverhältnis von 1:1, wie es dem tatſächlichen Verhalten in der Natur entſpricht und durch ausgedehnte ſtatiſtiſche Erhebungen beſtätigt wurde. Denn daß in Mitteleuropa die Frauen etwas zahlreicher ſind als die Männer, hängt nur mit größerer Sterb— lichkeit der letzteren zuſammen. Selbſt bei Tieren mit ausgeſprochener Vielweiberei („Polygamie“ — z. B. Huhn) und Vielmännerei („Polyandrie“ — z. B. einige Gallmücken und Weſpen) erklärt ſich das Mißverhältnis durch frühzeitiges Abſterben derjenigen Keime, die dem ſpäter in der Minderzahl vorhandenen Geſchlechte angehörten. 191
ä
d) Geſchlechtsverteilung (ſexuelle Disponierung)
Wir beſchrieben zuvor die indirekte Kernteilung, deren Haupt— moment darin beſteht, daß jede Kernſchleife längsgeſpalten, je eine Spalthälfte in je eine Tochterzelle getragen wird. Nicht bloß ge— naueſte Halbierung der Kernſchleifenquantität, ſondern auch gerechteſte Verteilung der etwa darin geborgenen Qualitäten iſt dadurch geſichert. Die Zahl und das beſtimmt quali— fizierte Sortiment von Kernſchleifen muß in allen Körperzellen, die aus der Keimzelle hervorgehen, konſtant bleiben; auch innerhalb einer und derſelben Tier- oder Pflanzenart iſt die Zahl der Kernſchleifen ſtets die gleiche, — ein Kriterium, das wir behufs Feſtſtellung der Art— zugehörigkeit in den Geweben der unechten Pfropfhybride oder Chimären bereits ausgenützt hatten.
Einen Augenblick gibt es in der Generationsfolge ſich teilender Zellen, wie jene Ziffer Gefahr läuft, verdoppelt zu werden: die Kopu— lation der Geſchlechtszellen. Da hier zwei Zellen ſamt Kernen ver— ſchmelzen, müſſen unvermeidlich zwei Sortimente von Kernſchleifen zu— ſammenkommen, — das väterliche und das mütterliche Sortiment. Dem— nach wäre zu erwarten, daß eine Chromoſomenzahl von beiſpielsweiſe 24, die den Eltern eigen, bei den Kindern ſchon auf 48, den Enkeln auf 96 uſw. erhöht werde. Das iſt nun nicht zutreffend; vielmehr erblicken wir im angegebenen Falle bei ſämtlichen Generationen immer wieder 24 Chromoſomen. In Geſtalt einer „Reifeteilung“ iſt nämlich eine Vorkehrung getroffen, welche die Zahl zum einfachen Beſtande reguliert; ſie verläuft für tieriſche wie pflanzliche, männliche wie weibliche Keim— zellen in prinzipiell übereinſtimmender Weiſe. Die Keimzellen entſtehen durch Vermehrung des Keimepithels in den Keimlagern oder Keim— ſtöcken (Eierſtock, Dvarium — Hoden, Spermarium), wo ſie bei ihren Teilungen drei charakteriſtiſche Stufen durchlaufen: 1. Arkeim— zellen (Lreizellen, Dvogonien — Urſamenzellen, Spermatogonien); 2. Keimmutterzellen (Eimutterzellen, Ovozyten — Samenmutter— zellen, Spermatozyten); 3. fertige Keimzellen (Eizellen, Ovula — Samenzellen, Spermien). Daß die männlichen Keimzellen zum Schluſſe, ohne ſich nochmals zu teilen, eine Geſtaltwandlung von eben reif ge— wordenen Samenzellen (Spermatiden) zu endgültig kopulationsfähigen Samenfäden oder Samentierchen (Spermatozoen) durchmachen, iſt für uns von geringerer Wichtigkeit.
Zur Verwandlung aus Stufe 2 in 3 führen die Reifeteilungen (Abb. 46, 47); jede Keimzelle teilt ſich zweimal entzwei und ſollte vier definitive Keimzellen liefern. Von verhältnismäßig untergeordneter Be— deutung iſt es, daß dies ſtrenge nur bei den männlichen Keimzellen zu— trifft (Abb. 46); wogegen jene ſelben Teilungen die weibliche Keimzelle in ſo ſehr ungleiche Stückchen zerlegen, daß nur das größere lebens— fähig bleibt. Die kleineren, die „Polzellen“ oder „Richtungs— körperchen“ (Abb. 47 — ſo geheißen, weil ſie in beſtimmter Richtung 192
zu einem Eipol wandern), entwickeln ſich nicht weiter, ſondern gehen bald zugrunde, trotzdem das erſte Polkörperchen ſich vorher ſelbſt noch einmal teilen kann. Aus einer Samenmutterzelle entſtehen alſo vier reife Samenzellen, aus einer Eimutterzelle nur eine reife Eizelle und zwei bis drei Polzellen.
Höchſte Bedeutung erlangen nun aber die Reifungsteilungen in bezug aufs Verhalten ihres Kernſchleifenbeſtandes. Die erſte zeigt oft noch nichts Beſonderes, ſondern verläuft unter Spaltung jeder einzelnen Schleife
Abb. 46. Samenreifung, A Samenmutterzelle (Spermatozyte) 1. Ordnung, D Samenmutterzellen (Spermatozyten) 2. Ordnung; E deren Reduktionsteilung (2. Reifeteilung), F reife Samenzellen (Sperma— tiden), die ſich ohne weitere Teilung meiſt noch in die Samenfäden (Spermatozoen) umformen müſſen. (Aus Guenther, „Vom Urtier zum Menſchen“.)
(„Aquationsteilung“). Bei der zweiten jedoch bleiben die Kern— ſchleifen ungeteilt und wandern als ganze Stücke in die Zellhälften. Hatte die Keimmutterzelle 24 Kernſchleifen, ſo wandern mithin jetzt 12 ganze, ungeteilt bleibende in die eine, 12 in die andere reif werdende Keimzelle. In dieſer iſt deshalb die Zahl der Kernſchleifen auf die Hälfte herabgeſetzt („Reduktionsteilung“). Aquations- und Re— duktionsteilung können Platz tauſchen, was im Ergebnis natürlich gleich— | bleibt. Wenn alſo jetzt zwei ſolche Keimzellen mit halbem („haploidem“) | Kernſchleifenbeſtand fich vereinigen, fo ergänzen fie ihn wieder auf die volle („diploide“) Zahl. Demnach follten, ſo mannigfaltig die Chromo— ſomenziffern bei verſchiedenen Pflanzen- und Tierſpezies ſein mögen, in den Leibeszellen doch nur gerade Zahlen vorkommen.
Kammerer, Allgemeine Biologie 13 193
Es beſitzen aber die Zellen des Männchens oft eine ungerade Zahl, nämlich um ein Chromoſom weniger als die des Weibchens (Abb. 48). Die Halbierung des Vorrates bei der Reduktion steilung kann dann nicht genau erfolgen, ſondern die Hälfte der Samenzellen empfängt ein überzähliges, die andere Hälfte um ein Chromoſom weniger. Beiſpiels— weiſe beherbergen die Leibeszellen der weiblichen Feuerwanze 24, ſämt— liche reife Eizellen 12 Chromoſomen; die Leibeszellen der männlichen
Wanze 23 Chromoſomen, — demgemäß muß die eine Halbpartie reifer Samenzellen gleich den Eiern 12, die andere Partie nur 11 Chromo— ſomen erhalten. Dringt nun eine Samenzelle mit 12 Chromoſomen in ein beliebiges Ei, ſo entſteht ein Keimling von 24 Chromoſomen — ein weiblicher Keimling; dringt ein Same mit 11 Chromoſomen in irgendein Ei, ſo entſteht ein Embryo mit 23 Chromoſomen — ein männlicher Embryo. Das Chromoſom, von deſſen An- oder Abweſen— heit es abhängt, ob die Befruchtung ein Weibchen oder Männchen er— gibt, wird X-Chromoſom genannt: alle Eier enthalten es, aber nur die Hälfte der Samenfäden; in allen weiblichen Körperzellen iſt es doppelt, in allen männlichen nur einfach vertreten. Alle Eier ſind daher
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ee op ui
untereinander gleich: das weibliche Geſchlecht iſt, weil es nur einerlei Keimzellen produziert, monogametiſch; die Samenfäden ſind ungleich: das männliche Geſchlecht iſt, weil es zweierlei Keimzellen erzeugt, digametiſch.
Der eben beſchriebene Fall — nach der Wanzengattung, wo er zuerſt entdeckt wurde, „Protenor-Typus“ (Abb. 48) genannt, aber weit verbreitet — iſt der einfachſte. Abweichungen ergeben ſich inſo— ferne, als zuweilen das X-Chromofom, ſtatt in einer Hälfte der Samen— zellen zu fehlen, hier durch ein anders > meiſt kleineres V- Chromoſom vertreten fein kann („Lygäus- Typus“ — Abb. 49), welch letzteres übrigens für unſere Beobachtungsmittel zuweilen von
Abb. 48. „Protenor-Typus“ geſchlechts begleitender Kernſchleifen, und zwar die Chromoſomengeſchichte des Fadenwurmes Ancyracanthus cystidicola: Q weiblicher, männlicher Zyklus; gewöhnliche Chromoſomen („Autochromoſomen-) ſchwarz, Ge— ſchlechtschromoſomen ee e weiß ausgeſpart. 1 Geſchlechtstier (87 mit einem, g mit zwei Heterochromoſomen), 2 Argeſchlechtszelle, 3 Reduktions-, 4 Äquationg- teilung, S reife Geſchlechtszellen (beim Ei mit den zwei ihm auflagernden Richtungstörpern), 6 Befruchtung (rechts mit einem das Heterochromoſom „x“ enthaltenden, lints mit einem dieſes Element nicht enthaltenden Spermatozoon), 7 Kernverſchmelzung, 8 beginnende, 9 vollendete erſte Furchung. (Nach Mulſow vereinfacht, aus Correns-Goldſchmidt.)
einem XChromoſom faſt oder ganz ununterſcheidbar wird („Ascaris— Typus“); ferner, indem die das Geſchlecht kennzeichnenden Kern— ſchleifen („Heterochromoſomen“), entweder nur eines oder beide, vorübergehend oder dauernd in zwei oder mehrere Stücke zerſpalten ſein, weiter, indem ſie neben dem Hauptkern ein ſelbſtändiges Keimbläschen formieren können; endlich, indem die ſoeben geſchilderte e ſtatt beim Männchen fürs Weibchen zutrifft („Echinus-Typus“) und dann zweierlei Eier (% mit V=, ½ mit 2-Chromoſom) gebildet werden, aber nur einerlei Samenzellen (durchweg mit 2-Chromoſom).
Dieſe Ergebniſſe bilden eine willkommene Ergänzung und Ver— tiefung unſerer Formeln der Geſchlechtsvererbung: Ergänzung inſoferne, als nunmehr auch die Chromoſomenverhältniſſe lehren, warum Männ— chen und Weibchen in annähernd gleicher Häufigkeit vorhanden ſein müſſen; Vertiefung, weil fie unferen Buchſtabenbezeichnungen Mw und ww bzw. Wim und mm konkreteren Inhalt verleihen: das Geſchlecht, deſſen
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Geſchlechtsanlagen durch Zuſammenſetzung aus zwei Buchſtaben be— zeichnet worden war, iſt im Lichte unſeres jetzigen Fortſchritts dasjenige, welches zweierlei Geſchlechtszellen erzeugt, nämlich ſolche mit und ohne X= bzw. Z=Chromofom. Mw bedeutet, daß das männliche Geſchlecht in dieſer Weiſe digametiſch iſt (viele Gliedertiere, Würmer, Vögel, Säuger — häufigerer Fall); Wm ſoll heißen, das weibliche Geſchlecht erzeugt zweierlei Geſchlechtszellen (Seeigel, Schmetterlinge — ſeltener Fall); ww deutet an, es gibt nur einerlei Sorte von Eiern; mm, alle Samen— fäden ſind untereinander gleich.
Es geht nicht an, die Geſchlechtschromoſomen, wie viele Forſcher es tun, „geſchlechts beſtimmende“ Chromoſomen, z. B. das X. Chromo—
ch, = \ oT?
N 7 * 5 ( 0890 97 FERN 2 5 Os 9 2 2
Abb. 49. „Lygäus-Typus“ geſchlechts begleitender Kernſchleifen, die Chromoſomengeſchichte der Neiterwanze Lygaeus turcicus, P weiblicher, 5’ männlicher Chromoſomenzyklus; gewöhnliche Chromoſomen („Autochromoſomen“) grau punktiert, Geſchlechtschromoſomen („Heterochromoſomen“, und zwar ein größeres „XElement“, ein kleineres „y»&lement“) ſchwarz; 1 weibliches Geſchlechtstier, 2 unreife Eizelle, 3 Reduk— tionsteilung, 4 reifes Ei mit Richtungskörper, 5 Beſamung, 6 Kernverſchmelzung im be— fruchteten Ei. — 7 männliches Geſchlechtstier, 8 unreife Samenzelle, 9 deren Reduktions— teilung, 10 reife Samenzelle mit dem x-&lement („männchenbegleitendem Chromoſom“), 11 reife Samenzelle mit dem y-Element („weibchenbegleitendem Chromoſom“), 12, 13 die aus 10 und 11 verwandelten Spermatozoen, 14 Beſamung, 15 Kernverſchmelzung. (Aus Correns-Goldſchmidt.)
ſom weibchen erzeugend“, das Y-Chromofom oder fein Fehlen männchen— „erzeugend“ zu nennen. Lieber wäre nach dem Vorſchlag von de Meijere
der Ausdruck, geſchlechtsbegleitende“ Chromoſomen zu gebrauchen:
denn das X-Chromofom, deſſen Mehrbeſitz einen Samenfaden weibchen— erzeugend macht, war ja bei der Befruchtung aus dem Ei gekommen; fein Fehlen oder feinen Erſatz durch ein ſchwächeres Y-Chromofom dankt ein männchenerzeugender Samenfaden dem an der Kopulation beteiligt geweſenen väterlichen Samenfaden. In dieſer Geſchlechtsdisponierung eine Geſchlechtsdeterminierung zu ſehen, liefe alſo auf einen ewigen Zirkel hinaus: dieſe Keimzelle iſt weiblich, weil ein Weibchen ihren Kernſchleifenvorrat komplettierte; jene männlich, weil ein Männchen an ihrem Manko an Kernſtoffen ſchuld war. Ich ſehe im Vorhandenſein oder Fehlen, Größe oder Kleinheit beſtimmter Kernſchleifen nichts 196
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anderes als die am frühesten ſichtbar werdenden Geſchlechts— merkmale, — Anterſchiede zwiſchen männlich und weiblich, die fich nicht erſt an den fertigen Geſchlechtsperſonen, ſondern bereits an den Keimen, die ihnen zum Arſprung dienen, bemerkbar machen.
Wenn es geſtattet iſt — und die dafür ſprechenden Tatſachen ſind entſchieden in der Mehrheit —, die das Weibchen begleitende größere Chromatinmenge quantitativ zu nehmen, d. h. wenn es dabei auf die Maſſe ankommt und nicht auf ſpezifiſche Stoffqualitäten, die im X- Chromoſom enthalten ſind, ſo ſtehen die Ergebniſſe der Zellforſchung im beſten Einklang mit denen der experimentellen Geſchlechtsbeſtimmung. Der Kern iſt nämlich unter anderem das Aſſimilationszentrum der Zelle; entkernte Zellen gehen zugrunde, weil ſie ſich nicht länger ernähren können: und ein chromatinreicher Kern ſcheint zu beſonders energiſcher Aſſimilation befähigt zu ſein. Der Beſitz eines größeren oder der Mehrbeſitz eines ganzen Chromoſoms verliehe alſo der Zelle ergiebigeren Stoffwechſel; dieſer wird ihr weiterhin den größeren Amfang des Plasmaleibes verſchaffen, den wir als Merkmal weiblich disponierter Zellen kennen gelernt haben, und nun ſteht der Entwicklung eines weib— lich ausgeprägten Organismus nichts mehr im Wege. In ſolch „quanti— tativer“ Auffaſſung der Geſchlechtschromoſomen, die dann als „Aſſimi— lationschromoſomen“ auftreten, werden wir beſtärkt durch Fälle, in denen es nicht aufs Fehlen oder geringere Größe eines einzelnen Chromoſomes ankommt, um ein Männchen zu erzeugen, — ſondern wo derſelbe Effekt durch Ausbleiben der Befruchtung, alſo Fehlen des Spermakernes mit ſeinem ganzen Chromoſomenſortiment, hervorgerufen wird: das berühmteſte Beiſpiel dieſer Art iſt die Honigbiene: unbeſamte Eier werden ſtets zu Männchen (Drohnen). Jungfräuliche Entwick— lungen, deren Produkt kein Männchen iſt, beſtätigen nur die Regel: denn hier iſt die Reduktionsteilung unterblieben, und ſchon unbefruchtete Eier enthalten daher den vollen Chromoſomenvorrat.
Bleibt in dieſer wohlgeſchloſſenen Kette von Arſachen und Wir— kungen nur noch das Anfangsglied zu erklären: wie bewirken die dem Stoffwechſel günſtigen Außenumſtände im Chromatin der Zelle diejenige Veränderung, die ſie in den Stand ſetzt, gebotene Ernährungsbegünſti— gungen auch wirklich auszunützen? Hier iſt zweifellos der Punkt, wo künftige Forſchung noch am meiſten zu tun haben wird: eine Vorſtel— lung von den Ereigniſſen, die ſich bei ſchwankenden Lebensbedingungen im Zellkern abſpielen, geben aber bereits die Verſuche von R. Hertwig und Schülern, aus überreifen Froſcheiern, die nahe an 100 Stunden im Waſſer auf Beſamung warten müſſen, bis 100% Männchen zu ziehen. Wahrſcheinlich gelangen dann die weibchenbegleitenden Chromo— ſomen in die verkümmernden zweiten Richtungskörper oder werden für ſich allein abortiert. Nach Boveri und Schleip trifft ſicher letzteres beim Fadenwurm Rhabdonema nigrivenosum zu, wenn ſich deſſen in der Froſchlunge ſchmarotzende Zwittergeneration fortpflanzt; ſie erzeugt nämlich eine frei im Schlamm lebende, getrenntgeſchlechtliche Gene—
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ration, deren Männchen durch Ausſtoßen eines Chromoſoms aus den Samenzellen ihren reingeſchlechtlichen Männchencharakter bekommen.
Botaniſche Tatſachen über Geſchlechtsverſchiedenheiten des Chromatin— gehaltes fehlen beinahe gänzlich; eine, die mit denen des Tierreiches harmoniert, hat Iſhikawa beim Gingkobaum gefunden. Es gibt aber botaniſche Anterſuchungen, die beweiſen, daß die Vorgänge der Ge— fchlechtsverteilung in beiden Naturreichen der gleichen Geſetzmäßigkeit gehorchen. Am wertvollſten hierfür, außer den ſchon beſprochenen Kreuzungsverſuchen von Correns mit Zaunrüben, ſind Ausſaatverſuche von Strasburger am Lebermoos Sphaerocarpus, von Blakeslee am Brunnenmoos Marchantia: ebenſo wie aus einer tieriſchen Samen— mutterzelle durch zwei Reifeteilungen vier kopulationsfähige Samen— fäden hervorgehen, zwei davon männchen-, zwei weibchenbegleitend; ſo gehen aus einer Sporenmutterzelle der genannten Mooſe durch zwei— malige Zweiteilung vier keimfähige Sporen hervor, von denen zwei männliche, die anderen zwei weibliche Pflanzen liefern.
e) Geſchlechtsverwandlung (jeruelle Metaptoſis)
5 verſteht unter Geſchlechtsumwandlung den ſtammesgeſchicht— lichen Abergang vom urſprünglich zwitterigen zum getrenntgeſchlecht— lichen Zuſtand (progreſſive Metaptoſis), und von dieſem allenfalls noch einmal umgekehrt zu einem nachträglichen Zwittertum (regreſſive Me— taptofis). Er ſieht es als Zeichen ſtattgefundener Umwandlung an, wenn in derſelben Tier- oder Pflanzengruppe verhältnismäßig nahe verwandte Formen teils getrenntgeſchlechtlich, teils zwitterig ſind (3. B. Korallen, Röhrenquallen); und wenn es gar bei einer Spezies beiderlei Exemplare gibt (3. B. Auſter), fo iſt fie ſoeben noch in ſexueller Am— wandlung begriffen.
Aus der letzten Feſtſtellung iſt ſchon zu entnehmen, was ſich ja bei allen Geſtaltwandlungen wiederholt: daß nämlich ein ſtammes— geſchichtlicher, genereller Vorgang ſich zuerſt individuell an ein— zelnen Exemplaren ereignet haben muß. And ſo dürfte es ge— ſtattet ſein, Fälle, wo durch außergewöhnliche Lebensumſtände oder unter Herrſchaft des Experimentes teilweiſe Geſchlechtsübergänge und vollſtändige Geſchlechtsverwandlungen eintreten, in die Metaptoſen ein: zureihen: nicht bloß Abergänge von Getrenntgeſchlechtlichkeit zu Zwit— terigkeit oder umgekehrt, ſondern auch von Männlichkeit zu Weiblichkeit oder umgekehrt; denn eine Abwandlung der letztgenannten Art muß ein Durchgangsſtadium haben, wo der Organismus nicht mehr ganz dem einen und erſt teilweiſe dem anderen Geſchlecht angehört, alſo dem Geſamtcharakter nach zwitterig iſt.
Naturgemäß knüpft die Geſchlechtsumwandlung enge an die Ge— ſchlechtsbeſtimmung an, beſonders an die epigame Geſchlechtsbeſtimmung. Die Geſchlechtsverwandlung geht aber einen Schritt weiter: dort wird ein potentiell zwitteriger Keimling, bei welchem das eine Geſchlecht höchſtens in der Neigung, ſich zu entwickeln, ſtärker iſt, nach Belieben 198
vollends in dieſe oder die andere Richtung gelenkt; hier wird ein fertig ausgeprägtes Geſchlechtsindividuum in ein ſolches entgegengeſetzten Geſchlechtes umgebaut.
An zwei Wurmarten ſind Wandlungen der Sexualität als un— erwartete Nebenergebniſſe von Regenerationen aufgetreten: Braem be— obachtete beim Meereswurm Ophryotrocha, daß während des Erſatz— wachstums einiger Schwanzringel der Eierſtock eingeſchmolzen und an ſeiner Stelle ein Hoden aufgebaut wurde. Janda und Tirala haben beim Süßwaſſerwurm Criodrilus die Geſchlechtsregion
m. 2. 14.529. 13.509 Aeg. 11.589.
Abb. 50. Horizontalſchnitt durch das 8.—14. regenerierfe Segment des Süßwajjer- wurmes Criodrilus: regenerierte Hoden (ch) im 8., 9., 10. Seament; regenerierte Eierſtöcke (ro) im 11., 12. und 13. Segment. An der Scheidewand („Diſſepiment“) zwiſchen 13. und 14. Segment zwei regenerierte Eierſtockstrichter (r.otr); r.sKk regenerierte Samen— blaſe. h Haut, rim Ringmusfel-, Um Längsmuskelſchicht, tiefſchwarz die Querſchnitte von Blutgefäßen. (Nach Janda.)
ſelbſt, und zwar ganz, entfernt; ſie ſahen ſie ohne weiteres nachwachſen (Abb. 50), worauf manche Körperringe, die urſprünglich nur einerlei Art von Geſchlechtsorganen beſaßen, nunmehr zwitterige erhielten. — Man könnte die im Abſchnitt „Geſchlechtsbeſtimmung“ beſprochenen Pflanzenerperimente von Blaringhem und Klebs, beſonders inſoferne ſie ebenfalls mit Verſtümmelungen arbeiten, um den Ernährungsſtrom in die Blütenſtände zu lenken, ebenſogut hierherſtellen, desgleichen die von Iltis gefundene paraſitäre Kaſtration beim Mais.
In den weiteren Fällen iſt die Amwandlung nicht mit äußeren ge— ſchlechtsbeſtimmenden Mitteln unternommen, ſondern durch Beiſtellung des Organs und Hormons, deſſen Anweſenheit nötig iſt, wenn man das Individuum einem Geſchlecht dezidiert zurechnen ſoll: weſentlich für
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Diagnoſe eines Männchens iſt der Beſitz des Hodens, für die des Weibchens das Vorhandenſein von Eierſtöcken. Schon deshalb kann man die gegenwärtig gemeinten Fälle nicht unter die geſchlechtsbeſtim— menden einordnen, weil die Aufgabe der Geſchlechtsbeſtimmung darin beſteht, jene weſentlichſten „eſſentiellen“) Geſchlechtsorgane ſelber erſt zur Entwicklung zu bringen, während ſie hier zwecks Ausprägung des übrigen („akzidentellen“) Geſchlechtscharakters von vornherein in Wirkung geſetzt werden. Hoden und Eierſtock ſind nämlich nicht etwa die einzigen Merkmale, worin ſich Männchen und Weibchen unter— ſcheiden: ſondern nebſtdem beſitzen ſie eine Reihe von Hilfsorganen und ſexuellen Abzeichen, die mit der Fortpflanzung nichts Anmittelbares zu tun haben; für den äußeren Geſchlechtstypus ſind ſie aber ſehr ent— ſcheidend. Eierſtock und Hoden entfalten, wie wir wiſſen, neben ihrer Zeugungsfunktion eine innerſekretoriſche Tätigkeit, welche die übrigen Geſchlechtsunterſchiede mächtig beeinflußt. Es war daher verlockend, zu prüfen, wie ſich die unterſcheidenden Kennzeichen verhalten und ver— ändern, wenn man die Keimdrüſen austauſcht, — Eierſtöcke in Männ— chen und Hoden in Weibchen überträgt.
Steinach hat dies Experiment an jungen Ratten und Meerſchwein— chen, Brandes im weiteren Verfolg der Steinachſchen Verſuche an Damhirſchen ausgeführt. Die Verſuchstiere werden zuerſt kaſtriert, dann die andersgeſchlechtlichen Keimſtöcke unter der Haut oder inner— halb des Bauchfelles zum Einheilen gebracht. Als Folge davon werden die Männchen „feminiert“ (Abb. 51), die Weibchen „mas— kuliert“ (Abb. 52). Bei der Feminierung verkleinert ſich das männ— liche Begattungsglied zum Kitzler, Größen- und Formverhältnifje des Skelettes wie Geſamtkörpers nehmen den grazileren weiblichen Cha— rakter an, es entwickelt ſich die ſeidig weiche Behaarung, der typiſche Fettanſatz des Weibchens, und beim Meerſchweinchen wachſen Bruſt— warzen, Warzenhof und Bruſtdrüſe zu voller Milchergiebigkeit heran. Solch feminierte Tiere benehmen ſich normalen Männchen gegenüber wie Weibchen, Jungen gegenüber als erfolgreich ſäugende Mütter (Abb. 53). Bei der Maskulierung verwächſt die Scheide teilweiſe, den Ratten vollſtändig; die Behaarung wird grob, lang, ſtruppig; der mächtige Bullenkopf mit ſeinem beſonders breiten Augenzwiſchenraum, das überragende Skelett- und geſamte Körperwachstum entſprechen durchaus dem Typus des erwachſenen Männchens. Maskulierte Tiere bekommen männlichen Geſchlechtstrieb, unterſcheiden das nichtbrünſtige vom brünſtigen Weibchen, verfolgen letzteres und kämpfen mit Neben— buhlern. — Damhirſchkühe ſetzten, wie nachher Brandes gezeigt hat, unter dem Einfluß des ihnen eingeſetzten Hodens Geweih-„Roſen— ſtöcke“ auf.
Möglicherweiſe iſt ein lange bekannter, überraſchender Fall von „paraſitärer Kaſtration“ als natürliche Feminierung an— zuſehen: Smith beſchrieb männliche Dreieckskrabben, die vom paraſiti— ſchen Wurzelkrebs (Sacculina) befallen waren; in ihren arg verwüſteten 202
Abb. 53. Meerſchweinchen, Säugefunktion des feminierten (Originalphotographien nach den Verſuchen don E. Steinach.)
Männchens.
eminiertes Männchen.
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Demonſtration ſeines Penis.
Dasſelbe ſäugend (ein Junges).
Dasſelbe ſäugend (wei Junge).
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Hoden begannen die Samenkanälchen ftatt der Samenfäden Eier zu führen, und auch äußerlich nehmen ſolche Männchen die Geſtalt, ja die Triebe des Weibchens an. Sie bekommen das breite Abdomen und die zum Halten der Eier beſtimmten Abdominalfüße des Weibchens; dort, wo abgelegte Eier haften ſollten, ſitzt jedoch der Paraſit, und er iſt es, der an Stelle der Eierlaſt von den weibchengewordenen Männ— chen beſchützt und verteidigt wird. Der ſackförmige Körper des Wurzel— krebſes iſt faſt ganz von ſeinem ungeheuren Eierſtock erfüllt; und Biedl meint, daß dieſer auf den Körper der Krabbe innerſekretoriſch wirke, gleichſam als ob es ſich um einen transplantierten Eierſtock handle. Ich ſelbſt habe mich gegen Biedls geiſtreiche Auslegung geſträubt; jetzt aber, nach Vollendung der wunderbaren Verſuche von Steinach, ſowie nach den Fütterungsreſultaten mit Säugetierdrüſen an Froſchlarven (S. 168) kann ich nur wünſchen, daß möglichſt bald die experimentelle Kontrolle jenes Naturverſuches einſetzen möge. Daß nämlich die Wirtskrabbe und ihr Schmarotzer zu ſehr verſchiedenen Gruppen der Krebstiere ge— hören, die ſtammesgeſchichtlich weit auseinanderliegen, wäre für das Anſprechen des einen Organismus für Hormone des anderen kein Hindernis: ſahen wir doch eben auch, daß innerſekretoriſche Drüſen von Säugetieren, an Kaulquappen verfüttert, dort Wirkungen hervorbringen, die — dem Prinzip nach — denen im Säugetierkörper vollkommen ent— ſprechen.
doch etwas lehren die Verſuche über Geſchlechtsumwandlung: man findet Individuen, bei denen normal ausſehende Geſchlechtsdrüſen in allen Kombinationen mit ſonſtigen Geſchlechtsmerkmalen des eigenen wie des entgegengeſetzten Geſchlechtes verbunden ſind. Im extremen Fall Männchen, deren äußeres Gepräge ſie mit Weibchen zu ver— wechſeln erlaubt (Weibmänner, „Feminagines“); oder Weibchen, die außer ihren Eierſtöcken faſt nur männliche Merkmale beſitzen Mann weiber, „Viragines“). Im Gegenſatz zum Reinzwittertum (Herm- aphrodismus verus), wo Hoden und Eierſtöcke im ſelben Körper neben— einander oder zur einheitlichen Zwitterdrüſe („Ovotestis“) gemiſcht auf: treten, beſitzt das Scheinzwittertum (Herm. secundarius) nur einer— lei Geſchlechtsdrüſen, aber beiderlei Geſchlechtsmerkmale oder ſogar nur ſolche des entgegengeſetzten Geſchlechtes. — Daß ſogar dies letzte Vor— kommnis möglich iſt, konnte vor Durchführung entſprechender Experi- mente nicht beſſer gedeutet werden als durch die Annahme, die Hormone von Eierſtock und Hoden ſeien identiſch und brächten daher gleiche Wirkung hervor; könnten alſo männliche Attribute ebenſo zur Entfaltung bringen wie weibliche. Sogar ein Verſuch ſchien dieſer ehemals plauſiblen An— ſicht, der ich ſelbſt geneigt war, günſtig zu ſein: Meiſenheimer brachte faftrierten Froſchmännchen Eierſtocksſubſtanz in die Lymphräume des Rückens, worauf ſich die Daumenſchwielen — ein Brunftabzeichen des Männchens — nur wenig ſchwächer entwickelten, als wenn dem Stoff— wechſel in gleicher Weiſe Hodenſubſtanz zugeführt worden wäre. Da jedoch von anderer Seite (Halban, Steinach, Smith) mehrfach feſtgeſtellt 204
wurde, daß die Begattungsſchwielen bis zu einem gewiſſen Grade von den Geſchlechtsdrüſen unabhängig find und auch bei Kaſtraten eine merkliche jahresperiodiſche Evolution und Involution mitmachen, ſo darf der Froſch nicht mehr als geeignetes Objekt zur Entſcheidung der Frage gelten.
Es iſt Halbans bleibendes Verdienſt, das Scheinzwittertum lein— ſchließlich des rein pſychiſchen, der „Homoſexualität“) als bloß grad— weiſe verſchieden vom echten Zwittertum nachgewieſen zu haben. Da aber heute durch Steinach feſtſteht, daß die Keimdrüſen nur die ihnen zuſtändigen Merkmale fördern, die fremden dagegen hemmen, — ſo müſſen die un— echten Zwitter einer anderen Erklärung zugänglich ſein. Wir finden ſie in der wiederholt betonten potentiell zwitterigen Anlage des Keimes: entwickelt er ſich zum getrenntgeſchlechtlichen Individuum, ſo bleiben kümmerliche Refte der andersgeſchlechtlichen Anlage trotzdem dauernd in ihm erhalten. Dieſe mußte verkümmern, weil die ſtärkere Entwicklungs— tendenz der zu voller Ausprägung gelangten Anlage — dank den äußeren und inneren geſchlechtsbeſtimmenden Faktoren — beizeiten die Oberhand gewann; wird aber die letztere, ſiegreiche Anlage zu einem ſpäteren Termin geſchwächt, ſo könnte die ehemals unterlegene Anlage nachträglich erſtarken und innere Sekrete entſenden, deren Wirkung in Form zwitteriger Merkmale zum Ausdruck käme. Hier liegt wiederum noch ein weites und ſchwieriges Feld experimenteller Bearbeitung offen; was uns an ſonſtigen Erfahrungen vorliegt, beſtätigt unſere Vermutung. Zu dieſen Erfahrungen gehören in erſter Linie die Anterſchiede im Ver— halten von Tieren und Menſchen, denen ihre Geſchlechtsdrüſen auf operativem Wege zerſtört wurden, und ſolchen, die ſie durch Alter oder Krankheit verloren. Dort tritt der (im folgenden Abſchnitt zu be— ſchreibende) „Kaſtratenhabitus“ auf, der keineswegs aus Merkmalen entgegengeſetzten Geſchlechtes beſteht: hier aber findet häufig echte Ge— ſchlechtsverwandlung ſtatt. Alte oder eierſtockskranke Hennen werden hahnenfiedrig, Enten erpelfiedrig, Hirſch- und Rehkühe ſetzen Geweihe auf („Gynandrismus“); das entſprechend Umgekehrte, Hennenfiedrig— keit uſw., findet ſich beim alten oder hodenkranken Männchen („An— drogynismus “). Der ſcheinbare Widerſpruch löſt ſich in befriedigender Weiſe, wenn wir mit Biedl annehmen, daß die operative Kaſtration mit der eigenen auch die ſchwer auffindbaren Rudimente der fremden Geſchlechtsanlage entfernt, ſoweit fie für Hormonbildung in Betracht kommen; die ſenile und degenerative Kaſtration dagegen läßt dieſe letztere durch Zugrundegehen der erſteren manchmal (eben in Fällen von Hahnen- bzw. Hennenfiedrigkeit uſw.) zu vermehrter innerſekretoriſcher Tätigkeit gelangen.
f) Sekundäre Geſchlechtsorgane (Differentiae genitales et extragenitales)
Die Tatſachen der Gefchlechtsverwandlung haben uns über das Weſen derjenigen Organe, die Männchen und Weibchen außer ihren
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Keimdrüſen unterscheiden, manchen Aufſchluß gebracht, vermochten aber noch nichts über deren erſtmalige Entſtehung auszuſagen.
Im Reiche der Arweſen bedeuten Kopulationszelle und Geſchlechts— individuum, da dieſes nur aus der einen Zelle beſteht, dasſelbe; auch bei den vielzelligen Weſen iſt es zwar für das Geſchlecht des Indivi— duums entſcheidend, ob ſein Keimlager Mikro- oder Makrogameten hervorbringt, — aber gerade deshalb konnte es für die übrigen Gewebe nicht gleichgültig bleiben, ob aus jener Region unruhige, plasma— bedürftige und kurzlebige Samenzellen oder träge, plasmareiche, lang— lebige Eizellen ihren Arſprung nehmen. Die Erforderniſſe der verſchie— denen, von den Gameten zu leiſtenden Arbeiten und damit die Arbeits— teilung ſelbſt mußten allmählich auf ihren Träger und Beſitzer übergehen; wir finden daher beim Männchen das raſchlebige Suchen, Werben, Haſchen und Vergewaltigen, die Entfaltung der höchſten vitalen Energie, die extremſt fortſchrittliche Tendenz in Keimes- und Stammesentwicklung; wir finden beim Weibchen das geruhige Erwarten, das konſervative Stehenbleiben, die ſatte Ausdauer, zähe Geduld, nimmermüde Wider— ſtands- und hierdurch arterhaltende Kraft. Es iſt ja jo begreiflich, daß eine Keimzelle, der eine beſtimmte Geſchlechtstendenz innewohnt, alle Körperzellen, die aus ihr hervorgehen, deren Ahn ſie iſt, geſchlechtlich abſtempelt. So ſehen wir denn ſchrittweiſe immer größere, zuerſt Tätig— keits-, dann Geſtaltsveränderungen der Männchen und Weibchen ſich bemächtigen. Zuerſt iſt es nur das die Keimzellen abſondernde, drüſige Organ ſelbſt, das ſich hier zum Eierſtock, dort zum Hoden wandelt („primäres Geſchlechtsorgan“); dann find es auch bereits die Ausführungsgänge, die Eileiter und Samenleiter, die nicht mehr gleichen Verlauf und Amfang bewahren, — um ſo weniger, wenn röhrige Or— gane, die urſprünglich zu anderen Zwecken dienten, beiſpielsweiſe der Harnentleerung, erſt nachträglich, und zwar nur von einem Geſchlecht, in den Dienſt der Keimſtoffableitung geſtellt werden. Des weiteren müſſen ſich die Mündungen der Geſchlechtsgänge umgeſtalten, — es treten die äußeren Begattungs-, Reiz- und Brutpflegeapparate auf, zuſamt den Leitungswegen als geſchlechtliche Hilfsorgane („ſubſidiäre Genitalien“) bezeichnet. Aber auch an derjenigen Stelle, wo die im Innern produzierten Geſchlechtsſtoffe an die äußere Körperfläche ge— langen und wo nunmehr auch die Geſchlechtsverſchiedenheiten angelangt ſind, bleiben die Differenzierungen nicht ſtehen, ſondern verbreiten ſich bis zu verſchiedenſten, teils äußeren, teils inneren Punkten des übrigen Körpers. So bilden ſich außen Geweihe, Kämme, Schillerfarben, Duft— organe uſw. des Männchens; innen beſondere Drüſen, Eigentümlich— keiten des Knochenbaues, des Kehlkopfes mit Folgeerſcheinungen für die Stimme (Geſang der männlichen Singvögel, Zikaden, Fröſche, tiefe Stimme des menſchlichen Mannes), des Nervenſyſtems und Gehirnes mit Folgeerſcheinungen für die Seele (Mut, Naufluft der männlichen Tiere). Das Weibchen geht beim Erwerb von Sexualattributen viel— fach leer aus; ſeine Kennzeichen beſtehen eher in Abweſenheit aller auf— 206
fälligen Merkmale, einfachen, oft mit der Umgebung übereinſtimmenden Farben, die wirkſamen Schutz z. B. bei der für feindliche Überfälle günſtigen Eiablage und beim Brüten gewähren. Doch gibt es Aus— nahmen: bei den Odinshühnern, beim ſchwarzkehligen Laufhühnchen Madagaskars iſt es das Weibchen, das in ſeinem Außern und Be— nehmen die ſonſtige Rolle des Männchens übernommen hat. Vielleicht iſt der Menſch im Begriffe, ſich jenen Ausnahmen zuzugeſellen: und das muß, nebenbei bemerkt, der Standpunkt des entwicklungshiſtoriſch Denkenden gegenüber der Frauenbewegung ſein. — Die Geſamtheit derjenigen Geſchlechtsunterſchiede, die bei der Fortpflanzung nicht direkt mitarbeiten, werden ſekundäre Merkmale („ertragenitale Organe“) genannt.
Wenn man nun alſo wohl begreift, warum ſekundäre Geſchlechts— organe entſtehen mußten, iſt mit dem bisher Geſagten noch nicht einzu— ſehen, wie ſie entſtanden. Größtes Anſehen behauptete lange Darwins Erklärungsverſuch durch geſchlechtliche Zuchtwahl, die aber nicht gelten kann, weil ſie irrtümlich eine Mehrheit von Männchen (kämpfen— den Nebenbuhlern) und eine ſeitens des Weibchens geübte Wahl vor— ausſetzt, endlich weil Zuchtwahl (S. 322) überhaupt unfähig iſt, Poſi— tives zu ſchaffen. Ferner ſollte die im Vergleich zum Weibchen haus— hälteriſche Verwendung der männlichen Geſchlechtsprodukte die Arſache fein, weshalb der Aberſchuß für andere Zwecke, für Bärte, Prachtkleider, bunte Lappen aller Art Verwendung finden konnte. Damit ſteht im Widerſpruch, daß gerade die in Vielweiberei lebenden, ſtärkſt bean— ſpruchten Männchen ſich durch üppigſte Entfaltung äußerer Geſchlechts— merkmale auszeichnen. Schließlich wurde behauptet, daß die ſekundären Geſchlechtsorgane von den Geſchlechtsdrüſen durch nervöſe Anreize oder chemiſch wirkſame Abſcheidungen direkt geſchaffen werden.
Dieſe Vermutung war es, die dem Experiment zuerſt den Weg wies. Vor allem geſchah die Ausſchaltung der Keimdrüſe durch Ka— ſtration. Ihre Folgen betreffen aber nicht etwa nur die Geſchlechts— charaktere, ſondern den ganzen Organismus: Knochenbau, Haut und Muskulatur, Blutbeſchaffenheit, der geſamte Stoffwechſel erleiden Ver— änderungen, meiſt im Sinne ihres abnehmenden Wertes. And die eigentlichen Geſchlechtsmerkmale verſchwinden erſtens nicht, zweitens können ſie bei noch ſo zeitiger Operation an ihrer Entfaltung bis zu einem gewiſſen, abgeſchwächten Grade nicht gehindert werden, drittens verändern ſie ſich nicht geradezu in der Richtung auf das entgegen— geſetzte Geſchlecht hin. Wohl werden Weibchen und Männchen durch Kaſtration einander ähnlicher, aber das beſteht nie in Konvergenz auf kürzeſtem Wege; ſondern es wird eine Form erreicht, die weder dem Männchen noch dem Weibchen gleicht, gewiſſermaßen ein „drittes Ge— ſchlecht“, beſſer, eine „ungeſchlechtliche Sondergeſtalt“ der Art (Abb. 54, auch 51, 52). Sp wird der vor feiner Geſchlechtsreife („prä— puberal“) kaſtrierte Mann nur dadurch weibähnlich, daß viele Organe auf kindlicher Stufe ſtehen bleiben (z. B. der Kehlkopf, was mit hoher
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Stimme verbunden); andere Kaſtrationsfolgen, wie vermehrter Fett— anſatz, geſteigertes Längenwachstum bei Dünnheit und Weichheit der Knochen, Verkleinerung des Groß- und Kleinhirnes, Vergrößerung des Hirnanhanges, Verteilung der Haare, erſtrecken ſich in gleicher Weiſe auf Mann und Weib. Man fand auch Geſchlechtsmerkmale, die ſich durch Kaſtration und andere Maßnahmen faſt oder gar nicht beein— flußbar zeigten: ſo den Augenbrauenwulſt des Mannes, Widerriſt des Hengſtes, beinahe alle geſtaltlichen und funktionellen Sexualattribute der Inſekten; doch ſind dieſe „konkordanten“ Geſchlechtscharaktere von den echt „ſekundären“ wohl nur dem Grade nach verſchieden, indem
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Abb. 54. Haus rind, O Stier, P Kuh, a Schnigfalbin (weiblicher Kaſtrat), b Ochſe (männlicher Kaſtrat). (Nach Tandler und Keller aus Przibram, Experimentalzoologie V.)
ſie ſich allmählich vom Einfluß des primären Organes befreiten oder noch nicht unter ſeine Herrſchaft gelangten.
Weiter erſetzte man den ausgeſchalteten Einfluß der Keimdrüſen durch deren Transplantation an richtige oder fremde Stelle mit allen Variationen, deren dieſe Methode (S. 139) fähig iſt. Im Prinzip iſt es gleichgültig, welche davon angewendet wird: wofern die in den Körper zurückgebrachten Geſchlechtsſtoffe rechtzeitig angewendet werden, heben fie die Kaſtrationsfolgen auf und beweiſen zugleich, daß die an— regende Wirkung der Keimdrüſe auf das Wachstum gewiſſer Teile nicht durch nervöſe Reize erfolgt, ſondern auf dem chemiſchen Wege der inneren Sekretion. Nicht alle Gewebe verpflanzter Keimdrüſen bleiben erhalten: die Ei- und Samenröhrchen gehen in der Regel bald zugrunde, und nur die Leydigſchen Zwiſchenzellen, die „interſtitielle Sub— ſtanz“ des Eierſtockes und Hodens, wuchern weiter; da ſchon früher gezeigt worden war, daß wahlweiſe Zerſtörung des eigentlichen, gene— 208
rativen Gewebes durch Nöntgenitrahlen, wobei letzteres allerdings nur vorübergehend vernichtet wird, den Kaſtratenhabitus nicht herbeiführt, ſondern Triebe und Merkmale der vollen Geſchlechtlichkeit erhalten bleiben, ſo muß gefolgert werden, daß ausſchließlich oder hauptſächlich das Zwiſchengewebe an der Reifung und vollen Ausprägung der übrigen Geſchlechtsunterſchiede beteiligt iſt. Da ferner in den Verſuchen von Steinach durch Hodenverpflanzung ins kindliche Tier Reindarſtellung des Zwiſchengewebes ſtattfand, und Zwiſchengewebe allein ſämtliche körperlichen und ſeeliſchen Erſcheinungen der Geſchlechtsreife (Pubertät) hervorzubringen vermochte, ſo nannte Steinach dieſen von ihm durch Pfropfung iſolierten Gewebsanteil des Keimſtockes „Pubertätsdrüſe“. Zur endgültigen Entſcheidung bleibt noch eine Methode zu erſinnen, mit deren Hilfe man umgekehrt elektive Zerſtörung des Zwiſchengewebes bei Erhaltenbleiben des Eier und Samen erzeugenden Gewebes vor— nehmen kann.
Obwohl, wie geſagt, die Protektion des Wachstums von Geſchlechts— organen auf chemiſchem Wege erfolgt, iſt ein nervöſer Regulator zwiſchen „Arſprungsorgan“ (Keimdrüſe) und „Erfolgsorgan“ (Sexual— attribut) doch eingeſchaltet: das Gehirn. Ahnliche Effekte wie durch In— jektion von Geſchlechtsſubſtanz erzielte Steinach nämlich auch durch In— jektion von Gehirnſubſtanz brünftiger Tiere, während ſämtliche anderen Organextrakte jederzeit verſagen. Man ſtelle ſich demnach vor, daß die Abſonderungen der Keimſtöcke, die ja zweifellos zunächſt direkt auf das Wachstum der Geſchlechtsmerkmale Einfluß nehmen können, außerdem noch unmittelbar gewiſſe Stellen des Gehirnes empfindlich machen (ſenſibiliſieren, „erotiſieren“); beſtimmte von dort ausſtrahlende („vaſo— motoriſche“) Nerven erweitern darauf vermutlich manche Blutgefäße, verengern andere, ſo daß manche Körperteile ſtärker, andere ſchwächer vom ernährenden Blutſtrom verſorgt werden; erſtere zeigen dann be— ſchleunigtes Wachstum, — und wenn dies periodiſch verläuft, werden ſie zu Brunftmerkmalen.
Noch mehr Anhaltspunkte, wenn wir beſtändig das genetiſche Moment der Anfangsentſtehung von Grund auf im Auge behalten, gewährt uns die planmäßige Züchtung mit Geſchlechts— charakteren. Sie verſchafft uns die Einſicht, daß die Geſchlechts— merkmale des Weibchens auch vom Männchen vererbt werden, und um— gekehrt. Jedes Geſchlecht befindet ſich im Beſitze nicht nur ſeiner eigenen, ſondern auch der Erbeigenſchaften des anderen Geſchlechts, was ja mit unſerer Annahme von der biferuellen Anlage des Keimes aufs beſte überein— ſtimmt. Einen Fall, der es beweiſt, kennen wir ſchon: die Zucht des auf weißem Grunde ſchwarz und gelb gezeichneten Stachelbeerſpanners und ſeiner nur gelb geſtrichelten milchfarbenen Abart (S. 190; Taf. IV, Fig. la u. b); er ſei nunmehr durch zwei andere Fälle, die einander wechſelſeitig ergänzen, vervollſtändigt. Der Spanner Nyssia pomonaria beſitzt im weiblichen Geſchlecht ganz verkümmerte Flügel, der Spanner Biston hirtarius iſt in beiden Geſchlechtern vollgeflügelt; die weiblichen
Kammerer, Allgemeine Viologie 14 209
Baſtarde aber tragen halblange Flügel! —: hier iſt alſo ein ſchroffer Geſchlechtsunterſchied teilweife verwiſcht worden (Abb. 55). Amgekehrt wird ein indifferentes Raſſenmerkmal zum Geſchlechtsmerkmal, wenn man die in beiden Geſchlechtern gehörnten Dorſetſchafe mit den in beiden Geſchlechtern hornloſen Suffolkſchafen kreuzt: in der Kindergeneration beſitzen alle männlichen Lämmer Hörner, alle weiblichen keine Hörner. In der Enkelgeneration erſcheinen ſämtliche Kombinationen aus Hörner— tragen und Geſchlecht, indem auf etwa drei gehörnte Männchen ein ungehörntes, auf drei ungehörnte Weibchen ein gehörntes kommt. Viele andere Beiſpiele zeigen, daß dieſer Vorgang als ein ſehr allgemeiner aufzufaſſen iſt: fo ſcheint das Nenntier, wo beide Geſchlechter ein Ge— weih tragen, ſtammesgeſchichtlich älter zu ſein als andere Hirſche, wo nur der Bock es trägt, das Weibchen nur unter der Haut verſteckt bleibende Geweihanlagen ausbildet; dementſprechend hat auch nach Tandler die Kaſtration beim Ren auf Wachstum und Wechſel des Geweihes
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Abb. 55. Kreuzung zwiſchen dem Spanner Biston hirtarius (a) und dem Spanner Nyssia pomonaria (c). b Baſtard: 0 Männchen, P Weibchen.
(Aus Przibram, Experimentalzoologie III.)
keinen nennenswerten Einfluß („konkordantes“ Geſchlechtsmerkmal!), wo— gegen dieſe Prozeſſe bei Hirſch und Reh durch Entfernung der Hoden für immer unterdrückt werden („ſekundäres“ Geſchlechtsmerkmal!). Brauchbare Auskünfte über Entſtehung der Geſchlechtsmerkmale liefert uns ſchließlich deren Beeinfluſſung durch äußere Lebens— bedingungen. Die Vogelliebhaber wiſſen, daß der männliche Kreuz— ſchnabel und andere Singvogelmännchen im Käfig nach der erſten Mauſer das einfache Kleid des Weibchens annehmen: das rote Pracht— gefieder läßt ſich nur in Freilandvolieren und Winterkälte erhalten. Könnte hier fettige Degeneration der Hoden, alſo eine Art von Ka— ſtration, ebenſo wie in analogen Verſuchen von Standfuß, Frings und Kosminsky an Schmetterlingen Hitze- bzw. Kältekaſtration, vorliegen, ſo iſt dies in folgendem von mir ermittelten Fall nicht möglich: die Mauereidechſe tritt im Freien in Form rot- und weißbauchiger Männ— chen, aber nur weißbauchiger Weibchen auf. Temperaturerhöhung bringt jedoch auch rotbauchige Weibchen hervor. Selbſt bei Kreuzung dieſer mit weißbauchigen Männchen befinden ſich unter den ohne Tem— peraturerhöhung aufgezogenen Nachkommen wiederum rotbauchige Weib— chen. Es iſt hier innerhalb der Eidechſenweibchen eine Zwiegeſtalt (ein Dimorphismus) hervorgerufen worden, und zwar iſt ein Teil der Weib— chen, da man durch Wärme ihren Stoffwechſel beſchleunigte und er—
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höhte, dem bunter gefärbten Männchen nachgeraten. Es gibt indische und afrikaniſche Tagfalter (Taf. IV, Fig. 4b—d) mit Vielgeſtaltigkeit („Polymorphismus“) des Weibchens, die ſicherlich ebenſo durch etappen— weiſes Nachhinken des Weibchens, deſſen Formen ſich durch größere oder geringere Männchenähnlichkeit voneinander unterſcheiden, zu erklären iſt.
Die Geſchlechtsmerkmale verhalten ſich nach alledem wie Raſſen-, Art- oder Gruppenmerkmale: fie vererben ſich nach denſelben Regeln, ſind ganz ebenſo äußeren, erblich fortwirkenden Einflüſſen zugänglich. Mit Hilfe von Vererbung und künſtlicher Veränderung können wir ſowohl Merkmale, die bei den Stammformen geſchlechtlich indifferent waren, auf Männchen und Weibchen ungleich verteilen, als auch Merk— male, die bereits geſchlechtlich unterſchieden waren, wieder beiden Ge— ſchlechtern zukommen laſſen. Noch heute iſt überall das Männchen im Beſitze des Erbſchatzes weiblicher Merkmale und umgekehrt. Nehmen wir die durch Kaſtrations-, Transplantations- und Injektionsverſuche offenbar gewordenen Verſchiedenheiten des Stoffwechſels hinzu, ſo ge— langen wir zu folgendem Schlußergebnis: die Geſchlechtsunterſchiede (die ſekundären ſowohl wie letzten Endes ſogar die primären) ſind ehe— mals gemeinſchaftliche Art- und Raſſenmerkmale geweſen, die unter abweichenden Stoffwechſelbedingungen verſchieden gedeihen, in einem Geſchlecht (meiſt dem männlichen) an Ausbildung gewinnen, im anderen (meiſt dem weiblichen) ſtehenbleiben oder zurückgehen mußten.
Wir waren nur in der Lage, dieſe weittragenden Geſetzmäßigkeiten mit Beweiſen zu belegen, die faſt ausſchließlich dem Tierreich ent— nommen wurden. Dies rührt zum Teil daher, daß im Pflanzenreich die Zwitterigkeit über Getrenntgeſchlechtlichkeit die Majorität behauptet; zum anderen Teil daher, daß einmal das Vorhandenſein von Geſchlechts— unterſchieden bei getrenntgeſchlechtlichen Arten (3. B. heteroſpore Farne, zweihäuſige Blütenpflanzen) erſt jetzt anfängt, die ihm gebührende Be— achtung zu finden (Goebel); und daß ferner das Studium innerſekretori— ſcher Vorgänge im Pflanzenreich bisher gänzlich vernachläſſigt wurde, wohl auch noch ſchwieriger einwandfrei zu handhaben iſt als im Tier— reich. So find z. B. Kaſtrationsverſuche (an Tragopogon, Hièracium und anderen Cichoriden) ohne Anterſuchung etwaiger ſekundär-ſerueller Folgen nur zu dem Zwecke ausgeführt worden, um Baſtardierung aus— zuſchließen. Immerhin beweiſen aber Vererbungsverſuche, wie die ſchon erwähnten von Correns an Zaunrüben, ebenfalls von Correns am Spitz— wegerich, von Shull an Lichtnelken u. a., daß die Herleitung der Sexual— charaktere von ehedem gemeinſchaftlichen Raſſen- oder Art- (ſog. „Syſtem— merkmalen“) für die Pflanzen genau ebenſo zutrifft wie für die Tiere.
5. Befruchtung (Fekundation)
Den Gang der Dinge beim Entſtehen von Gegenſätzen, die ſich zuerſt auf die zur Verſchmelzung beſtimmten Zellen beſchränken, dann auch auf den übrigen Körper ihrer Träger erſtrecken, — dieſen Ent—
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wicklungs- und Trennungsvorgang haben wir zu Ende verfolgt. Wir müſſen jetzt zuſehen, wie ſein Ergebnis ausgenützt wird: wie die ge— trennten, unterſchiedlichen Elemente ihre Beſtimmung erfüllen und zus ſammenkommen. Wir betrachten zunächſt rein beſchreibend einige Typen von Befruchtungen, die gewöhnlichſten Arten der Kopulation ganzer Geſchlechts zellen. Zum Aberblick der Vorgänge, die ſich dabei in den Geſchlechtskernen abſpielen, und daher zum tieferen Einblick in Zweck und Weſen des Befruchtungsprozeſſes iſt Einſichtnahme in Kernwande— rung (S. 175) und Reduktionsteilung (S. 193), ſowie in die erblichen Spaltungsprozeſſe (S. 253) unerläßlich, während über den Mechanismus des durch Befruchtung gegebenen Entwicklungsimpulſes der nächſtfolgende Abſchnitt („Parthenogeneſe“, S. 222) unterrichten ſoll.
Bei vielen Algen, den Mooſen (Taf. I, Fig. 40) und Farnen Taf. I, Fig. 5i), ſowie den niederſten Blütenpflanzen (Gingkos, Zykas— palmen) gibt es wie bei den Tieren ſelbſtbewegliche männliche Keime, die deshalb hier wie dort mit gleichem Namen „Spermatozoiden“ genannt werden. Die einfach oder doppelt geſchwänzten, extra bewim— perten, meiſt ſchraubenförmig gedrehten Spermatozoiden, ſowie die großen, unbeweglichen Eizellen der genannten Sporenpflanzen werden in be— ſonderen Behältniſſen, jene in „Antheridien“ (Taf. I, Fig. 46, Si), dieſe entweder in einzelligen Dogonien (Algen) oder mehrzelligen Archegonien (Mooſe, Farne — Taf. I, Fig. 4e, 5h) gebildet und vorläufig aufbewahrt. Jedes Antheridium beherbergt eine Menge Sper— matozoen, während jedes Archegonium nur eine einzige, Dogonium eine oder wenige Eizellen enthält. — Die Spermatozoen ſchwärmen aus und ſchwimmen im Waſſer zur Eizelle hin, was bei Landpflanzen nur bei Bedeckung mit Tau- oder Regentropfen geſchehen kann. Die Eizellen verlaſſen entweder gleichfalls ihre Hülle (Fucus) oder ſie warten darin, bis Spermatozoen eindringen. Dies geſchieht mittels Durchbrechung der Dogoniumwand (Volvox), die eine hierzu vorbereitete farblofe Stelle, den „Empfängnisfleck“ (Sphaeroplea) oder einen Empfängnisſchlitz be— ſitzen kann (Oedogonium); die Archegonien ſind flaſchenförmig, und der Flaſchenhals dient als Zugangskanal für die Spermatozoen.
Bei manchen Pilzen, ſowie allen Blütenpflanzen (außer den vor— hin als Ausnahme bezeichneten Zykas- und Gingkogewächſen), ſind aber die männlichen Keimzellen unbeweglich und gelangen durch Auskeimen von Schläuchen, alſo durch Wachstum ſtatt Bewegung, zu den Eizellen. Wir müſſen uns auf knappe Beſchreibung der Befruchtung beſchränken, wie ſie bei bedecktſamigen Pflanzen verläuft, das ſind ſolche, bei denen die Fruchtblätter zu einem die Samenknoſpen umſchließenden Hohl— körper, dem Stempel, verwachſen (Abb. 56). In jeder Samenknoſpe entſteht eine ſehr große Zelle, der Embryoſack (Makroſpore); ihr Kern („primärer Embryoſackkern“) teilt ſich dreimal, fo daß dann acht Kerne vorhanden ſind, von denen ſich drei nach oben („Ei— apparat), drei nach unten („Antipoden“) und zwei in die Mitte begeben, und hier verſchmelzen („ſekundärer Embryoſackkern ). 212
Die Kerne am Scheitel und Grund des Embryoſackes umgeben ſich mit Plasma aus der Mutterzelle und ſind damit ſelbſtändige, wenn auch meiſt membranloſe Zellen geworden. Die mittlere und etwas tiefer— ſtehende von den drei nackten Zellen des Eiapparates übertrifft die beiden anderen („Synergiden“) an Größe und iſt die alleinige, zur Keimlingsbildung auserſehene Eizelle im ganzen Embryoſack. Dies iſt das Stadium der Samenknoſpe, in welchem ſie für den Empfang des Pollenſchlauches bereit iſt.
Die Pollenkörner (Mikroſporen) entſtehen in den Staubbeuteln der Staubgefäße und enthalten zwei Zellen von ungleicher Größe. Die kleinere, „animale“ (generative) Zelle teilt ſich nochmals und liefert zwei Spermatozoen; die größere, „vegetative“ Zelle liefert den Pollenſchlauch, welcher auskeimt, nachdem das Pollenkorn auf die Narbe — als Empfängnisſtelle eingerichtete, höchſte Fläche des Stempels — gefallen iſt. Der Pollenſchlauch trägt nun auf ſeinem Wege zur Samenknoſpe die beiden Spermatozoen mit ſich: er wächſt durch den (bisweilen fehlenden) Griffel in
den Fruchtknoten hinab und durch den Knoſpen— mund (Mikropyle) in die Samenknoſpe hinein, durch— bricht die Membran des Embryoſackes und läßt die beiden Spermatozoen in dieſen übertreten. Eins davon verſchmilzt mit der Eizelle, aus der daraufhin durch einen ganz ähnlich wie am tieriſchen Ei verlaufenden Furchungsprozeß (S. 144) der Pflanzenembryo hervor— geht; das andere Spermatozoon verſchmilzt mit dem ſekundären Embryoſackkern, woraus das vielzellige Nähr— gewebe („Endoſperm “) entiteht. — Die Beziehungen zwiſchen Pollen und Samenanlage ſind alſo die einer doppelten Befruchtung: die Befruchtung der Eizelle
Abb. 56. Stempel eines Knöterichs während der Be⸗ fruchtung: n Narbe, p Pollen— körner, ps Pollen- ſchlauch, g Griffel, fw Fruchtknoten⸗ wand, ie äußere, ii innere Decke der Samenknoſpe, e Em- bryoſack, ei Eizelle, sy Synergiden, ek Embryoſackkern, an Antipoden. (Nach Straßburger aus
Joſts Pflanzenphyſiologie.)
veranlaßt die Entſtehung der jungen Pflanze; die Be— fruchtung des Endoſpermkernes läßt gleichfalls einen Embryo wachſen, der jedoch „abortiv“ wird und dem bevorzugten Embryo als Reſerve— ſubſtanz dient, die er ſpäter aufzehrt. — Die Synergiden und Anti— poden haben weiter keine Aufgabe zu erfüllen und zerfallen; ihre Molle iſt übrigens im ganzen noch unklar: die Synergiden ſcheinen zuweilen bei Zugrundegehen der Eizelle dieſe erſetzen, die Antipoden als Ver— mittler des Nahrungszuſtromes für die Eizelle dienen zu können.
Im Vergleiche zu dieſem komplizierten Befruchtungsvorgang höherer Pflanzen, von dem wir nur die einfachſten Elemente herausgeſchält haben, iſt die „Beſamung“ der Tiere viel einfacher. In geradezu idealer Weiſe geſtatten beiſpielsweiſe die durchſichtigen Eier eines See— igels die Beobachtung des ganzen Prozeſſes (Abb. 57): der weibliche Seeigel (S. 224, Abb. 62) ſtößt Eier, der männliche ſtößt Spermatozoen maſſenhaft ins freie Meerwaſſer hinaus, wo es dem Zufall überlaſſen
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bleibt, ob Eier oder Spermien einander je begegnen. Die Spermien (vgl. auch S. 37, Abb. 5, Detail 6) tragen eine lange Geißel („Schwanz“),
durch deren Beſitz ſie außerordentlich einem Flagellaten ähneln, wo ja
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( repräfentiert ſchon faſt den ganzen Zelleib des Spermiums
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die Trennung der Geſchlechtszellen am früheſten nachweisbar ward;
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ier gleichenden Keimchens imponiert.
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und dem „Schwanz“ liegt als „Rumpf“ oder Mittelſtück des Samen— tierchens, gleichfalls von zarteſter Plasmaſchicht umgeben, das Zentro— ſoma dieſer Zelle. — Die Spermien werden mit Hilfe rudernder Schläge ihrer Geißel in Flüſſigkeiten raſch vorwärts getrieben und umſchwärmen die ruhig daliegende Eizelle, der ſie ihren „Kopf“ zuwenden. Endlich glückt es einem, ſich einzubohren, für welchen Zweck die Geſtalt des Kopfes oft außerordentlich geeignet iſt; aber der Schwanz fällt ab und bleibt außen: nur der Kopf ſamt Mittelſtück iſt wirklich hineingelangt, alſo nur Kern und Zentralkörperchen mit verſchwindender Plasmamenge, — abermals ſieht man, wie ſchon bei der Konjugation der Infuſorien, daß es der Befruchtung und Fortpflanzung weſentlich nur auf den Zellkern ankommen kann. Zunächſt iſt der Spermakern viel kleiner als der Eikern; im Ei aber beginnt er zu quellen, bis er — zur Größe des Eikernes herangewachſen — von dieſem kaum noch zu unterſcheiden iſt. Die beiden „Vorkerne“ rücken aneinander, platten ſich ab und ver— ſchmelzen zum einheitlichen „Kopulationskern“ der nunmehr be— fruchteten Stammzelle eines neuen Organismus.
Als erſtes, äußeres Anzeichen für vollzogene Befruchtung beobachtet man, daß ſich an der Oberfläche des Eies ein dünnes Häutchen ab— hebt: die Befruchtungs- oder Dottermembran. In dem Augen— blick, als dies geſchehen, kann kein zweites Spermium mehr ins Ei dringen; die Membran umgibt das Ei wie ein Wall und hält ſie alle ab. Geſchieht es zuweilen, wenn das Ei in gar zu konzentrierter Samen— flüſſigkeit liegt (wie beſonders bei künſtlichen Beſamungen), daß zwei oder mehrere gleichzeitig die Eioberfläche berührten und daher eindrangen, ehe die Membran abgehoben war („Polyſpermie )), ſo ſind ſchwere, zuletzt tödliche Entwicklungsſtörungen die Folge.
Befruchtungen, bei denen ſich die Keimzellen außerhalb des Körpers begegnen, kommen vor bei den meiſten feſtſitzenden Tieren (3. B. See— ſcheiden, Blumentieren [S. 275, Abb. 76], Schwämmen) und vielen langſam beweglichen Tieren (3. B. Stachelhäutern und Muſcheln), aber auch noch bei Fiſchen und Fröſchen, ſoweit ſie nicht lebendiggebärend ſind, alſo mit Ausnahme etwa der viviparen Kärpflinge, gewiſſer Haie, des Zitterrochens, der Aalmutter, der oſtafrikaniſchen Kröten Pseudo- phryne vivipara und Nectophryne tornieri. Solch externe Be— fruchtung gleicht ungefähr der bei den Algen, wo die Eizellen aus dem Oogonium, die Spermazellen aus dem Antheridium entweichen und ſich frei im Waſſer finden; ſie kann nur mit großer Verſchwendung an Zeugungsſtoffen arbeiten, da ſonſt die Wahrſcheinlichkeit jenes Findens gar zu gering wäre. Wie nun im Pflanzenreich Erſparniſſe an Fort: pflanzungszellen, beſonders an Samenknoſpen, dadurch erzielt werden, daß letztere im Inneren eines ſchützenden Gehäuſes befruchtet werden; jo im Tierreich Erſparungen an beiderlei Zeugungsſtoffen gleichfalls durch interne Befruchtung im Körper des Weibchens. Die mannigfaltigen Einrichtungen, die dazu führen und die „Beſtäubung“ der Pflanzen, „Begattung“ der Tiere ermöglichen, können im Rahmen
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der Allgemeinen Biologie kaum Platz finden; ſind beſſer ins ſpeziellere Gebiet der Ethologie oder Lehre von den Lebensgewohnheiten zu ver— weiſen.
Hier iſt beſonders die Blütenbiologie zu einer in weitem Umfang ſelbſtändigen und das Intereſſe feſſelnden Wiſſenſchaft geworden. Sie lehrt uns die Beſtäubungsapparate (klebrige oder in ihrer Oberfläche durch Lappen und Haare vergrößerte Narben paſſen zu Pollenkörnern mit rauhem Relief), die Lockmittel der Blüte (Duft, doch ſicher auch Farbe und Form), ihre Empfangseinrichtungen (Saftmale, Trittbrettchen, Geländer) für das die Beſtäubung leiſtende Tier (fliegende Inſekten und kleinſte Vögel) und die Abhaltung kriechender, Blüten— ſtaub verlierender und Blütenorgane freſſender Inſekten (durch Honig— drüſen außerhalb der Blüten, Haar- und Leimringe) kennen; ihre Vor— kehrungen zur Behinderung der Selbſtbeſtäubung (ungleichzeitiges Reif— werden von Staub- und Fruchtblättern, hinderliche gegenſeitige Lage dieſer Teile) und zur Beförderung der Wechſelbeſtäubung Gebel, Schlender: und Klebeapparate der Staubblätter, Fegehaare des Stempels, Unterbringung der Nektarien und deren Ausſcheidung des Honigſaftes), — lauter Merkmale, die nur den durch Tiere beſtäubten („inſektophilen“) Blüten zukommen, den durch Wind beſtäubten („anemophilen “), z. B. Erle, Haſelſtrauch, Getreidearten, abgehen.
Nicht minder mannigfach find die Begattungseinrichtungen der Tiere: zunächſt ſcheint jede Beziehung zwiſchen Begattung und Abergang von äußerer zu innerer Befruchtung zu fehlen; denn einer— ſeits kommt Aneinanderdrücken der Körper (gewiſſe Fiſche, z. B. Ma— kropode), ja Amklammerung (Froſchlurche) trotz äußerer Beſamung vor, andererſeits deren Fehlen trotz innerer Befruchtung, wobei das Weibchen dem voraustänzelnden Männchen folgt und deſſen auf den Boden ge— ſetzte Samenpakete, „Spermatophore“, mit der Geſchlechtsöffnung aktiv aufnimmt (Waſſermolche). Innerhalb der Molche iſt dann aber endlich die zweckmäßige Kombination von Amplexus und Samenübertragung begonnen, wobei die Geſchlechtsöffnungen einander nahegebracht werden, um endlich bei den höheren Wirbeltieren, von den Reptilien angefangen, zugleich mit Gewinn beſonderer Be— gattungsorgane (in Scheiden paſſende Ruten) zu vollſtändiger Vereini— gung zu gelangen. Echte Begattungen mit inniger Berührung oder Ineinanderſtülpung der Geſchlechtsöffnungen ſind unabhängig von dieſer, für die Wirbeltiere geſchilderten Reihe auch ſchon unter Wirbelloſen (Gliedertiere, Schnecken, Kopffüßer, Erdwürmer) mehrfach zuſtande— gekommen.
6. Lebendgebären und Brutpflege
Mit dem ſicheren Vollzug der inneren Befruchtung, wie er im Tierreich durch Begattung, im Pflanzenreich durch Beſtäubung gegeben iſt, erſcheint die Zahl der Vorkehrungen nicht erſchöpft, um ein mög— lichſt vollſtändiges Aufbringen der Nachzucht zu ermöglichen. Nicht 216
bloß der unbefruchtete, ſondern auch der bereits in Entwicklung be— griffene Keim ſoll vor Gefahren und Antergang bewahrt werden; dies Ziel wird erreicht einerſeits durch Fortſetzung desſelben Mittels, das bereits bei der Sparſamkeit mit Geſchlechtszellen gute Dienſte geleiſtet hatte, — nämlich durch Zurückbehalten des Keimes und Keimlings in ſchützenden Hüllen, ſei es harter Ei- und Fruchtſchalen, ſei es ſogar im mütterlichen Körper ſelbſt. Andererſeits durch Einrichtungen zu Brutſchutz und Brutpflege nach dem Verlaſſen ſolcher Hüllen. Der erſtbezeichnete Weg führt zum Lebendiggebären (Viviparie). Die Zeit zwiſchen Eiablage (Oviparie) und Ausſchlüpfen des Jungen bezeichnet man als „Nachreife“; und nun wird ein immer längerer Teil der Nachreife ins Innere des weiblichen Organismus verlegt, bis es ſo weit kommt, daß das abgelegte Ei knapp nach oder vor ſeiner Ab— lage platzt (Ovoviviparie), — z. B. bei den Vipern, der Berg— eidechſe, dem Feuerſalamander. Bei echter Viviparität dagegen ent— laſſen die Geſchlechtswege ſtets erſt das bereits hüllenfreie Junge, dem die zerriſſenen Hüllen allenfalls als „Nachgeburt“ folgen; ferner ſind hier Einrichtungen vorgeſehen, um den Keimling, „Fötus“ genannt, während einer ſo langen Zeit ſeiner Gefangenſchaft im mütterlichen Fruchthalter zu ernähren. Im allgemeinen geſchieht das wie bei Aus— rüſtung des Eies für lange Nachreife außerhalb des Körpers: durch Dottervorräte. Aber in extremen Fällen des Lebendgebärens will auch dies nicht reichen. Die eine Löſung der weitergehenden Aufgabe iſt, obwohl im Tierreich nur für einzelne Fälle nachgewieſen, von all— gemeinem Intereſſe, weil ſie in der vorhin beſchriebenen inneren Doppel— befruchtung bedecktſamiger Pflanzen eine weit verbreitete Parallele findet; wie ſich denn immer wieder die Wahrnehmung aufdrängt, daß alle Lebenserſcheinungen Tieren und Pflanzen gemeinſam ſind und Anterſchiede zwiſchen beiden Lebensreichen nur darin beſtehen, daß eine hier univerſelle Erſcheinung dort zur Rarität wird und umgekehrt. Bei echt viviparen Schwanzlurchen (Alpenſalamander, Olm) entwickelt ſich nämlich von beiläufig einem halben Hundert Eiern, die (laut G. A. Schwalbe gegen Wunderer) alle befruchtet werden, in jedem Frucht— halter nur eines weiter, — wogegen die übrigen zu einem Dotterbrei verfließen, der von den bevorzugten Embryonen verſchluckt wird. Dieſer Vorgang iſt damit vergleichbar, daß im Embryoſack der Blütenpflanzen nicht bloß die zur Keimlingsbildung beſtimmte Eizelle, ſondern auch der ſekundäre Embryoſackkern befruchtet wird, der einen Abortivembryo liefert und als „Nährgewebe“ vom Hauptembryo aufgeſogen wird. Die andere Löſung der Nahrungsbeſchaffung für den lebend zu gebärenden Fötus verzichtet auf Dotter ſowohl des eigenen wie fremder Eier, ſondern ſtellt vermittelſt beſonderer Hüllen („Mutterkuchen“, Plazenta) und der Nabelſchnur eine Gefäßverbindung zwiſchen Mutter und Frucht her; bürdet alſo dem mütterlichen Kreislauf die Leiſtung auf, außer den eigenen auch noch die Gewebe des ungeborenen Nach— kommen zu verſorgen. Plazentare Bildungen treffen wir außer bei 217
Säugetieren bei einigen Haififchen, lebendgebärenden Sauriern (Rieſen— ſkinken) und bei den Salpen unter den Manteltieren. Im Pflanzen— reich werden ſcheidewandartige Wucherungen der Fruchtknotenfächer, an denen die Samenknoſpen mittels „Funiculus“ (Nabelſtrang) feſt— haften, als Plazenten benannt, und gewiß iſt es dieſe, beim abgefallenen Samen oft an einem hellen Fleck (3. B. bei der Roßkaſtanie) erkenn— bare Stelle (Nabel, hilum), wo Referveftoffe aus der Mutterpflanze einwandern; die Samen der Hülſenfrüchtler verdanken dem ihren großen Eiweißreichtum. Doch ſtehen dieſe pflanzlichen Plazenten in keinerlei Bezug zum Lebendiggeborenwerden des Keimlings, was ſich im übrigen und wie geſagt unabhängig von der Samenernährung in Form eines
Austreibens aus dem Fruchtknoten (3. B. „Mangrovepflanzen“ Rhizo- phora, Bruguiera) bisweilen zuträgt. Was ſonſt in der Botanik „Viviparie“ genannt wird, hat mit dem Lebendgebären der Frucht wie bei Tieren nichts zu ſchaffen, ſondern iſt eine ungeſchlechtliche Ver— mehrung (S. 226) durch Adventivſproſſe (S. 126); bekannte Beiſpiele ſind das Gras Poa vivipara, der Knöterich Polygonum viviparum, ver— ſchiedene Steinbreche, beſonders Tolmiea Menziesii.
Einrichtungen zur außerkörperlichen Brutpflege beſitzt die Pflanzen— welt nur in Form der Verbreitungsapparate für Früchte und Samen, von denen wir die Flug- und Schleuderinſtrumente ſchon als „paſſive Bewegungsorgane“ (S. 88) erwähnten. Noch paſ— ſiver, wenn man ſo ſagen darf, ſind diejenigen Vorkehrungen, welche die Verbreitung durch Tiere und die ſchließliche Verankerung des Samens im Boden ermöglichen: Stacheln, Haken und Widerhaken, ſowie Klebeſtoffe dienen dazu. Stachelige, ſteinige, klebrige und ſchlecht— 218
ſchmeckende Fruchthüllen auch zum Schutz gegen Tierfraß, der jedoch in wieder anderen Fällen — bei Genießbarkeit der ganzen Frucht in Verbindung mit Angenießbarkeit oder doch Anverdaulichkeit der Samen — ſogar willkommen iſt, um die Verſchleppung zu fördern. Greifen wir die der Vogelmiſtel heraus, deren durch Magenſaft unzerſtörbare Samen mit den Exkrementen der Miſteldroſſel auf immer neue Baumzweige verſpritzt werden; und die des Schöllkrauts, deſſen Samen weiche, von Ameiſen begehrte Wärzchen tragen und deshalb längs der Ameiſen— ſtraßen angebaut werden; und machen wir noch darauf aufmerkſam,
daß Beeren und Steinfrüchte, die durch ihr Gefreſſenwerden die Aus— ſtreuung ihrer Samen anſtreben, erſt den Reifezuſtand der letzteren durch lockende Farben anzeigen wie ehedem die Blütenblätter den richtigen Zeitpunkt der Inſektenbeſtäubung: — fo haben wir ziemlich alles gejagt, was Aufnahme in die Allgemeine Biologie rechtfertigt, ohne zu tiefes Eingehen in ſpezielle Ethologie zu beanſpruchen.
Viel reicher an brutpflegenden Mitteln iſt die Tierwelt. Wach e— und Verteidigungs-, Fütterungs-, Reinigungs- und Brütedienſt, ſowie Anterricht im Freſſen, Fliegen und anderen lebensnotwendigen Verrichtungen treten keineswegs erſt bei Warm— blütern auf, wo fie zur höchſten Vollkommenheit gediehen, ſondern ſchon bei niedrigen Gruppen. Bemerkenswert iſt, daß hier zumeiſt der Vater
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den Löwenanteil der Pflege übernimmt, ja zuweilen die Nachkommen— ſchaft gegen feindliche Angriffe und Kannibalismus der Mütter (3. B. Stichling) verteidigen muß. Erſt bei einzelnen Fiſchen (Chanchito) und Vögeln (Strauß) beteiligen ſich beide Eltern, — ein Zuſtand, der end— lich bei den anderen Vögeln und den Säugern in vorwaltende Sorge
des Weibchens übergeht. — Die primitivſte Art der Brutpflege beſteht in Auswahl geeigneter Ablageplätze für die Eier, Auswahl der rich— tigen Futterpflanze für Vegetarier (Raupen), worauf die Brut ſich ſelbſt überlaſſen wird. Die Eier ſelbſt beſitzen gleich den Pflanzen— ſamen Klebeſtoffe (Inſekten) oder Hänge- und Haftvorrichtungen (Eck— ſchnüre der Haifiſcheier), die ſie gegen Abfallen und Abgeriſſen-, im Waſſer gegen Weggeſchwemmtwerden von jenen erwählten Plätzen ſchützen. Was hier dem einzelnen Ei zuweilen verſagt bleibt, iſt doch der Vereinigung vieler Eier zu einer „Laichform“ gewährt: ſo ſind die Eier der Kröten ſchnur-, des Flußbarſches (Abb. 58) bandförmig angeordnet und können fo um Waſſerpflanzen geſchlungen werden. Weiter beſitzen Tiereier Gallerthüllen (Schnecken Abb. 59—61ſ, Froſch-, Molch- und manche Fiſcheier [Abb. 58]) oder harte Hüllen (Vögel, Geckos, Schildkröten, Krokodile, Inſekten, Krebſe), die ſie gegen Tier— fraß, aber auch gegen Dürre und Temperaturextreme ſchützen und ihnen durch Ausnützung von Schwerebedingungen (Laichklumpen der Fröſche, Kokone der Waſſerkäfer) eine für Atmung und Erwärmung günſtige Oberflächenlage ſichern. Schon höher als bloße Wahl des Legeplatzes ſteht vorſorglicher Neſtbau und daher Schaffung des guten Ablage— 220
platzes, worin es jtaatenbildende Inſekten und Vögel am weiteſten bringen. Als höchſte und aufopferndſte Art der Brutpflege darf viel— leicht das eigentliche „Bebrüten“ angeſehen werden. Im engſten Sinne, als Temperaturregulierung, kann es nur bei Warmblütern vorkommen, deren Keimlinge und Jungtiere nämlich in Befolgung der biogenetiſchen Wiederholungsregel keineswegs gleichwarm, ſondern vorerſt noch wechſel— warm ſind und bei ſchutzloſer Preisgabe dem Erfrieren oder Aberhitzen zum Opfer fallen müßten. Nur bei Rieſenſchlangen, die bereits einer anſehnlichen Entwicklung von Eigenwärme fähig ſind, ſcheint echte B
brütung in dieſem thermiſchen Sinne noch vorzukommen; alle aan Brütakte von Nichtfäugern und vögeln dienen nur mechaniſchem und Verteidigungsſchutz, — ſo bei den „Tragbrütern“, die die Nach— kommenſchaft als Ei (Geburtshelferkröte, Sackſpinne, zehnfüßige Krebſe) oder Jungtier (Flugfroſch, Skorpion) auf irgendeinem, im vollkommenen Fall beſondere Hauttaſchen ausbildenden Körperteil (Pipa, Beutel— froſch, Seepferd) umherzuſchleppen; und endlich bei den merkwürdigſten von allen, den „Maulbrütern“ (manche Chromisfiſche und Welſe), die fie unter Verzicht auf Nahrungsaufnahme im Rachen oder, unter
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Vermeidung dieſes Verzichtes, in Ausſackungen der Speiſeröhre (chi— leniſche Naſenkröte) transportieren. Die übrigen „Brüter“ begnügen ſich damit, Eier und Junge am Ort der Ablage oder des Neſtbaues durch den eigenen Körper zu bedecken (Rieſenſalamander, Blindwühlen, Ohr— wurm).
7. Jungfräuliche Zeugung (Parthenogeneſe)
Wir kennen die guten Folgen der Befruchtung für Ausgleich konſtitutiver Schwächen; die Förderung der Variabilität und Gelegen— heit für günſtige Varianten, ſich zu behaupten und weiterzubilden, werden wir erſt kennen lernen. Noch nicht kennen wir aber die Ar— ſachen, die einen Keim bewegen, ſich zu entwickeln: denn wenn man die Befruchtung bzw. Verſchmelzung des Ei- und Sperma— kernes als Arſache hiervon bezeichnet, fo läßt man zahlreiche Fälle außer acht, in denen ſie ausblieb, der Keim trotzdem in ſeiner Entwicklung nicht gehindert wurde. Jungfräuliche Zeugung (Parthenogeneſis) iſt bei vielen Pflanzen und Tieren eine teils individuelle (Schmetterlinge, Zweiflügler), teils generelle (Stabſchrecken), teils periodiſche (Rädertiere [Abb. 68], Waſſerflöhe, Blattläuſe [Abb. 69], Gall: und Blattweſpen), teils mehr oder weniger ſtändige Erſcheinung (andere niedere Krebſe, z. B. Salinenkrebschen). Rechnet man die Fälle hinzu, wo zwar nicht die ganze Entwicklung, aber doch die Furchung ohne Beſamung ſtatt— hat, ſo wird die Reihe der Beiſpiele viel größer und nimmt auch Stachelhäuter, ja Wirbeltiere in ſich auf. — Wie unſinnig es iſt, das Eindringen des Samenfadens als letzte Arſache der Furchungsteilungen anzuſehen, erhellt aus dem Verhältnis dieſes Eindringens zu den der Furchung vorangehenden Reifungsteilungen: der Regel nach vollziehen ſich beide Reifeteilungen vor der Beſamung (Seeigel), zuweilen nur eine davon vorher, die andere nachher (Lanzettfiſchchen, Froſch), oder beide nachher (Faden- und Ringelwürmer, Schnecken). Durch Zuſatz von Natronlauge ins Seewaſſer hat J. Loeb bei der Meeresſchnecke Lottia gigantea den Ablauf der Eireifung ohne Samenzutritt erzwungen.
Alhnliche und andere künſtliche Mittel haben nun aber bei einer langen Reihe tieriſcher und pflanzlicher Lebeweſen, bei denen normaler— weiſe Entwicklung ohne Beſamung nicht zuſtande kommt, Furchung, Embryo- und Larvenbildung, ja Aufzucht bis zum fertigen Organismus erreicht. Zuerſt ſchienen es namentlich chemiſche Mittel zu ſein, die das Ei aus ruhendem Zuſtande in den der Entwicklungserregung ver— ſetzen, — verſchiedene Salze (ſehr verwendbar Chlormagneſium), Säuren, Baſen; dann waren Gifte (Zyankali, Hyoszyamin, Nikotin, Strychnin) erfolgreich und ſchienen die „mortalen Prozeſſe“ (von Loeb als chemiſche Katalyſen dargeftellt) im Ei zu hemmen, dadurch deſſen „vis talen Prozeſſen“ das Übergewicht verſchaffend; ſchließlich ſtellte ſich heraus, daß bloße Konzentrationserhöhung im Seewaſſer, durch Zuſatz beliebiger Stoffe (außer Salzen auch Rohrzucker und Harnſtoff) wie ſelbſt ohne Zuſatz nur durch entſprechendes Eindampfen den gleichen 222
Effekt hervorbringe, — wogegen verdünntes Seewaſſer ſelbſt in Gegen— wart normalen Samens keine Befruchtung zuläßt. Da zum Überfluß rein mechaniſche Mittel — bei Seidenſpinnereiern nach Tichomiroff Reiben mit Bürſtchen, bei Froſcheiern nach Bataillon Anſtechen mit feinen Glasnadeln — vollſtändige Parthenogeneſe auslöſen, ſo wurde es möglich, alle Entwicklungserregungen dahin zuſammenzufaſſen, daß ſie durch Flüſſigkeitsentzug aus dem Ei wirkſam ſind. Dazu ſtimmt das früher erwähnte Aufquellen des Spermakernes im Ei; günſtige Objekte (Axolotlei nach Jenkinſon) geſtatten direkte Wahrnehmung von Flüſſigkeitsanſammlungen in Hohlräumen des Spermakernes. Man darf ſich demnach den Vorgang ungefähr ſo vorſtellen wie das Ent— ſtehen von Sprüngen in ausgedörrter Ackererde, nur daß die Polarität des Eies dieſe Sprünge (Furchen) in regelmäßige Folge und Ordnung zwingt.
Mit den Verſuchen, unbeſamte Eier durch künſtliche Eingriffe zu befruchten, gehen andere Experimente parallel, die trotz Einwirkens von Sperma die Vereinigung des Sperma- mit dem Eikern ver— hindern. Es gelingt auf fünferlei Art: 1. durch Verwendung toten (etwa in Hitze abgetöteten) Samens; 2. durch filtrierte Preßſäfte aus Samen, worin alſo keine Zellkerne mehr intakt ſein können; 3. durch kurze Einwirkung verdünnter Kalilauge auf Samenzellen, die deswegen nicht der Befruchtungs-, wohl aber ihre Kerne der Verſchmelzungs— fähigkeit verluſtig gehen, — Samen- und Eikern liegen dann in der befruchteten Zelle nebeneinander; 4. durch Einſchnürung des Eies, wo— bei Samen- und Eikern mitunter in verſchiedene Abteile gelangen und nicht zueinander können (3 und 4 „partielle Befruchtung“); 5. durch Entfernung des Eikernes und deſſen Erſatz durch den Sperma— kern („Merogonie“). In allen Fällen geht Entwicklung vor ſich. Aus der künſtlichen Parthenogeneſe geht mithin hervor, daß Anweſen— heit des Samens und Samenkernes nicht notwendig iſt; aus der Mero— gonie, daß auch der Eikern nicht nötig iſt, wenn nur überhaupt irgend— ein Kern zugegen iſt; aus der partiellen Befruchtung, daß Vereinigung von Ei- und Samenkern erſt recht entbehrlich iſt.
Fragen wir im Anſchluſſe daran, ob denn das Ei nötig iſt? Die Frage klingt ironiſch, iſt aber ernſt: grundſätzlich ſpricht nichts dagegen, daß die Samenzelle, deren Kern denſelben Chromatinbeſtand aufweiſt wie die Eizelle, dieſer nicht auch in bezug auf organbildende Fähigkeiten gleichwertig ſein ſollte, falls es gelänge, ihre wegen Plasmamangel be— ſchränkte Lebensdauer durch gehörige Materiallieferung zu verlängern. Anſätze zu dieſer „Androgeneſe“ ſind tatſächlich ſchon gelungen, und zwar mit den (weniger plasmaarmen) männlichen Schwärmſporen von Algen, ſowie mit Pollenſchläuchen, die, in Rohrzuckerlöſung aus: gekeimt, ſich durch Querwände in mehrere zellenartige Abteile (worin man allerdings bisher keine Kerne nachwies) furchen, alſo vielleicht einen rudimentären Embryo ergaben (v. Portheim). Wahrſcheinlich hierher gehört eine beſtimmte Art von Hodengeſchwülſten, das „Chorion-Epi—
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theliom“, das mit der Eihaut große gewebliche Uhnlichkeit aufweiſt. Arbeiten aus der Loebſchen Schule und neueſtens von R. Goldſchmidt 1 die Teilungsfähigkeit des tieriſchen Samenfadens auf künſtlichen
Nährböden. Berechtigterweiſe muß man Fortſchritte gerade in dieſem wichtigen Punkt für die nächſte Zeit verlangen.
Kehren wir zur künſtlichen Entwicklungserregung tieriſcher Eier zurück: das klaſſiſche Objekt dieſer Verſuche, der Seeigel (Abb. 62), neben welchem Seeſterne, Ringelwürmer, Weichtiere und niedere Wirbel— tiere beſte Reſultate zeitigten, hatte den vorhin aufgezählten Mitteln inſoferne noch widerſtanden, als Larven aus künſtlich angeregten Eiern
ſich von denen aus natürlich beſamten durch langſame Entwicklung, mangelnde Schwimmfähigkeit und Mangel einer Dottermembran, die ſonſt (S. 215) das erſte Zeichen gelungener Befruchtung iſt, unter— ſchieden. Wir erwähnten die Befruchtungsmembran als Schutzwall gegen das Eindringen von mehr als einem Samenfaden: iſt ſie nicht vorhanden, fo können in ein fpätes Furchungs-, etwa ins 16 oder 3252 Zellenſtadium, Samenfäden eintreten, worauf jede der bis dahin ge— bildeten Furchungskugeln eine ſeparate Membran abhebt und eine ſelb— ſtändige Furchung fortſetzt; Loeb konnte daher ſolche Superpoſition von künſtlicher Befruchtung und Beſamung dazu verwenden, um aus einem Ei mehrere Seeigellarven zu gewinnen.
Am nun aber die künſtliche Entwicklungserregung zu einem nor— malen Entwicklungsverlaufe zu bringen, wurde zunächſt der Membran— mangel behoben, — durch Herbſt mittels Schütteln in ſchwachem Chloro— 224
— —
form, Benzol, Toluol, Kreoſot, Nelkenöl und Silberſpuren, durch Deläge, dem übrigens die Aufzucht ſolcher Larven einſchließlich ihrer Amwandlung in reife (männliche!) Seeigel gelang, mittels Kohlenſäure, durch Loeb mittels Athylazetat, das aber nicht direkt, ſondern nach Bildung einer freien Säure wirkt. Schließlich fand Loeb folgende Methode als die idealſte, da ſie normal ausſehende, hurtig ſchwimmende Larven erzielt, die ſich ebenſolange im Aquarium halten wie ſolche aus beſamten Eiern: zuerſt erfolgt ein zweiminutiges Bad in einer Miſchung von Seewaſſer mit einer höheren Fettſäure (Butter-, Valerian, Kapron— ſäure); darauf ein halbſtündiges Bad in ſauerſtoffreichem Seewaſſer mit 50 % ig erhöhter Konzentration; endlich dauernde Abertragung in ge— wöhnliches Seewaſſer. Jeder von beiden Eingriffen iſt allein aus— reichend, Eifurchung zu veranlaſſen; aber nur das Säurebad (oder ebenſo ein nur ſekundenlanges in den von Herbſt angewendeten ſchär— feren Mitteln, denen ſich noch Ather, Alkohol, Seifen und Digitalin anreihen) bewirkt Membranabhebung, und nur beide Eingriffe zuſammen bewirken richtige Entwicklung, indem einer dem anderen zur Korrektur dient. Die Fettſäuren uſw. lockern („zytolyſieren“) die Eirinden— ſchicht — bei zu langer Badedauer das ganze Ei, und dann iſt der Verſuch mißlungen —, wodurch Seewaſſer einſickern kann und jene Ei— rinde als „Membran“ abhebt; dabei werden ſchädliche Stoffe gebildet, die eine überkonzentrierte („hypertoniſche“) Löſung beſeitigt, weil hier laut Warburg der Sauerſtoffumſatz im Ei erheblich geſteigert iſt. Der Same ſoll nun, nach Loebs neueſter Anſicht, dieſelbe Doppel— wirkung hervorbringen, indem er zwei Stoffe ins Ei trägt: ein „Lyſin“, das die oberflächliche Zytolyſe bewirkt, und eine „Oxydaſe“, die durch Verbrennung deren ſchädliche Folgen repariert. Am Samen der eigenen Tierart, von der auch die verwendeten Eier herſtammen, läßt ſich die Duplizität der befruchtenden Eingriffe nicht verfolgen, weil dieſer Same ſo ſchnell ins Ei dringt, daß die beiden Prozeſſe nicht getrennt, ſondern auf einmal ftattfinden. Fremde Samenzellen, z. B. zur Befruchtung von Seeigeleiern ſolche von Hahn und Hai, dringen langſamer ein: und hier kann es geſchehen, daß deren Lyſin ſchon von außen die Membranbildung auslöſt, ehe der Eintritt möglich war; ſolche Eier verhalten ſich, als ob ſie in der Fettſäure gebadet worden wären, d. h. ſie bedürfen zu guter Entwicklung noch des überkonzentrierten Bades, — wogegen Eier mit eingedrungenen, wenn auch fremden Samenfäden deſſen nicht bedürfen. Nebenbei bemerkt, liefern nun ſolche fremd— befruchtete Eier nicht etwa Baſtarde zwiſchen Hahn und Seeigel u. dgl.; der artfremde Samen überträgt nicht väterliche Eigenſchaften auf den Keimling, ſondern wirkt lediglich befruchtend, — man hat danach ſtrenge zwiſchen der entwicklungserregenden und der vererbenden Wirkung des Samens zu unterſcheiden. Zu letzterer iſt Vorhandenſein und Weiter: entwicklung des männlichen Vorkernes unerläßlich, und dies wieder iſt nur möglich, wenn die Kerne und Geſchlechtszellen, wo nicht von der— ſelben, ſo doch von einigermaßen nahe verwandten Arten herrühren. Kammerer, Allgemeine Biologie 15 225
Es war Loeb weiterhin gelungen, künſtliche Befruchtung auch durch Blutſera und Organertrakte zu erreichen, die aber nicht von derſelben, ſondern nur von fremden Tierarten, z. B. für Seeigel- und Seeſtern— eier von verſchiedenen Säugetieren und Würmern herrühren dürfen. Mit Rücksicht darauf, daß nur fremdartige Sera und Extrakte entwicklungserregend wirken, ſtellte Loeb eine Theorie der Befruchtung auf, die er mit den Ergebniſſen der Immunitätslehre (vgl. S. 104) in Einklang zu bringen ſuchte. Dem ſtehen jedoch die (bereits nachgeprüften) Anſtichverſuche Bataillons am Froſchei entgegen. Erinnern wir uns bei dieſer Gelegenheit noch an die Vorgänge bei jeder Furchungsteilung, der die Anſammlung einer der übrigen Zelle entnommenen flüſſigen Plasmaphaſe rings ums Zentralkörperchen vorangeht, ſo werden wir bis auf weiteres gerne bei der früher entwickelten Anſchauung halt— machen, die als eigentliche Arſache der erſten Furche einen Flüſſigkeits— entgang aus dem Ei verantwortlich macht, — ein Zuſtand, der ſich von da ab bei allen folgenden Teilungen der Eizelle und ihrer Blaſtomeren rhythmiſch wiederholt. —
Wie beſprochen, ſind natürliche Parthenogeneſen im Pflanzen— reich ziemlich verbreitet; auch künſtliche Parthenogeneſen wurden er— zielt: das wäre alſo Entſtehung junger Pflanzen aus Samen, die ohne Beſtäubung geblieben waren. Daneben kommt eine verwandte Erſcheinung vor, die allerdings nicht zur Entwicklung von Sämlingen führt, weil es dabei an keimfähigen Samen mangelt: die „Partheno— karpie“ oder jungfräuliche Fruchtbildung. Bekanntermaßen wird die Reifung der Samen ſtets von Amwandlungen des Stempels begleitet, der ſich in Gänze zur „Frucht“ geſtaltet: dieſe Fruchtung kann unter Amſtänden ohne Beſtäubung ſtattfinden, ja ſogar — wie die kern— loſen, nur durch Pfropfreiſer fortgepflanzten Obſtſorten zeigen — ohne daß der Fruchtknoten überhaupt Samenanlagen enthielt. Fitting er— zielte Parthenokarpie auf experimentellem Wege durch Beſtreichung der Narbe mit Pollenextrakten.
8. Angeſchlechtliche Fortpflanzung (Vegetative Reproduktion)
Alle Fortpflanzungen, die wir bisher kennen lernten, vollzogen ſich
aus einer Zelle oder höchſtens zweien, die dann zur gleichfalls einheit-
lichen Stammzelle verſchmolzen („zytogene Fortpflanzung ). Wofern dieſe Zelle eine für den Zeugungszweck beſonders differenzierte oder, beſſer geſagt, durch ihre Andifferenziertheit zur Neubildung aller Teile befähigte Keimzelle vorſtellt, dürfen wir von „geſchlechtlicher“ Fortpflanzung ſprechen: von eingeſchlechtlicher (uniferueller), wenn das neue Individuum, wie bei den Partheno-, Andro: und Pädogeneſen, ſowie bei der Fortpflanzung durch Sporen, aus einer einfachen Zelle hervorgeht; von zweigeſchlechtlicher (biferueller), wenn der junge Organismus aus einer durch Vermiſchung (Amphimixis) entſtandenen doppelten Zelle emporwächſt.
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Wir kommen jetzt zu Vermehrungen, an denen gleichzeitig viele Zellen, ganze Zellkomplexe, beteiligt ſind. Dabei findet kein Ge— ſchlechtsakt ſtatt, keine Verſchmelzung von Zellen, ſondern ein Gewebs— anteil des alten Individuums gewinnt ſeine embryonale Beſchaffenheit zurück, beginnt infolgedeſſen, als ob eine Verſtümmelung ſtattgefunden hätte und auszuheilen wäre, energiſch zu wachſen und liefert aus dem betreffenden Bezirk ein junges Individuum. Gewöhnlich löſt es ſich ab; bei Koloniebildung (ſiehe ſpäter) kann es aber auch mit dem Mutter— organismus in Verbindung bleiben.
Dieſe ungeſchlechtliche Fortpflanzung aus Zellkomplexen kann ebenſo wie die aus einzelnen Zellen als Teilung (3. B. etliche Ringelwürmer) und Knoſpung (3. B. Polypen, Seeſcheiden), erſtere als Querteilung (3. B. gewiſſe Strudelwürmer) und Längsteilung (3. B. manche Schwämme und Seeanemonen) auftreten. Sie kann ferner eine zweifache oder ſo— fort eine mehrfache Teilung fein (z. B. Würmer Microstomum, Myrianida); desgleichen ſprießen die Knoſpen entweder einzeln oder gleichzeitig zu mehreren aus dem Stammorganismus. Einer anderen Einteilung iſt die vegetative Fortpflanzung zugänglich, je nachdem, ob die Regeneration des Fehlenden bereits vor der Ablöſung erfolgt oder erſt nachher: zur erſten Gruppe gehören die meiſten Knoſpungen („Pro— liferationen“) — etwa mit Ausnahme der Pflanzenſtecklinge —, ſowie die Teilungen der Würmer, Quallen- und Blumenpolypen und Seeſcheiden; zur zweiten Gruppe gehört die Teilung einiger Ringel— würmer und Seeſterne. Man geht wohl nicht fehl, die Teilung mit erſt nachträglichem Erſatz („Schizogonie“) als die einfachſte und urſprünglichere, diejenige mit ſchon vorbereitetem Erſatz als die ab— geleitete und vollkommenere hinzuſtellen. In bezug auf Leichtigkeit und Neigung zu ungeſchlechtlicher Vermehrung iſt übrigens zwiſchen beiden Gruppen kaum ein Anterſchied zu merken: bei der geringſten Veran— laſſung, etwa einer leichten Berührung, oft aber auch von ſelbſt, zer— ſpringt ein Lumbriculus, ein Ctenodrilus monostylus in zwei oder mehr Stücke, obwohl die nun fehlenden Kopf- bzw. Schwanzenden ge— nannter Würmer erſt nachträglich erſetzt werden können; hier iſt die „Selbſtverſtümmelung“ (S. 129) in den Dienſt der vegetativen Forts pflanzung geſtellt und derart zur Gewohnheit geworden, daß es eines äußeren Reizes gar nicht mehr bedarf, um eine regelmäßige Vermehrung aus Teilſtücken hervorzubringen. Ahnlich empfindſam find die Ringel: wurmgattungen Syllis, Nais und Chaetogaster, aber der ſpontane Zer— fall beſchränkt ſich auf Stellen, wo ſich ſchon vorher ein neues (an Augenflecken u. dgl. kenntliches) Kopfſegment gebildet hat.
Bei der Knoſpung läßt ſich eine Anterſcheidung treffen, je nach— dem ſich die Knoſpen außen oder innen bilden und ablöſen: äußere Knoſpen beſitzen die Schwamm- und Neſſeltiere, Moos- und Mantel— tiere; innere Knoſpen ſind die „Statoblaſten“ der im Süßwaſſer lebenden Moostierchen, ſowie wohl auch die „Gemmulae“ der Süß— waſſerſchwämme. Genau beſehen iſt dieſe Einteilung nur ein Spezial—
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Abb. 66. Süßwafjerpolyp (Hydra), vier Exemplare
auf der Wurzel einer Waſſerlinſe figend: A zufammen-
gezogen, mit einer ebenfalls kontrahierten Knoſpe,
B ſtark geſtreckt, C mit zwei Knoſpen, wovon a noch
keine Fangarme entwickelte, D mit Hoden (sp), einem ſich
bildenden und einem bereits hinausgezwängten Ei (e). (Aus Guenther, „Vom Urtier zum Menſchen“.)
fall der weiteren Anterſcheidung, ob die Knoſpen überhaupt an beliebiger Stelle er— zeugt werden oder auf beſtimmte Knoſpungs— zonen beſchränkt ſind. Ganz unbeſchränkt iſt das Knoſpungsgebiet wohl nirgends, aber bei den Hohltieren (Schwamm: und Neſſel—
tieren) ſehr ausgedehnt: die Punkte für Entſtehung der einzelnen Knoſpen ſcheinen durch die Ausſichten auf jeweils günſtigſte Ernährung der Knoſpe, verbunden mit relativ geringſtem Opfer für das Stammindivi— N So wächſt beim Süßwaſſerpolypen (Hydra, Abb. 63) die erſte Knoſpe möglichſt tief unten, nahe der Grenze zwiſchen
duum, beſtimmt zu ſein.
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Stiel und Magenraum; die nächſte etwas höher und der erſten ſchräg (um etwa 120 Grad) gegenüber, alſo an derjenigen Stelle, wo ſie der erſten geringſte Konkurrenz macht und ihrerſeits auch wenig unter Wettbewerb ſteht; die dritte Knoſpe abermals um 120 Grad gedreht und etwas höher oben und ſo fort. Verbindet man die Fußpunkte all dieſer Knoſpen, ſo entſteht eine Schraubenlinie: bei gut genährten Polypen iſt ſie flach gewunden, faſt eine ebene Spirale, ſo daß man ein Knoſpenbüſchel ſcheinbar in derſelben Höhe entſpringen ſieht; dies hat die irrige Annahme verſchuldet, als habe der Polyp eine eng— begrenzte Knoſpungsregion. Bei minder gut genährten Polypen iſt die Schraubenlinie ſteil gewunden, wie eine Wendeltreppe oder ein Korkzieher. R. Hertwig, dem wir die Kenntnis dieſer Regelmäßigkeit verdanken, hat noch folgendes feſtgeſtellt: wenn ein Polyp von der ungeſchlechtlichen zur geſchlechtlichen Fortpflanzung, und zwar vom Knoſpen zum Eierlegen übergeht, dann entſteht das erſte Ei genau dort, wo die nächſte Knoſpe zu erwarten geweſen wäre.
Noch eindeutiger beſtimmt und enger begrenzt iſt die Stelle, wo die Knoſpen bei ſproſſenden Leibeshöhlentieren, Mantel- und Moos— tieren, zum Vorſchein kommen; hier gibt es eine ſtark verdünnte, ge— wiſſermaßen wurzelförmige Fortſetzung des Körperſtammes, den Knoſpen— ſtoſck („Stolo prolifer“), der ſich bei feſtſitzenden Formen (Moostierchen, Seeſcheiden) in der Tat wie ein kriechender Wurzelſtock verhält und in reihenweiſer Anordnung „Ausläufer“, aus ihm hervorſproſſende Jungindividuen erzeugt. Stolonenknoſpung iſt übrigens, neben der für Hydra beſchriebenen ſeitlichen Knoſpung aus der Leibeswand, ſchon anderen Hydroidpolypen (3. B. Tubularia, Bougainvillea, Abb. 66 auf S. 236) und Korallen (3. B. Astroides) eigentümlich.
Ganz weit verbreitet iſt die Stolonenproliferation unter den Pflanzen: man braucht nur ſo bekannte Beiſpiele zu nennen wie Veilchen, Stein— brech, Erdbeere, Waldmeiſter, Mooſe, um zu ſehen, daß wieder einmal ein Phänomen, das im Tierreich vereinzelt bleibt, im Gewächsreich zu breiteſter Geltung gelangt (in anderen Fällen umgekehrt). Daneben kommt aber, und zwar oft am ſelben Objekt, die Seitenachſenprolife— ration vor: abgeſehen von der gewöhnlichen Sproßbildung, die zur Ent— ſtehung mächtiger Stöcke (Kolonien) führt — davon wird bald die Rede ſein —, laſſen ſich die Brutknoſpen (3. B. Feigwurz) und Brutzwiebel— chen (Feuerlilie, Lauche) hierfür angeben, ſowie die mehr zufällig oder künſtlich zur Vermehrung führenden Blatt- und Stengelſtecklinge („Ad— ventivbildungen“, S. 126).
Von großer Bedeutung iſt das Verhältnis zwiſchen Knoſ— pung und Lebensalter. Es ſcheint zwar, daß insbeſondere manche Pflanzen grenzenlos auf vegetativem Wege vermehrt werden können, alſo eigentlich unſterblich wären. Allein dieſe Anſterblichkeit dürfte eine ſcheinbare ſein, etwa ſo, wie dem naiven Verſtande eines Wilden die über hundert Jahre alt werdende Schildkröte unſterblich vorkommt. Das ſteht für die Arweſen, wo ähnliches behauptet wurde (S. 178), heute
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bereits feſt; für die durch Sproſſung entſtehenden Kolonien eines Moos— tierchens, Pectinatella magnifica, hat Bräm entdeckt, daß ihr Alter zwie— fach beſtimmt iſt: durch das Alter ſeit Ablöſung der Knoſpe und durch das der Stammkolonie, von der ſich die Knoſpe losgelöſt hatte, um ihrerſeits einen neuen Stock zu bilden. Eine früh abgetrennte Kolonie verhält ſich zu einer ſpäten, obwohl ſie ſich geſtaltlich vollkommen gleichen, wie Jugend und Alter: jene iſt eine regſame Bildnerin des Stockes, dieſe fein müder Alterstrieb. Solche Wahrnehmungen brachten manche Forſcher dazu, von ſelbſtändig gewordenen Knoſpen in Beziehung auf ihren Stamm nicht wie von Nachkommen- und Elternorganismus, ja nicht einmal wie von verſchiedenen Individuen zu ſprechen; und ſei ein ganzer Wald aus Aſtſtecklingen hervorgegangen, und hätte jahrhunderte— lang keine andere Vermehrung ftattgefunden als die vegetative, fo bil— deten ſie alle zuſammen doch nur ein einziges Exemplar. Noch klarer wird uns dieſe Beziehung, wenn wir jetzt noch die Teilung und Knoſ— pung der Arweſen heranziehen: das Charakteriſtiſche ungeſchlechtlicher Fortpflanzung beſteht nämlich nicht ſo ſehr im Ausbleiben von Kopula— tionen und im Ausgehen von Zellkomplexen, als darin, daß die vegeta— tive Vermehrung nicht von indifferenzierten, totipotenten Keimzellen ihren Anfang nimmt. Benutzen wir dieſe ſchärfere Kennzeichnung, ſo müſſen wir viele Zellteilungen und Zellſproſſungen der Arweſen unbe— dingt zur vegetativen Fortpflanzung rechnen, obwohl es ſich um Ein— zeller handelt und trotzdem ihnen bei beliebigem Beobachtungsbeginn nicht immer anzuſehen iſt, ob ſie als „Keimzellen“ am Anfang einer neuen Teilungsepoche oder als „vegetative Zellen“ ſchon näher einer Depreſſions(Alters-)periode ſtehen. Jedenfalls gelten die meiſten Anter— ſcheidungen, die wir für Teilung und Knoſpung aus Geweben ge— troffen haben, auch für diejenige aus Zellen: die Teilung der meiſten Artierchen iſt eine ſolche mit vorbereiteter Regeneration; die der Geißel— träger, mithin auch in dieſer Beziehung urſprünglichſte Protiſten, iſt eine Teilung mit nachheriger Regeneration. Auch Sproſſung und Koloniebildung (Glockentierchen Carchesium) bieten dasſelbe Anſehen wie bei Vielzellern. Die ſogenannten „ewigen“, d. h. ſich unausgeſetzt ohne Depreſſion und Konjugation weiterteilenden Aufgußtierchen, wie ſie Jennings, Calkins und Gregory verfolgten, ſind ſolch lange fortge— führte, aber (vgl. S. 179) keinesfalls unbegrenzte Linien mit vegetativer Vermehrung.
And nun mit Bezug auf die Individualitätsauslegung der Vegetativvermehrung: die nach allen Richtungen eines Wohn— gewäſſers zerſtreuten Einzeller derſelben Teilungsperiode verglich ich ja ſchon früher mit einem zuſammengehörigen Individuum, von dem ſich ein vielzelliges nur durch Zuſammenhalten ſeiner Körperzellen unter— ſcheide. Mit demſelben Rechte darf aber letzteres als Kolonie von Zell— individuen bezeichnet werden, und es bleibt müßig, für welche Auf— faſſung man ſich entſcheidet. Bei den Einzelligen, wo fie wenig üblich iſt, könnte man am eheſten die Anſicht vertreten, daß nur ſexuell ge— 230
zeugte Abkömmlinge als „Individuen“ anerkannt, vegetativ erzeugte aber ſamt ihrem Stammexemplar als einziges Individuum anzuſprechen ſeien; denn hier iſt der Wechſel von Teilungs- und Kopulations- bzw. Konjugationsperioden tatſächlich homolog dem Alternieren der wachs— tums- und zeugungsfähigen Phaſe im Leben des Vielzellers. Inner— halb der Vielzeller ſelbſt die entſprechende Einengung des Perſonen— begriffes vorzunehmen, halte ich dagegen nicht für zweckmäßig: ſie führt zu keiner Homologie, ſondern nur zu einer recht zweifelhaften Analogie; auch verleitet ſie dazu, zwiſchen ferueller und vegetativer Fortpflanzung eine grundſätzliche Schranke zu errichten, während ſie in Wahrheit nur durch gradweiſe Stufen getrennt ſind. Wenn zwar die geſchlechtliche Vermiſchung eine gewiſſe Auffriſchung, Verjüngung, bringt, ſo iſt doch auch hier das Alter der Perſon nicht bloß durch ihr eigenes Alter ſeit der Geburt, ſondern nebſtdem durch dasjenige ihres Volkes und Stammes beſtimmt. Raſſendegeneration und Ausſterben von Arten ohne erſicht— lichen äußeren Grund ſind Belege dafür, daß die Gattung ebenſo wie jedwedes Exemplar einem natürlichen Greiſenalter und Tode ent— gegengeht. 9. Stockbildung (Koloniſation)
Bleiben die Tochterindividuen mit dem Mutterindividuum in or— ganiſcher Verbindung, jo entſteht ein Stock (Cormus, Kolonie). Seine genaue Definition ſtellt uns derſelben Schwierigkeit gegenüber, die uns ſchon zuvor begegnete, als es galt, der vegetativen Fortpflan— zung gegenüber zu klarer Individualitätsauffaſſung zu gelangen. Streng genommen, gibt es kein anderes Einzelindividuum als das einzellige Ar— weſen; aber auch die Zellen ſind im Lichte ultramikroſkopiſcher Forſchung Kolonien von Arenergiden. Die Stockbildung, welche bei verhältnis: mäßig wenig Gruppen des Pflanzen- und Tierreiches (etwa Gefäß— pflanzen, Hohl-, Moos- und Manteltiere) und auch innerhalb der Gruppen als Sondergeſchehen erſchien, teilt das Schickſal anderer, für Spezialphänomene gehaltener Lebensäußerungen — ſiehe nur: Symbioſe, Generationswechſel — und iſt in Wirklichkeit eine allgemeine Erſchei— nung des Lebendigen. In junger Zeit mehrten ſich zwar Stimmen, die den Organismus höherer Lebeweſen mit Einſchluß des Menſchen als „Zellkolonie“ oder „Zellenſtaat“ bezeichneten und dadurch zum oberflächlichen Individualitätsbegriff den wünſchenswerten Gegenſatz ſchufen, — einem Begriff des „eigentlichen Individuums“ (was iſt das? fragt Haeckel), der noch lange nach Entdeckung des zellulären Aufbaus aller Lebeweſen und den grundlegenden Aus— führungen in Haeckels zu wenig geleſener „Genereller Morphologie“ der herrſchende blieb. Allein, worauf man gebräuchlicherweiſe den Kormenbegriff beſchränkt, auf einen Stock etwa von der Beſchaffen— heit, wie ihn typiſch die Riffkorallen bieten: dies Gebilde iſt längſt keine Koloniſation einfachen Grades mehr, ſondern entſtand durch Kumulation von Stöcken. Letztere ſind mehrfach ſelber wieder zur
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Stockbildung geſchritten, ehe herauskam, was man traditionsgemäß eine „Kolonie“ nennt.
Zuweilen iſt ja der zuſammengeſetzte Charakter eines „Stockes“ im Sinne überlieferter Definition von vornherein klar: ſo z. B., wenn die Seeſcheide Polycyclus cyaneus aus vielen Stöcken, deren Einzeltiere ſternförmig geordnet ſind, einen gemeinſchaftlichen Stock aufbaut. Man darf aber, um die Geſetzmäßigkeit zu durchſchauen, nicht bloß in die eine Richtung (nach zunehmender Komplikation), ſondern auch in die andere (nach zunehmender Vereinfachung) blicken: hier muß es ſich weiſen, daß das ſogenannte eigentliche Individuum eine Kolonie aus Organen, das Organ eine Kolonie aus Geweben, das Gewebe eine ſolche aus Zellen, die Zelle eine aus Arenergiden iſt. Mitunter find in dieſe Folge von Kolonien niederer und höherer Ordnung noch andere Stufen eingeſchaltet: ſo bei Tieren mit gegliedertem Rumpf, wo ſich in aneinander gereihten Abſchnitten gleiche Organiſationen wiederholen („Metamerie“). Am reinſten zeigt dieſe Segmentierung der Ringel- wurm (S. 199, Abb. 50), nächſt ihm das Glieder-, ſchon weniger das Wirbeltier. Moquin Tandon hat einen Abſchnitt von ſolcher Be— ſchaffenheit „Zoonit“ genannt und das ganze gegliederte Individuum als Reihenkolonie aufgefaßt, deſſen Mitglieder gegenüber einer „echten Kolonie“, wie ſie der Bandwurm noch heute repräſentiert, an Selb— ſtändigkeit verloren und dafür an zentraler Organiſation gewonnen haben. Vereinheitlichung werde zunächſt erzielt durch Verſchmelzung von Teilen, die urſprünglich unabhängige Anteile der einzelnen Kolonie— mitglieder waren: ſo ſei der die Zoonitenreihe durchziehende gemeinſame Darmkanal entſtanden. Wie verſchwommen hier die Grenzen ſind zwiſchen „echter Kolonie“ und „eigentlichem Individuum“, erhellt nun ſofort, wenn wir daran erinnern, daß auch Kolonien, an deren Kormen— charakter niemand zweifelt, ſolch gemeinſam-einheitlich gewordene Organ— ſyſteme aufweiſen: alle Individuen der Schwamm- und Korallenkolonie ſind durch Kanäle verbunden, und wenn der eine Polyp des Stockes Beute macht, muß ſeine Darmhöhle den übrigen davon Steuer zahlen.
Auch die Arbeitsteilung, die wir zwiſchen Geweben und Organen des „eigentlichen“ Individuums bewundern und als Kriterium ſeiner Einheitlichkeit anzuſehen gewohnt ſind, greift auf ſolche Gebilde über, die man längſt als hochzuſammengeſetzte Stöcke anerkennen mußte: die Einzelweſen eines echten Kormus bleiben keineswegs gleichartig, ſondern es kommt ſo weit, daß der aus Organismen zuſammengeſetzte Stock ſo ausſieht wie ein aus Organen zuſammengeſetztes Exemplar; und nur ſeine Entwicklung läßt den Koloniencharakter noch mit Sicherheit er— kennen. Die Röhrenquallen (Siphonophoren — Abb. 64) ver— fügen über Fangpolypen, Taſtfäden, Schwimmglocken und Geſchlechts— meduſen, — jede davon durch Knoſpung aus dem Stammpolypen her— vorgegangen. Auch feſtſitzende Polypen beſitzen Arbeitsteilung, z. B. Podocoryne carnea (Abb. 65) in Freß- und Geſchlechtspolypen, Spiralpolypen, deren keuliges Ende mit Neſſelbatterien bedeckt iſt, und 232
Skelettpolypoide (Grobben). Die Einteilung vieler Pflanzenſtöcke in Aſſimilations- und Blütenſproſſe (beſonders charakteriſtiſch bei Jukka und Agaven) iſt ebenfalls hier inbegriffen.
Im ſelben Zuſammen— hange ſtehen die verwickelten Geſchlechtsverhältniſſe der Kolonien. Von voller Ge— trenntgeſchlechtlichkeit des ganzen Stockes („Zweihäuſig— keit, Diözie “), wobei ein Stock lauter Männchen oder lauter Weibchen trägt, bis zu voller Zwitterigkeit („Zwitterblüten“ der: meiſten Blumenpflanzen), wobei jedes Individuum hermaphroditiſch iſt, gibt es alle Abergänge. Die Individuen können getrenntgeſchlechtlich, aber Männchen und Weibchen am Auf— bau desſelben Stockes
beteiligt ſein, ſo daß doch der Stock, als Ganzes betrachtet, zwitterig iſt („Einhäuſigkeit, Monözie“); innerhalb dieſes Zuſtandes ergeben ſich verſchiedenſte Kombinationen von Gemiſchtblütigkeit oder Vielehigkeit: Blütenpflanzen mit Zwitterblüten, die daneben noch rein männliche Blüten tragen, und zwar entweder auf demſelben Stock
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(„Andromonözie“) oder auf anderen Stöcken, die dann rein männ— lich ſind („Androdiözie“); ebenſo Pflanzen mit Zwitterblüten, die außerdem rein weibliche Blüten entfalten, wiederum auf gleichem Stock („Gynomonözie“) oder auf getrennten Stöcken („Gynodiözie ). Alſo vielfach abgeſtufte Geſchlechtsverhältniſſe, die im Pflanzenreich nur mannigfaltiger und in jeder Kombination häufiger realiſiert ſind als im Tierreich, wo immerhin die Polypen- und Korallenſtöcke ebenfalls in mehreren Formen der Sexualität auftreten. Der räumlichen Komplika— tion geſellt ſich die zeitliche: Stöcke, die abwechſelnd Eizellen und Sperma—
Abb. 665. Ein Stock von Hydroidpolypen (Podocoryne carnea). 1 Wurzelausläufer („Stolonen“), 2 Freßpolypen, 2 mit Nahrung im Darmraum, 3 Geſchlechtspolypen mit (ſpäter losgelöſten) Meduſenknoſpen, 4 Skelettpolypoide, 5 Spiralpolypen (am Ende mit Neſſelpolſter). (Nach Grobben.)
zellen produzieren, oder die zuerſt männlich, dann weiblich find („Pro— terandrie“) oder umgekehrt („Proterogynie“). Endlich kommt hinzu die Variabilität innerhalb der Art: „metaptotiſche“ Stöcke, die im allgemeinen monöziſch find, aber auch in androdiöziſchen Exemplaren vorkommen uſw.
Den Übergang vom Einzeln: zum Kolonialleben kann bisweilen ſchon unſer grüner Süßwaſſerpolyp zeigen: es geſchieht manchmal, daß die Knoſpen, ehe ſie ſich ablöſen, ſelber ſchon Knoſpen tragen, ja daß auch dieſe Knoſpen zweiten Grades ſolche dritten Grades treiben (vom Verfaſſer beobachtet in den Sparbacher Teichen bei Wien). Doch iſt hier der Zuſammenhang wohl nie lebenslänglich, wie er es bei vielen 234
marinen Quallen- und Korallenpolypen, bei Meeres- und Süßwaſſer— ſchwämmen, -moostieren, Seeſcheiden und Salpen wird. Feſtſitzende Formen neigen beſonders zur Stockbildung, und ſo iſt es nicht zu ver— wundern, wenn ſie im Pflanzenreich noch verbreiteter iſt als im Tier— reich. Wie das tieriſche Individuum die „Perſon“, iſt das pflanz— liche der „Sproß“; und ebenſoviele Sproſſe (beblätterte Stengel) ein Gewächs beſitzt, aus ſo vielen Individuen baut ſich ſein Stock auf. Die Geſetzmäßigkeit der Sproßbildung iſt dabei eine ganz ähnliche, wie im vorigen Abſchnitt ausführlich für den Polypen geſchildert, und nament— lich ebenfalls von der Gunſt innerer Nahrungsverſorgung wie von der Ausſicht äußeren Nahrungserwerbes abhängig: die „Internodien“ (Zwiſchenſtrecken zweier Sproßanſätze) ſind ein Ausdruck des inneren Ernährungszuſtandes, — kurz bei gut, lang bei ſchlecht ernährten Pflanzen; die Blattſtellung — wechſel-, gegen-, kreuz- oder wirtel— ſtändig — iſt ein Symptom der Ausſicht auf Nahrungsempfang von außen, denn es ſind Stellungen, die ein Mindeſtmaß an gegenſeitiger Deckung und Lichtkonkurrenz anſtreben. Wechſelſtändig-zerſtreute Blätter mit horizontalen Abſtänden, die nahe an, aber nicht ganz 180 Grad betragen, und vertikalen Abſtänden, die, wie geſagt, vom geſamten Er— nährungszuſtand, daher mittelbar ebenfalls vom äußeren Nährmedium (beſonders ſeiner Lichtintenſität) abhängen, gleichen ſogar bis auf mini— male Zifferndifferenzen vollkommen den Knoſpungsverhältniſſen des Tieres Hydra.
Neigen feſtgewachſene Formen am meiſten zur Kormenbildung, ſo ſind freibewegliche anderſeits nicht davon ausgeſchloſſen: ſchwimmende Kolonien gibt es unter den Salpen, Meduſen und Würmern. Ein anderer Anterſchied als das Prinzip der Koloniebildung ſelbſt iſt es, der die Stöcke feſtſitzender und beweglicher Lebeweſen beherrſcht und nur für ſolche freibewegliche, die unmittelbar von ſitzenden abſtammen (Röhren— quallen, Feuerwalze), ſowie für ſolche feſtſitzende, die mit freibeweglichen in Generationswechſel ſtehen (Strobila-Polyp der Quallen, Abb. 67), nicht zu gelten braucht; die ſeſſilen Formen nämlich neigen am meiſten zur veräſtelten („merotomen“) Kolonie mit Seitenachſenſproſſen (Ko— rallen, Quallenpolypen, Sproßpflanzen); die freien Formen dagegen in— klinieren zur reihigen („metameren“) Kolonie mit Hauptachſenſproſſen (Kettenſalpe, Bandwürmer, manche Lagerpflanzen). Für Erhaltung möglichſt ungehemmter Beweglichkeit iſt zweifellos das Kettenſyſtem vorzuziehen; auch muß das früher angedeutete Vereinheitlichungsſtreben, das zuſammengeſetzte Individuen mit der Zeit in ſcheinbar einfache um— organiſiert, hier weitergehende Reſultate erzielen als dort. Reihenweiſe Koloniſation kommt in zweierlei Art zuſtande: entweder jedes Indi— viduum behält die Fähigkeit zur Sproſſung; dann erfährt die Kolonie ſtets Verlängerung, Auseinanderſchieben nach zwei entgegengeſetzten Längsrichtungen (Faden- und Schwingalgen). Oder nur ein Indi— viduum — in der Bandwurmkolonie der ſogenannte „Kopf“, in der Salpenkette die „Amme“ — beſitzt jene Fähigkeit; dann erfährt die
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Kolonie ein ftändiges Nachſchieben in einer einzigen Längsrichtung. Im erſten Falle ſind die an den Enden befindlichen Individuen die zu— letzt gebildeten der Kolonie, die ſich alſo im räumlichen wie im zeitlichen Sinne des Wortes beiderſeits „verjüngt“; im zweiten Falle ſind die räumlich letzten Individuen zeitlich die erſten geweſen, nämlich die größten und älteſten, ſo daß ſich die Kolonie nach dieſer Seite hin verbreitert, — die jungen finden ſich nur hinter „Kopf“ und „Amme“, als der ein— zigen Stelle, von der aus neue, kleine Individuen eingeſchaltet werden.
10. Generationswechſel
Wir vernahmen ſoeben vom Bandwurmkopf und der Salpenamme, daß ſie die einzigen Individuen ihres Stockes ſind, die das Knoſpungs— vermögen behielten. Was aber erhielten die ihnen entſproſſenen Nach—
kommenindividuen? —: die Fähigkeit zur ge— ſchlechtlichen Fortpflan— zung, zur Erzeugung von Eiern, aus denen wieder neue „Ammen“ (dies der allgemeine Ausdruck für die Individuen mit un— geſchlechtlicher Fortpflan— zung) hervorgehen. Es wechſeln alſo zweierlei Generationen ab, eine Ammengeneration mit vegetativer und eine Ge— ſchlechtsgeneration mit ferueller Fortpflanzung. Dieſe Form des Gene— rationswechſels („Me— tageneſe“) findet ſich außer bei Salpen und Bandwürmern nament— lich noch bei Quallen— polypen (Abb. 66): die freiſchwimmende Qualle legt Eier, aus denen ſich eine Generation feſt—
— ſitzender Polypen ent—
Abb. 66. Generations wechſel und Stockbildung eines Hydroidpolypen (Bougainvillea ramosa): einzelne Knoſpen des Polypenſtöckchens bilden ſich zu Meduſen
(Quallen) aus, — links eine losgelöſte Meduſe.
(Aus Plates Artikel „Deszendenztheorie“ im Handwörterbuch der Natur-
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wiſſenſchaften)
wickelt; jeder Polyp (Abb. 67) ſchnürt teller: förmig übereinander gela— gerte Knoſpen (Ephyren) ab, deren jede ſich nach
Ablöſung als Qualle entpuppt. Das Alternieren gefchlechtlich und un— geſchlechtlich vermehrter Generationen erfährt nun aber graduelle Kom— plikationen, indem erſt auf mehrere Knoſpungsgenerationen eine eigebä— rende Generation zu folgen braucht, oder umgekehrt, oder beides. Auch brauchen weder die einen mit den anderen, noch die einen und anderen untereinander gleichförmig zu ſein: die Sa\ Gegenüberſtellung der Salpen zu den Band— RN würmern und Quallenpolypen zeigt ſchon, 0 wie dort die beiderlei Generationen, obwohl
Abb. 67. Links Seyphoſtoma-Polyp, s die durch die Leibeswand ſchim— mernden, in den Darmraum vorſpringenden Leiſten („Septen“). — Rechts Strobila-Polyp, durch mehrfache Zuerabſchnürung von Knoſpen aus der Seyphoſtoma entſtanden. Dieſe Stücke werden ſich vollends loslöſen und als Quallen („Ephyren“) fortſchwimmen. (Aus Guenther, „Vom Urtier zum Menſchen“.)
ſie ſich durch einige Merkmale unterſcheiden, doch im großen und ganzen derſelben Entwicklungshöhe angehören; hier aber ſtehen ſie im Verhält— nis von Larve und Volltier. Bei den Quallenpolypen entſpricht die ungeſchlechtliche Generation dem Larven-, die geſchlechtliche dem Voll— tierſtadium. Noch verwickelter iſt es bei manchen Bandwürmern: was zunächſt das bisher allein berückſichtigte Verhältnis zwiſchen „Kopf“ und „Gliedern (Proglottiden)“ anbelangt, ſo ſind Bau und Funktionen zwar ſehr verſchieden, aber man könnte nicht behaupten, der eine oder die anderen hätten larvalen Charakter. Wohl aber gibt es bei Taenia coenurus, in noch größerem Umfange bei T. echinococcus blaſenförmige Larvenſtadien, die ſich vegetativ vermehren und dann erſt die „Scolices“ mit eierſtrotzenden Gliedern erzeugen.
Eine andere Form des Generationswechſels, die „Heterogonie“, läßt ebenfalls Generationen abwechſeln, die ſich in bezug auf ihre Fort— pflanzung unterſcheiden, jedoch durch zweierlei Art von Keimzellenfort— pflanzung. Die Fadenwürmer, deren im Freien lebende „Rhabditis“- Generation getrenntgeſchlechtlich, deren in Wirtstieren ſchmarotzende „Rhabdonema“-Generation zwitterig iſt, benutzten wir im Abſchnitt über
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Serualität zum Nach— weiſe der Zwitterbildung
unter dem Einfluſſe des Paraſitismus. Auch ei— nige Beiſpiele, wo jung— fräuliche Generationen mit zweielterlichen ab— wechſeln, haben uns ſchon als Belegmaterial für Gelſchlechtsbeſtim— mung und Geſchlechts— verteilung gedient: die Rädertiere (Abb. 68 un— ten), niederen Krebſe (Abb. 68 oben) und Pflanzenläuſe (Abb. 69). Abb. 68. Zoklomorphoſen, obere Reibe eines Waſſer. Abereinſtimmend iſt hier,
flohes (Hyalodaphnia) nach Woltereck, Saiſonformen aus daß die warme Jahres—
den beigefügten Funddaten erſichtlich; untere Reihe eines R : : A Räpdertiereg (Anuraea cochlearis — nur die Panzer dar— zeit hindurch Weibchen geſtellt!), 1 Winter-, 2 Frühlings-, 3 Sommer-, 4 Herbft- generationen einander
a ee folgen, die unbefruchtet
Den entwicklungsfähige Eier ( „Sommer-“ oder „Subitaneier“) legen, mit kurzer Nachreife oder ſofortiger Entwicklung im Brutraum der dann lebendgebärenden Jungfrauen; bei Einbruch der kühlen Jahreszeit werden ſie von Weib— chen abgelöſt, deren Eier („Winter-“ oder „Dauereier“) be— fruchtungsbedürftig ſind, — und da aus einem Teil der Sommereier zuletzt Männchen hervorgingen, ſo ſind nunmehr auch die befruchtenden Geſchlechtstiere zugegen. Die Dauereier bieten allen Anbilden der Witterung Trotz und laſſen im Frühjahr lauter Weibchen ausſchlüpfen, die ſich nun wieder parthenogenetiſch vermehren. Wofern in unſeren Breiten Jahr für Jahr ein ſolcher Generationswechſel vollzogen wird („monozykliſche Formen“), befindet er ſich in klarer Abhängigkeit vom Klimawechſel und kann, obwohl durch unabläſſige Wiederholung bis zu hohem Grade erblich fixiert, durch abweichende künſtliche Klimate
2 b e
4
Abb. 69. Platanenlaus (Aphis platanoides), a Männchen, b flügelloſes eierlegendes, c geflügeltes lebendgebärendes Weibchen. P Begattungsorgan („Penis“), Hr Honig— röhrchen.
(Nach Claus-Grobben.)
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beſchleunigt, verzögert und umgekehrt werden, falls die Einflußnahme weder in der Periode ſtärkſter parthenogenetiſcher (Frühjahr) noch ſexu— eller Tendenz (Spätſommer, Herbſt) einſetzt. Schwieriger zu erklären ſind die „polyzykliſchen Formen“ mit mehr als einmaligem Ge— nerationsturnus pro Jahr: denn nicht nur ſind ſie ſchwerer abzuändern, ſondern es feblt auch die genaue periodiſche Pr in der anorgani— ſchen Natur. Trotz— dem kann nicht zweifelhaft ſein, daß ſie urſprüng— lich äußerlich be— dingt waren; gibt es doch ſelbſt bei uns Gewäſſer, die im Hochſommer vorübergehend austrocknen und die Produktion von dürrefeſten „Dauereiern“ nö— tig machen, — ſo— wie im Gebirge und Norden Ge— wäſſer, die zu Zei— ten, da im Tale und in der gemä— ßigten Zone Jung— fernzeugung in vol— lem Gange iſt, mehrmals gefrie— ren, wieder auf—
tauen und i z 3 R R 2 der Abb. 70. Entwicklungsformen des Leberegels: 1 Keim-
wiſchenzeit die ſchlauch (Sporozyste) mit „Redien“, 2 einzelne Nedie mit „Cer— Ablage froſtharter carien“, 3 einzelne Cercarie.
„Wintereier“ er⸗ (Nach Cſokor aus Heſſe-Doflein.)
heiſchen. — Zu den Heterogonien mit Abwechſlung zwiſchen zwei- und einelterlicher Zeugung kommen nun noch die Gall- und die Blattweſpen: bei dieſen Abwechſlung zwiſchen je einer doppelgeſchlechtlichen und vielen jungfräulichen Generationen; bei jenen nur zwiſchen je einer Geſchlechts- und einer jungfräulichen („agamen“) Generation.
Eine Geſchlechtsgeneration abwechſelnd mit einer pädogenetiſchen treffen wir bei Saugwürmern (Distomum — Abb. 70): in einem Zwiſchenwirt werden von Keimſchläuchen (entweder „Redien“ oder „Sporozyſten“) auf pädogenetiſchem Wege ohne Befruchtung die „Zerkarien“ oder Schwanzlarven der zwitterigen Geſchlechtstiere erzeugt, die nach nochmaligem Wirtswechſel in den endgültigen Wirt ein—
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wandern. — Im Pflanzenreich ſchließt ſich hier die Heterogenie der Farne an, die gelegentlich des Nachweiſes der biogenetiſchen Regel er— wähnt wurde und zur Ableitung der Aniverſalität des Generations— wechſels gleich nochmals berührt werden muß: teils reingeſchlechtliche (heteroſpore), teils gemiſchtgeſchlechtliche (homoſpore) Vorkeime liefern die Farnwedel mit ihren Sporen, deren jede ohne Befruchtung einen neuen Vorkeim erzeugt.
Es gibt wohl keine Heterogonie, welche die Form ihrer Genera— tionen unbeeinflußt läßt: verhältnismäßig am geringſten ſind die Anter— ſchiede bei Rädertieren und niederen Krebſen, obſchon fie auch hier nicht fehlen, indem z. B. die Sommergenerationen der Waſſerflöhe längeren Schwanzſtachel und höhere Helme beſitzen (Abb. 68). Die jungfräulich lebendgebärenden Blattläuſe der warmen Jahreszeit ſind flügellos; nahe dem Abergang in die Geſchlechtsgeneration erſcheinen geflügelte Weibchen, aber die eigebärende Generation beſteht aus un— geflügelten Weibchen, geflügelten Männchen (Abb. 69). Noch größer iſt der Formenreichtum, und dementſprechend komplizierter verläuft der Generationswechſel bei den Rinden- und Wurzelläuſen. Ehe wir auf dieſe Zuſammenhänge vom kauſalen Standpunkte ausdrücklich zu ſprechen kommen, ſei noch die bloße Aufzählung wichtiger Generationswechſel beendigt, die uns nun zu Fällen geleitet, wo der Fortpflanzungsmodus aufeinanderfolgender Generationen (außer etwa in jahreszeitlicher Be— ziehung und Auswahl des Ablageplatzes) nicht verſchieden iſt, alſo nicht von Heterogonie und Metageneſe geſprochen werden kann: wo aber dennoch die alternierenden Generationen in morphologiſch verſchiedenen Beſtänden voneinander abgehoben ſind.
Solche Formen des Generationswechſels lehnen ſich faſt ſtets dem Klimawechſel an, mindeſtens indirekt durch Anſchluß an deſſen klimatiſch bedingte Fortpflanzungsperioden, und heißen deshalb Saiſonpolymor— phismen, — mit Rückſicht auf die unſeren Jahreszeiten meiſt entſprechende Zweiformigkeit Saiſondimorphismen. Sie find im Tier- wie im Pflanzen— reich ſehr verbreitet und können im Alternieren verſchieden ausſehender Generationen beſtehen (Saiſondimorphismus in urſprünglicher Wort— bedeutung, „Generations-Saiſon-Dimorphismus“), aber auch im Alternieren nahe verwandter Spezies („Art-Saiſon-Dimorphismus“) und endlich ſogar in jahreszeitlich bedingten Verſchiedenheiten desſelben Individuums („Perſons-Saiſon-Dimorphismus“); der letztgenannte Fall iſt nur inſofern den Generationswechſeln einzureihen, als es Ge— webe und Gewebsprodukte find, die jahreszeitlich in zykliſcher Weiſe ſchwanken, — alſo Wechſel verſchieden beſchaffener Zellgenerationen. Wir kommen auf notwendige Begriffserweiterungen deſſen, was man bisher ausſchließlich als Generationswechſel bezeichnete, noch eingehender zurück.
Der Wechſel des nach Menge und Farbe verſchiedenen Sommer— und Winterkleides bei Säugern und Vögeln, Hochzeits- und Alltags— kleidern bei Vögeln, Reptilien und Fiſchen gehört dann ebenſo hierher 240
wie die Farbenverſchiedenheiten aus überwinterten Puppen gefchlüpfter Inſektenfrühlingsgenerationen im Vergleiche zu den aus raſch ent— wickelten Sommerpuppen geſchlüpften Herbſt- und Sommergenerationen. Das berühmteſte Beiſpiel für Saiſondimorphismus iſt der Tagfalter Vanessa levana als Winter-, V. prorsa als Sommerform (Taf. IV, Fig. 22 und 2b); hier konnte durch Dorfmeiſter bei Kühlhaltung der Puppen, aus denen die Sommerform, Warmhaltung der Puppen, aus denen die Winterform zu erwarten war, und Ausſchlüpfen der Sommerform hier, der Winterform dort aufs unzweideutigſte die ausschließliche Ab— hängigkeit von der Temperatur erwieſen werden. Ahnliches gilt von dem ſchwächeren Dimorphismus des Neſſelfalters, Kohlweißlings uſw., ſowie der Florfliege (Chrysopa), deren Sommerfarbe ſmaragdgrün, deren Herbſtfarbe grünbraun und braun ausfällt. — Unter den Pflanzen iſt der Saiſondimorphismus ſchon durch das zeitlich mehr oder weniger begrenzte Erſcheinen der Blüten und Früchte ſamt verſchiedenen damit in Zuſammenhang ſtehenden Hochblattbildungen in einer Weiſe gekenn— zeichnet, die das ganze Landſchaftsbild beſtimmt; aber auch an den Aſſimilationsorganen bemerkt man in früher und ſpäter Jahreszeit deut— liche Form- und Farbverſchiedenheiten, vom Verfärben und Abwerfen des Laubes ganz abgeſehen: es kommt beiſpielsweiſe vor, daß Frühjahrs— blätter zweifarbig ſind, einen chlorophyllfreien Rand oder ebenſolche Streifen beſitzen („Panaſchierung“), während ſpätere Blätter einfarbig ergrünen. Dieſe Fälle gehören dem Perſons-Saiſon-Dimorphismus an, falls die in ihren Fortpflanzungs- und Ernährungsorganen zykliſch veränderten Pflanzeneremplare einheitliche „Individuen“ find; handelt es ſich aber um Pflanzenſtöcke, um Sproß-„Kolonien“, ſo liegt Gene— rations-Saiſon-Dimorphismus vor, wobei nur zu bemerken iſt, daß die Sproßgenerationen des Stockes (Blattſproſſe, Blütenſproſſe) auf un— geſchlechtlichem, vegetativem Wege aus einander hervorgingen. Andere Fälle von „echtem“, d. i. Generations-Saiſon-Dimorphismus nach dem Vorbild des zoologiſchen Falles Vanessa prorsa-levana, insbeſondere ſolche, bei denen die alternierenden Generationen nicht zu einem Stock vereinigt, ſondern räumlich-individuell geſondert ſind, habe ich auf bo— taniſchem Gebiete nicht finden können. Sonſt bietet das Pflanzenreich zahlreiche Fälle des Art-Saiſon-Dimorphismus dar, ſo bei Enzianen und Augentroſten, wo z. B. die früh blühende Euphrasia montana mit der ſpät blühenden E. Rostkoviana abwechſelt (v. Wettſtein).
Oft tritt Perſons-Saiſon-Dimorphismus als ſekun— där⸗ſexuelles Merkmal auf, beſchränkt ſich dann aufs Männchen oder iſt wenigſtens bei ihm viel auffälliger, wogegen das Weibchen jahraus, jahrein ziemlich gleichgefärbt und -geformt bleibt: dies Ver— hältnis beſteht nicht ſelten beim Erſcheinen männlicher Prachtkleider und Brunftcharaktere, ſo bei Webervögeln, Enten, Eidechſen, Waſſer— molchen, Fröſchen und manchen Fiſchen. Die jahreszeitliche Abhängig— keit iſt bei dieſen Nuptialtrachten nur eine mittelbare, weil die klimati— ſchen Einflüſſe zunächſt die Schwankungen im Wachstum der Keim—
Kammerer, Allgemeine Biologie 16 241
drüſen veranlaffen, deren Hormone dann erſt ihrerſeits die äußeren Ver— änderungen beherrſchen: bei Kaſtraten bleiben ſie aus. Deshalb kann das Kommen und Schwinden hochzeitlicher Attribute und ebenſo die Blüh- und Befruchtungsperioden der Pflanzen nur entfernt mit Fällen von der Beſchaffenheit der Vanessa levana-prorsa verglichen, daher nur bedingt unter die Saiſondimorphismen eingereiht werden.
Ganz abſeits davon ſteht jedoch folgender lehrreicher Fall des Fadenwurmes Leptodora appendiculata: durch Wechſel freilebender und ſchmarotzender Generationen erinnert er an die früher beſchriebenen Khabditis-Rhabdonema-Formen, unterſcheidet ſich aber von ihnen durch Anregelmäßigkeit des Wechſels, indem je nach Gelegenheit auch viele paraſitiſche oder freie Generationen aufeinander folgen können. Ein derart fakultativer Generationswechſel im Anterſchied vom ſonſtigen obligaten iſt uns nicht ſo neu wie ein anderes Vorkommnis, das dabei mitunterläuft: die Geſchlechtsreife, auch der Paraſiten, wird unter allen Amſtänden außerhalb des Wirtes im Schlamm erwartet: daher kommt es wohl, daß der Fall Leptodora im Gegenſatze zu Rhab- donema keine Heterogonie wurde, weil ſich die ſtändig freien und die nur um die Zeit der Geſchlechtsreife freien Generationen in ihrer Sexualität und Fortpflanzung gleichen: beide nämlich ſind getrennt— geſchlechtlich; auch die als Jungſtadium ſchmarotzende Generation iſt nicht zwitterig. Dieſes Faktum bietet wohl eine gute Beſtätigung unſeres Befundes, wonach der Paraſitismus ſolcher Fälle den Herm— aphrodismus bedinge, das heißt, falls jener zur Zeit der Zeugungsfähig— keit noch andauert und nicht gerade vor deren Eintritt unterbrochen wird. Leptodora bietet vielleicht das Bild einer im Werden begriffenen Heterogonie, wenn die paraſitäre Epoche mit der Zeit über die Puber— tätsperiode hinaus verlängert werden ſollte. Einſtweilen ſteht der Fall außerhalb der übrigen Generationswechſel: und es würde ſich vielleicht mit Rückſicht darauf empfehlen, den von Lauterborn für niedere Krebſe, Rädertierchen u. dgl. geprägten Ausdruck „Zyklomorphoſe“ als übergeordneten Begriff anzuwenden, der überall paßt, wo eine Formen— reihe im Verlaufe des Generationswechſels immer wieder in ihre Ar— ſprungsgeſtalt zurückkehrt; hier iſt dann Leptodora inbegriffen.
Die Aberſicht der Generationswechſel geſtattet uns jetzt die Frage, wie ſie entſtanden ſein mögen. Am einfachſten zu beurteilen ſind die Saiſonpolymorphismen, zumal die klimatiſche Bedingtheit hier zum Teil ſogar experimentell erwieſen iſt. Schwieriger fällt die Entſcheidung bei den Heterogonien, ob die Außenfaktoren zunächſt die Form und durch deren Vermittlung die Fortpflanzung, oder ob ſie umgekehrt zu— erſt die Fortpflanzung verändert haben, die dann ihrerſeits Formwand— lungen nach ſich zog; oder ob endlich Körperform und Vermehrung unabhängig voneinander, jedes für ſich, von gemeinſamen äußeren Ar— ſachen beſtimmt wurden. Es iſt ſehr möglich, daß alle drei Beziehungen zwiſchen Außenwelt und der beſonderen Art des Generationswechſels ſich verwirklichen: die Saiſondimorphismen und die Zyklomorphoſe von 242
Leptodora zeigen jedenfalls an, daß die Veränderung der Körpergeſtalt das erſte ſein kann, noch ohne Konſequenzen für den Zeugungsmodus. Bei der Heterogonie der übrigen generationswechſelnden Fadenwürmer hat wahrſcheinlich die paraſitiſche Lebensweiſe bauliche Abweichungen (doppelte Schlundanfchwellung mit Zahnapparat in der hinteren), par— allel dazu und ſelbſtändig auch den Hermaphrodismus geſchaffen. Bei den Generationswechſeln der niederen Krebſe, Rädertiere und Pflanzen— läuſe ſcheinen die Geſtaltveränderungen ungemein feſt mit den Sexuali— tätsveränderungen verknüpft zu ſein, aber welche von ihnen im Ver— hältnis zur Umwelt die primäre iſt, läßt ſich kaum angeben. Experi— mente laſſen die Möglichkeit offen, daß jeweils in verſchiedenen Sonder— fällen beide in dieſer tonangebenden Rolle und als Vermittler zur Außenwelt, beide aber folglich auch als ſekundäre Folgen der jeweils anderen auftreten können: das eine Mal alſo würde zuerſt die Sexuali— tät umgeſchaltet, dann von dieſer die geſtaltliche Korrelation veranlaßt, ein andermal umgekehrt. — Die Metageneſen erklärt Claus durch Arbeitsteilung, indem die urſprünglich allen Individuen zukommende Fähigkeit ungeſchlechtlicher und geſchlechtlicher Fortpflanzung auf ver— ſchiedene Generationen verteilt und beſchränkt wurde: wo die eine der beiderlei Generationen einer Larvenform der anderen gleichkommt (Quallenpolypen), iſt es jene, die den vegetativen Vermehrungsmodus beibehält, — iſt es die höherentwickelte, die den jeruellen erhält. Anter allen Amſtänden wird feſtſitzende und paraſitiſche Lebensweiſe der vege— tativen, von Anterlage oder Wirt wenigſtens vorübergehend freie Lebens— weiſe der ſeruellen Fortpflanzung günſtig fein: fo iſt auch hier der ur— ſächlich erklärende Anſchluß an das Lebensmedium gegeben.
Dieſe Aberlegungen laſſen die verſchiedenen Arten des Genera— tionswechſels als abgeleitete Spezialerſcheinungen an— ſehen, die ſich durch äußere und innere Urfachen aus einem Zuſtand herausgebildet haben, worin alle Generationen untereinander gleich waren. Anſere letzte Betrachtung darüber hat jetzt der Frage zu gelten: gibt es daneben vielleicht auch einen urſprünglichen (primären) und allgemeinen (aſpezifiſchen) Generationswechſel, der gerade die Gleichmäßigkeit der Generationen als nachträgliche (ſekundäre) Erſcheinung zur Folge hätte? Um hier klar zu ſehen, müſſen wir abermals auf die Arweſen als den Arquell biologiſcher Erklärung zurückgreifen, von denen wir das Abwechſeln der Zellteilungs- mit den von Depreſſionen begleiteten Zellverſchmelzungsperioden berichtet und betont haben, daß es gewöhnlich nicht möglich oder leicht iſt, eine vege— tative Teilungszelle von einer jeruellen Verſchmelzungszelle (Gamete) zu unterſcheiden, außer man ſähe letztere gerade in Kopulation oder Konjugation begriffen. Wo Trennung in Mikro- und Makrogameten durchgeführt iſt, ſind wenigſtens jene ohne weiters zu erkennen, wenn— ſelbſt dieſe immer noch nicht von indifferenten auseinanderzuhalten.
Mitunter aber ſind vegetativ geteilte und kopulierende Generationen ſcharf unterſchieden: beim Sporentierchen Coccidium Schubergi ſtellen
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erſtere ſichelförmige „Merozoiten“, letztere mit Doppelgeißel verſehene Mikrogameten und rundliche Makrogameten vor. Beim Kreidetierchen Polystomella wechſeln kleinkammerige Exemplare, in denen ſich bald mehrere Zellkerne finden, ab mit großkammerigen Exemplaren und lange behaltenem Hauptkern, was im weſentlichen auf einen Wechſel des Kernteilungstempos hinausläuft, worin die Verlangſamung dem ſexuell disponierten Depreſſionszuſtand entſpricht. Beim Geißelträger Ceratium beſteht eine Zyklomorphoſe, die ſich eng an die bei niederen Krebſen und Rädertierchen beſchriebene anſchließt: langſtachelige Formen bis zum Spätſommer, kurzdornige im Herbſt, zuſammenfallend mit den Epochen häufigſter Kopulation. Wenn wir das Alternieren von Tei— lungs- und Kopulationsperioden als Generationswechſel auffaſſen, was wir folgerichtig tun müſſen, auch wo er geſtaltlich nicht ſo ſcharf mar— kiert iſt wie bei den zuletzt beſprochenen Fällen, — und zwar als Meta— geneſe, da es ſich um vegetativ und ſexuell vermehrte Generationen handelt: ſo iſt nicht allein die Frage nach dem Vorkommen primären Generationswechſels bejahend beantwortet, ſondern zugleich noch der Generationswechſel als eine allgemeine Eigenſchaft der Lebeweſen auf— gezeigt: der Turnus zwiſchen Wachstums- und Zeugungs— periode, bei wiederholter Gelegenheit und von verſchiedenſten Geſichts— punkten aus an Vielzellern und Einzellern als homolog erkannt, iſt dann bei höheren und höchſten Lebeweſen nichts anderes als ein Zyklus von Sich teilenden und kopulierenden Zellen— generationen.
Wir werden darüber nur inſofern leicht hinweggetäuſcht, als beiderlei Zellengenerationen im vielzelligen Verbande der nämlichen Zellenkolonie des gleichen „Individuums“ verbleiben: es hat den An— ſchein, als ſei der ganze Zyklus eine einheitliche Generation, während er ſich, zellulär genommen, aus vielen Generationen von zweierlei, in reproduktiver Hinſicht grundverſchiedener Beſchaffenheit zuſammenſetzt. Der Zeugungskreis, bei welchem die vegetativ und ſexuell vermehrten Generationen — ſeien ſie ein- oder vielzellig — im Körper eines ein— heitlichen „Individuums“ oder „Stockes“ eingeſchloſſen erſcheinen, führt den Namen „Hypogeneſis“ (Zeugung ineinander): derjenige Zyklus, bei welchem die beiderlei Generationen auf getrennte Individualitäten zerteilt ſind, behält den Namen „Metageneſis“ (Entſtehung nach— einander). Ebenſo wie es Metageneſen aus Einzelzellen und Zell— verbänden gibt, ſo auch Hypogeneſen aus Zellindividuen und zuſammen— geſetzten Organismen.
Wir kennen den Generationswechſel feſtſitzender Polypen und da— von abgeſchnürter, eilegender, polypzeugender Meduſen: bei manchen Gattungen, ſo bei der gern mit Einſiedlerkrebſen zuſammenlebenden Hydractinia, kommt es nicht zu völliger Abtrennung der Meduſen— generation: dieſe wird alſo nicht frei, ſondern bleibt in Form „medu— ſoider Gemmen“ an den Geſchlechtspolypen haften, — ihre Eier ſinken zu Boden und werden ſofort wieder zu Polypen. Die groß—
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artigſte Hypogeneſis aber beherrſcht ſozuſagen das ganze höhere Gewächs— reich und iſt von dem uns gleichfalls ſchon bekannten Generationswechſel der durch indifferente Sporen vermehrten Farnwedel mit ihren oft ſexuell differenten Vorkeimen abzuleiten. Ich wiederhole die Stelle von S. 155 mit einigen Wortveränderungen, wie ſie der gegenwärtigen Situation entſprechen: Auch die Blütenpflanzen beſitzen getrenntgeſchlechtliche Vor— keime, aber ſie ſind rudimentär geworden und dauernd in die Blüten— organe eingeſchloſſen. Das Pollenkorn geht in den männlichen Vorkeim über, der als Pollenſchlauch die Spermazellen zur Samenknoſpe hinab— trägt; im Embryoſack entwickelt ſich der weibliche Vorkeim als Nähr— Endoſperm, Antipoden und Synergiden mit der Eizelle (S. 213, Abb. 56). — Die Blütenpflanze entſpricht alſo dem Blattwedel der Farne, Embryoſack- und Pollenkorngewebe deſſen Vorkeim (Prothallium); der Vorkeim iſt verkümmert, der Blattwedel hochentwickelt (Taf. I, Fig. 5). Bei den Mooſen iſt es umgekehrt (Taf. I, Fig. 4): das Moospflänzchen (a) repräſentiert die Geſchlechtsgeneration nach Art der Farnprothallien; auf ſeinem Gipfel entſteht, ohne ſelbſtändig zu werden, als „Moos— kapſel“ (Sporogon, f—4k) die dem ſporentragenden Farnblatt ent— ſprechende ungeſchlechtliche Generation.
Der urſprüngliche und allgemeine Generationswechſel in Tier- und Pflanzenwelt verſchmilzt nun noch zu ſchönſtem Einklang nach Beſichti— gung der Kernſchleifenzahlen. Wir wiſſen, daß die Reduktionsteilung den Beſtand an Kernſchleifen auf die Hälfte herabſetzt, ſo daß die Ver— einigung der Keimzellen ihn nicht verdoppelt, ſondern nur einfach wieder— herſtellt. Während aber bei den Tieren nur die reifen Keimzellen den halben Kernſchleifenvorrat beſitzen, iſt dieſer bei Pflanzen in einer längeren Folge von Zellgenerationen enthalten; die Reduktionsteilung findet eben hier früher ſtatt als knapp vor Erzeugung der kopulations— bereiten Zellen. Bezeichnen wir jetzt (mit Abertragung eines nur fürs Pflanzenreich üblichen Ausdrucks auch aufs Tierreich) die Geſamtheit der Zellen mit halber Chromoſomenzahl als „Gametophyt“; die Ge— ſamtheit der Zellen mit voller Chromoſomenzahl als „Sporophyt“: ſo ſind alſo im Pflanzenreich beide gewebs-, bei Sporenpflanzen ſogar gewächsbildend; im Tierreich dagegen baut nur der Sporophyt einen organiſierten Zellberband, während der Gametophyt ſich auf die einzeln bleibenden Keimzellen (Gameten) beſchränkt. Hier wie dort aber ſtehen gametophytiſche und ſporophytiſche Zellen, mögen ſie ſelbſtändig ſein oder nicht, miteinander im perpetuellen und univerſellen Generations— wechſel.
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(Vgl. auch die Literatur zum vorhergehenden Kapitel über „Entwicklung“,
ſowie die Schriften von Brehm und Vöchting im IV, von Sachs im
V., von Friedenthal im VI., von Delage, Bateſon, Gold—
ſchmidt und Plate im IX., von Goldſcheid, Graff und Guenther
im X. Kapitel.)
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IX. Vererbung (Heredität)
1. Vererbungstheorien
Eigentlich erſt ſeit Darwin taucht im Schrifttum das Wort „Ver— erbung“ auf; erſt ſeit Erſcheinen des Werkes „Das Variieren der Tiere und Pflanzen“ ſah man, daß im Wiedererſcheinen elterlicher Eigen— ſchaften bei den Kindern ein Problem liegt. Vor Darwin hatte man in den Vererbungserſcheinungen kein beſonderes Prinzip, keine ſelb— ſtändige Elementarfähigkeit des Lebendigen erkannt, ſondern ſie als ſelbſtverſtändliche Begleiterſcheinung der Fortpflanzung behandelt. La— marck ſagt nicht: Die Natur des Individuums „vererbt ſich“ auf die
dachkommen, — ſondern: fie „erhält ſich durch Fortpflanzung“ (se conserve par la generation).
Es ſoll nicht unangezweifelt bleiben, ob in der Aufſtellung eines beſonderen Vererbungsproblemes wirklicher Fortſchritt gelegen war. Die begriffliche Trennung des Vermehrungsprozeſſes als ſolchen von der Merkmalsübertragung war gewiß von großem Vorteil und geftattete das Herausarbeiten unſchätzbarer Erkenntniſſe, die ohne ſolche Analyſe vielleicht nicht gefunden worden wären. Aber es ging wie ſo oft in der Wiſſenſchaft: die Vorteile ſcharfer Analyſe gehen zum Teil wieder verloren, weil Syntheſe ihnen nicht auf dem Fuße folgt; weil Scheidung der Begriffe mit Scheidung von Weſen— heiten verwechſelt wird. Es iſt ein ander Ding, das Wiedererſcheinen der Vorfahreneigenſchaften geſondert von der Fortpflanzung zu betrachten oder für etwas von der Fortpflanzung Grundverſchiedenes zu halten. Mißverſtehen des Wortinhaltes „Vererbung“ nimmt für tiefe Weſens— gleichheit, was nur oberflächliches Gleichnis iſt mit der Hinterlaſſen— ſchaft äußeren Erbes in menſchlichem Privatbeſitz; führt zur Verkennung der großen Anunterbrochenheit, in der der Strom des Lebens dahin— fließt; verleitet zur Annahme greifbar konkreter, ſtatt bloß denkbar ab— ſtrakter Grenzen zwiſchen Individuum und Keim, Perſon und Genera— tion, — Schranken, die nur deſto ſchwerer zu überbrücken und verſtehen, je weniger ſie wirklich vorhanden ſind.
So erfahren die guten Seiten der neuen Frageſtellung ſchon bei Darwin eine Verdüſterung, ſobald man anfing, für die geſehenen Ver— erbungsvorgänge eine andere Erklärung zu ſuchen als diejenige, die ſchon in genaueſter Erforſchung des Wachstums und feiner Fortſetzung über individuelles Maß hinaus, der Fortpflanzung, gefunden werden mußte. Man kann die Vererbungshypotheſen, mit Einſchluß des Darwinſchen 248
Erklärungsverſuches, einteilen in ſolche, die alles zur Vererbung Nötige, ſämtliche Eigenſchaftsanlagen für den Körper, ſchon im Keime ſelbſt als gegeben annehmen („Präformation“); und in ſolche, die ein Hin— wandern der Anlagen aus allen Körperregionen vermuten, ſomit einen Aufbau des Keimes aus Keimchen von weit entfernter körperlicher Herkunft („Epigeneſis“). Jede von beiden Anſchauungen iſt einer mehr morphologiſchen Auslegung teilhaftig geworden, in der die „Keim— chen“ oder „Anlagen“ (Träger der erblichen Eigenſchaften) als kor— puskuläre Gebilde, als begrenzte Körnchen und Kügelchen auftreten; oder einer mehr chemiſchen Auslegung, in der ſie als Stoffe, am eheſten als Fermente gelten.
Vertreter einer morphologiſch-epigenetiſchen Vererbungsdeutung iſt Darwin ſelber, den man weit mehr den Begründer der Vererbungs— als den der Abſtammungslehre rühmen darf. Seine „Pangeneſis— theorie“ fordert die Entſendung je eines Keimchens (Pangens) von jeder Körperzelle für jede Keimzelle: die Keimzellen werden dann von den Pangenen zuſammen aufgebaut; jede erhält ein Geſamtſortiment davon in ſolch lokaler Verteilung, daß jedes Pangen im neuen Individuum am rechten Ort wieder zur homologen Zelle auswachſen muß. — Bei einem Vertreter der chemiſch-epigenetiſchen Hypotheſe, Cunningham, ſind die geformten Pangene durch ungeformte innere Sekrete (Hormone) vertreten, die notwendigerweiſe (S. 103) von jeder Zelle ausgehen und überall hin verbreitet werden, alſo auch in die Keim— zellen, wo fie die Möglichkeit der Neuentfaltung ihrer Urfprungszellen ſchaffen. — Auch Hatſchek läßt, und zwar nicht bloß von den Zellen, ſondern von jedem Biomolekül „kleinſte Trümmer oder Splitter ſich ab— löſen“, die zunächſt als beſondere Moleküle im Zellſaft oder der inter— zellulären Flüſſigkeit ſuspendiert, zuletzt von den Biomolekülen der Keimzellen aſſimiliert werden und dabei qualitative Zuſtandsänderungen derſelben bewirken. Ausgehend von ſeiner Theorie der Wachstums— aſſimilation (S. 115), nimmt Hatſchek zweierlei Hauptarten von Lebens— molekülen an: ſolche, die durch Aſſimilation das Wachstum, daher auch Vermehrung und Vererbung beherrſchen („Generatüle“); und ſolche, die die übrigen Arbeiten des lebenden Stoffes leiſten, Reizempfang und Erregung, Reizleitung und Bewegung, Ernährung und Aus— ſcheidung („Ergatüle“). Die Arbeitsmoleküle können von Wachs— tumsmolekülen ſtets aufs neue gebildet werden, wogegen erſtere dieſe Fähigkeit verloren haben; von den Generatülen des Keimes geht beim Wachstum des Individuums Wiederherſtellung ſämtlicher Erga— tüle aus.
Die berühmteſte der modernen Präformationstheorien — auf extrem morphologiſcher Baſis — iſt die „Determinantenlehre“ von Weis— mann. Mit der Generatüllehre von Hatſchek berührt ſie ſich durch Anterſcheidung von zweierlei Sorten lebender Subſtanz: Keimplasma (entſprechend der generativen Subſtanz bei Hatſchek) in den Kernen, vornehmlich der Keimzellen; und Körperplasma lentſprechend den
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ergaſtiſchen Subſtanzen) in den Zelleibern, beſonders aller Leibes— zellen. Bei Hatſchek gilt aber die keimende Subſtanz als einfachſte Form, in der Plasma auftreten kann, — als wahres „Protoplasma“, das in allen Kernen gleich iſt und erſt durch Auswanderung in den Zelleib der mannigfachſten Umwandlung fähig wird; bei Weismann ſoll ſie eine Zuſammenſetzung aus Iden, Idanten, Determinanten und Biophoren haben — jedes vorausgehende Glied immer das über— geordnete des nächſten —, wonach der Kern als Anlagenbau ebenſo kompliziert wäre wie der fertige Organismus als Strukturenbau. Die vormikroſkopiſche „Einſchachtelungstheorie“, die alle künftigen Menſchheitsgeſchlechter in Mutter Evas Eierſtock verlegte, da im Ei zu— ſammengekauert ein winziges Menſchlein hocke, in deſſen Eiern wieder je eines uſw. in infinitum, hat hier ihre nachmikroſkopiſche Auferſtehung gefeiert; Weismann bekämpfte abweichende Anſichten unter anderm mit dem „logiſchen Gegenbeweis“, daß ſie „unvorſtellbar“ ſeien. Wäre das ein Argument mit dem Anſpruch auf wiſſenſchaftliche Geltung, ſo müßte es in erſter Linie auf Weismanns morphologiſch-präformiſtiſche Lehre zurückfallen. Es war auch nicht die ungeheuerliche Vorſtellung der ein— geſchachtelten geformten Anlagenkomplexe, die ihr zu großem Einfluß verhalf, ſondern die ergänzende Lehre von der „Kontinuität des Keimplasmas“; wenn der Keim ſich entwickelt, fo wird nach und nach je ein Teil des Keimmateriales dazu verwendet, je einen Teil des fertigen Körpers daraus zu formen. Bei dieſer immer größere Fort— ſchritte machenden Arbeitsteilung bleibt jedoch eine Portion des ur— ſprünglichen Keimes unverändert: während ringsum mächtig vorwärts ſtrebendes Entwicklungsgeſchehen ſtatthat, verharrt jenes letzterwähnte Partikelchen unentwickelt, gleichſam untätig; es bleibt, was es war, — ein Stückchen Keimmaterial. And aus ihm wird die neue, zur ſpäteren Fortpflanzungstätigkeit beſtimmte Keimſubſtanz des jungerſtandenen Individuums. Auf ſolche Weiſe wäre Weismann die beſte Erklärung der Vererbung gelungen, die es geben kann: Zurückführung auf Wachs— tum; wenn er nur nicht von der Anunterbrochenheit auf Anabhängigkeit des Keimplasmas geſchloſſen hätte, das dem übrigen Körper (Soma) gegenüberſtehe wie der Paraſit ſeinem Wirte; „denn wenn das Keim— plasma nicht in jedem Individuum wieder neu erzeugt wird, ſondern ſich direkt von dem des vorhergehenden ableitet, ſo hängt ſeine Be— ſchaffenheit nicht vom Individuum ab, in dem es zufällig gerade liegt ſondern dieſes iſt gewiſſermaßen nur der Nährboden, auf deſſen Koſten es wächſt; ſeine Struktur aber iſt von vornherein gegeben“.
Wie Darwins Pangeneſis zu Cunninghams Hormonen: und Hat— ſcheks Generatültheorie, jo verhält ſich Weismanns Keimplasma- zur „Faktorenlehre“ der neuzeitlichen, auf Mendel weiterbauenden „Genetiker“: die raumbegrenzten Determinanten werden zu gemiſchten Stoffen („Faktoren“), die ihre Entmiſchung und ſtrukturelle Organiſation noch nicht im undifferenzierten Keim, ſondern erſt im ausdifferenzierten Organismus empfangen; oder auch zu Stoffen, die ungemiſcht im Keime 250
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liegen, um erſt ſpäter dem Aufbau der komplizierten Verbindungen zu dienen. Johannſen nennt fie „Gene“, — abgekürzt aus Pangene, wobei man ſich nur merken muß, daß ſie hier nicht wie bei Darwin Sendboten aus dem Körper ſind, ſondern von jeher unverändert und unveränderlich in den Keimzellkernen eingeſchloſſen ruhen. Vergleichbar den Atomen der relativ wenigen chemiſchen Grundſtoffe, rufen dieſe, Erbeinheiten“ die unendliche Formenmannigfaltigkeit der lebenden Natur hervor, indem ſie ſich zu immer neuen Verbindungen häufen oder alte Elemente durch Abſpaltung rein zur Darſtellung bringen; die elementaren Eigenſchaften ſelbſt aber ſeien immer vorhanden geweſen, bleiben immer konſtant und täuſchen bloß durch ihre mannigfache Koppelung die natürliche Ge— ſtaltenfülle vor. Die Starrheit der Vererbung, des ewig Gleichen im Wechſel des körperlichen Geſchehens, finde durch dies Haſardſpiel der Anlagen, wie es uns namentlich durch die Mendelſchen Vererbungs— erſcheinungen vor Augen geführt wird (S. 254 ff.), ihre vollinhaltliche Erklärung.
Die Kritik dieſer Anſchauungen überlaſſen wir den Vererbungs— tatſachen; ehe wir uns dahin wenden, werfen wir noch einen Blick auf die Anſichten derjenigen Vererbungstheoretiker, die den Organismus als Ganzes bei der Vererbung mitwirken laſſen und die Scheidung in zwei ſchroff verſchiedene Anteile — Leib und Keim — nicht gelten laſſen. Obenan ſteht hier die „F Mneme!-Theorie von Semon, die, auf einem Grundgedanken E. Herings errichtet, die Vererbung durch das allgemeine Gedächtnis der organiſierten Materie (S. 66) erklärt. Aber nicht bloß die Vererbung, ſondern alle Wiederholungen des Lebens — Abung, Ermüdung, Gewöhnung, Entwicklung — finden damit ihre Einordnung in jenes einheitliche Prinzip; ſie alle laufen nach den gleichen Geſetzmäßigkeiten ab, die uns von den Phänomenen des geiſtigen Erinnerungsvermögens her geläufiger ſind. „Das Küchlein,“ ſagt Hering, „welches eben aus feinem in der Brutmaſchine gezeitigten Ei ſchlüpft und deſſen ſich nun keine fürſorgliche Henne annimmt, pickt trotzdem nach den Körnern, die man ihm vorſtreut. . . Das kann es nicht in der Eiſchale gelernt haben, das haben vielmehr die tauſend und abertauſend Weſen erlernt, die vor ihm lebten und von denen es abſtammt ... Wenn dem Mutter— organismus durch lange Gewöhnung oder tauſendfache Abung etwas ſo zur anderen Natur geworden iſt, daß auch die in ihm ruhende Keim— zelle davon in einer, wenn auch noch ſo abgeſchwächten Weiſe durch— drungen wird, und letztere beginnt ein neues Daſein, dehnt ſich aus und erweitert ſich zu einem neuen Weſen, deſſen einzelne Teile doch immer nur fie ſelbſt find und Fleiſch von ihrem Fleiſche; und fie re— produziert dann das, was ſie ſchon einmal als Teil eines großen Ganzen miterlebte: jo iſt das zwar ebenſo wunderbar, als wenn den Greis plötzlich die Erinnerung an die früheſte Kindheit überkommt, aber es iſt nicht wunderbarer als dieſes.“
Einigermaßen verwandt mit der Mnemetheorie, inſoferne ſie eben— falls in Erregungszuſtänden das Entſcheidende ſucht, welche die reizbare
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Subſtanz treffen und in ihr dauernde Eindrücke, Erinnerungsbilder („Engramme“ — Semon) zurücklaſſen, iſt die „Zentroepigeneſe“ von Rignano. Einen anderen Weg geht Eugen Schultz: wir hörten von der Amkehebarkeit („Neverſibilität“) mancher Entwicklungsprozeſſe, wodurch beiſpielsweiſe ein hungernder Polyp in ein Stadium gelangen kann, das dem ſeiner eigenen Eizelle, woraus er herkam, faſt gleich iſt. Entwicklung aus dem Keim und Rückentwicklung in den Keim ſind die Grenzpunkte, zwiſchen denen der im übrigen und darin beſtändige Lebens— prozeß hin- und herpendelt: ein Zuſtand maximaler Expanſion bezeichnet den Höhepunkt, maximaler Kontraktion den Tiefenpunkt im Wechſel und der Reihenfolge der Generationen. Die einſtweilige Schwäche dieſer „In volutionstheorie“ der Vererbung liegt am fehlenden Nachweis einer allgemeinen und einer wirklichen Amkehr der Entwicklung: Ent: differenzierung iſt nicht bedingungslos Rückdifferenzierung; gerade in den noch ſpärlichen Beiſpielen vollkommenſter Reduktion (Polyp, Planarie, Seeſcheide, Clavellina — S. 122) beruht ſie darauf, daß nach und nach die Gewebe vorgeſchrittenſter Spezialiſierung zerſtört werden, bis nur mehr niedrigſte Stufen übrigbleiben. Das iſt etwas anderes als Rückkehr ſämtlicher Strukturen in den unſtrukturierten, doch neuerdings ſtrukturierungsfähigen Zuſtand.
Die Zahl der Vererbungstheorien ift Legion; und wenn Drelincourt 262 Anſichten über Geſchlechtsbeſtimmung aufzuzählen vermochte, ſo würde eine ähnliche Zuſammenſtellung hinſichtlich der Vererbung viel— leicht nicht kärglicher ausfallen. Wir beſchränkten uns hier auf die ein— flußreichſten oder verheißungsvollſten, — zugleich geeignetſten, in der uralten Streitfrage: „Präformation oder Epigeneſis“ und deren moderner Fortſetzung „Vererbung angeborener oder auch erworbener Eigenſchaften“ die lang erſehnte Austragung herbeizuführen. Für unſeren Teil müſſen wir uns der zuletzt erwähnten Gruppe anſchließen, die den Organismus als zuſammengehöriges Ganzes betrachtet und daher weder eine „Aber— tragung“ noch einen „Moſaikbau“ anzunehmen gezwungen iſt. Für die Schlußentſcheidung wird jede Detailauffaſſung jener Theorien— gruppe ihren wichtigen Beitrag bereit haben.
2. Vererbungsſubſtanz
Anſer Wiſſen über diejenigen Plasmen, welche die Weitergabe der Vorfahreneigenſchaften auf die Nachfahren vermitteln, muß immer noch enge an die bloßen „Theorien“ angereiht werden: denn Sicheres iſt trotz gewaltiger Fortſchritte der mikroſkopiſchen und experimentellen Technik nicht ermittelt worden. Eines kann mit größter Wahrſcheinlich— keit herausgehoben werden: eine eigene „Vererbungsſubſtanz“ gibt es nicht, ſondern dieſe iſt identiſch mit der Wachstums- und Zeugungs— ſubſtanz. Wo iſt nun das „Keimplasma“ zu finden? Wenn ich dieſen Ausdruck gebrauche, fo gilt er nicht im Weismannſchen Anab— hängigkeitsſinne, ſondern dem einer ſtändig empfangenden und gebenden 252
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Wechſelwirkun g zum „Funktionsplasma“ des Körpers. And da fallen uns förmlich ungerufen Stoffe ein, die zu gewiſſen Zeiten als fließenden Kriſtallen ähnliche Stücke im Zellkern ſichtbar werden: die während der Teilungsphaſe als ſcharf umſchriebene „Chromoſomen“ auftretenden färbbaren Kernſubſtanzen.
Fragen wir nach Gründen, die uns beſtimmen, gerade im Chromatin die vererbende Keimſubſtanz zu vermuten, ſo braucht die Antwort nur Bekanntes zuſammenzufaſſen: 1. Die feſt— ſtehende Zahl der Chromoſomen innerhalb der Art; 2. ihre konſtante Anzahl in allen Körperzellen des Individuums; 3. Reduktion dieſer Zahl auf die Hälfte bei Samen- und Eireifung (S. 193, Abb. 46 und S. 194, Abb. 47); 4. Herſtellung der Stammzahl bei Befruchtung (S. 196, Abb. 49, Detail 6 und 15; S. 195, Abb. 48, Detail 6); 5. Längsſpal— tung der Chromoſomen bei Zellteilung (S. 177, Abb. 42), wodurch ge— naueſte Aufteilung der Anlagen ermöglicht iſt, deren Längsanordnung ſich wegen beſſerer Raumausnützung eher denken läßt als Quer— anordnung.
Die einzige Teilung, bei der die Chromoſomen nicht geſpalten, ſondern als ganze Stücke in zwei Halbpartien den Tochterzellen zu— geführt werden, — die Reduktionsteilung iſt zugleich Duelle der Veränderlichkeit unter den Nachkommen: während Zwillinge, die aus demſelben Ei ſtammen (S. 131), einander zum Verwechſeln gleichen, u. a. meiſt demſelben Geſchlechte angehören, ſind normale Geſchwiſter bei aller ſonſtigen Ahnlichkeit deutlich voneinander verſchieden. Einige bekamen mehr vom Vater, andere von der Mutter mit, noch andere beſitzen Merkmale beider Eltern in ungefähr gleichem Verhältnis. Auf Grund unſerer Kenntniſſe über Reduktion und Befruchtung — Kennt— niſſe, die wir nebſt vielen anderen namentlich van Beneden, Boveri, Bütſchli, Fol, O. Hertwig, Strasburger und Sutton danken — iſt jene Erſcheinung durch das Verhalten der Chromoſomen ohne weiteres zu erklären. Wir wiſſen, daß bei Befruchtung zwei Sortimente von Chromoſomen — das mütterliche und väterliche Sortiment —, die bis auf etwaige Geſchlechtschromoſomen (S. 195, 196, Abb. 48, 49) in Zahl, Größe und ſonſtigem Geſamtausſehen übereinſtimmen, in der Stamm— zelle für den neuen Organismus zuſammenkommen. In dieſem Be— ſtande, der von der Stammzelle infolge Längsſpaltung jedes Chromo— ſoms an alle Zellen des Individuums weitergegeben wird, iſt alſo jedes Stück doppelt vertreten; das geht ſo weiter bis zu derjenigen Teilung, aus der die reifen Keimzellen des Nachkommen zwecks Aufbau der Enkelgeneration hervorgehen ſollen: mithin bis zur nächſtfolgenden Re— duktionsteilung. In der Aquatorialplatte (S. 177, Abb. 42 E) dieſer Teilungsfigur ſtellen ſich die Chromoſomen fo auf, daß je zwei und zwei gleichartige — je ein väterliches und ein mütterliches — dicht aneinander zu liegen kommen („Konjugation der Chromoſomen“)
In dieſe Doppelreihe ſchneidet jetzt die Teilungsfurche ein, ſo daß von einander gegenüberſtehenden Chromoſomen jedesmal das eine links,
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das andere rechts in die Tochterzelle (reif gewordene Keimzelle) hinein— gedrängt wird. Die Keimzellen empfangen demnach je ein vollſtändiges e e worin jetzt jedes Stück nur einfach vertreten iſt.
Man darf ſich aber jene Aufſtellung in Reih und Glied, welche die ee Aufteilung ermöglicht, nicht jo vorftellen, als ob alle dem Vater entſtammten Chromoſomen etwa links, alle der Mutter ent— ſtammten rechts zu ſtehen kämen. Wäre dies (wie de Vries geglaubt hat) ſtets der Fall, dann würde die Reduktionsteilung dieſelben Gruppen voneinander trennen, die bei der vormaligen Befruchtung zuſammen— kamen, und dann wäre eine viel geringere Mannigfaltigkeit unter den Nachkommen möglich, als ſie tatſächlich oft beobachtet wird. Die Chromoſomenkonjugation muß deshalb ſo gedacht werden, daß es unter ſonſt gleichen Bedingungen dem Walten des Zufalls überlaſſen bleibt, ob links und rechts lauter oder vorwiegend oder gleichviele väterliche und mütterliche Chromoſomen Platz genommen haben. Der einfache, vollzählige Chromoſomenbeſtand, den die dazwischen eingreifende Teilungs— ebene in die Keimzellen ſchiebt, iſt deshalb meiſt aus väterlichen und mütterlichen Elementen in ganz verſchiedenem Verhältnis gemiſcht; und wenn fremde en zur Befruchtung zuſammentreten, wird erft recht ein neues Miſchungsverhältnis ausgetauſchter Chromoſomen in den Stammzellen hergeſtellt, aus denen jetzt eine junge Generation er— wächſt.
3. Vererbungstatſachen a) Vererbung angeborener Eigenſchaften
Die eben auseinandergeſetzte Verteilungsweiſe der Chromoſomen bei Reduktion und Befruchtung ſpiegelt ſich im Vererbungsſchickſal der— jenigen Eigenſchaften wider, die von den Elternindividuen ſelbſt ſchon mit auf die Welt gebracht waren. Em recht einfach und deutlich zu ſein, nehmen wir an, daß jedes Chromoſom Träger nur je einer erblichen Eigenſchaft ſei; daß jede Eigenſchaft, die wir am entwickelten Exemplar bemerken, durch je ein Chromoſom in deſſen Keimzellen repräſentiert werde. An der Richtigkeit dieſer Aberlegung ändert ſich nichts, wenn nach mancher Anſicht in jedem Chromoſom mehrere Eigenſchaftsanlagen ſtecken, — vielleicht ebenſoviele, als es Querglieder, vielleicht ſogar ebenſoviele, als es bei ſtärkſter Vergröße— rung Körnchen erkennen läßt; wir abſtrahieren eben von allen Anlagen, die außer der einen noch an dasſelbe Chromoſom gekettet ſind, und be— gleiten nur die einzige Anlage auf ihrer an das Chromoſom gebundenen Wanderſchaft.
Führen wir nun eine praktiſche Kreuzung, etwa mit Bateſon und Punnett, zwiſchen ſchwarzen und weißen Hühnern durch (Abb. 71). Es iſt gleichgültig, ob wir eine ſchwarze Henne und einen weißen Hahn nehmen oder umgekehrt. Beiſpielsweiſe alſo wäre ein Chromoſom im Ei der ſchwarzgefiederten Henne der Anlagenträger für „ſchwarze Farbe“; das entſprechende Chromoſom im Samenfaden eines weiß—
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federigen Hahnes wäre der Träger für „weiße Farbe“. Nun kommen dieſe zwei Chromoſomen in einer Stammzelle zuſammen und erzeugen einen Miſchling (Baſtard), der in unſerem Falle blaugraue Federn bekäme. Der Farbenmiſchling wird geſchlechtsreif, ſeine Keimmutterzellen be— reiten ſich zur Reduktionsteilung vor: nun ſtehen das Chromoſom für „Schwarz“ und jenes für „Weiß“ einander gegenüber; erſteres kommt in die eine, letzteres in die andere reife Keimzelle. Der Baſtard erzeugt
Abb. 71. Blaues Andaluſierhuhn (Mitte), entſtanden aus Kreuzung von ſchwarzem (rechts) mit weißem Huhn (links). (Nach Plates Vererbungslehre, verdeutlicht.) ſohin, trotz ſeines Miſchlingscharakters, nur reinraſſige Keimzellen, zur Hälfte ſolche mit der Anlage (dem Chromoſom) für „Schwarz“, zur anderen Hälfte ſolche mit der Anlage (dem Chromoſom) für „Weiß“. Dieſer Baſtard iſt ja aber nicht das einzige Kind ſeiner ungleich— farbigen Eltern, ſondern beſitzt wohl eine Anzahl Geſchwiſter, ebenfalls lauter blaugraue Baſtarde, die gleichfalls lauter reinraflige Keimzellen bilden. — Was geſchieht, wenn ſolche Geſchwiſter ſich untereinander paaren? Es gibt vier Möglichkeiten: 1. Eine „ſchwarze“ Eizelle (d. h. ein Ei mit dem Chromoſom für „Schwarz“) wird von einer „weißen“ Samenzelle (d. h. einer ſolchen mit der Anlage für „Weiß“) befruchtet, —
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in dieſem Falle entſteht wieder ein blaugrauer Baſtard; 2. eine „ſchwarze“ Samenzelle befruchtet ein „weißes“ Ei, — auch im jetzigen Falle ent— ſteht ein ebenſolcher Baſtard; 3. ferner kann eine „ſchwarze“ Eizelle von einem „ſchwarzen“ Samenfaden befruchtet werden, — dann entſteht, weil zwei Chromoſomen mit dieſer Anlage zuſammenkamen, ein rein— raſſig ſchwarzes Huhn, das der Großmutterhenne in bezug auf Farbe gleich iſt; 4. endlich kann eine „weiße“ Eizelle von einer ebenſo „weißen“ Samenzelle befruchtet werden, — dann entſteht, gleich dem Großvater Hahn, ein reinraſſig weißes Huhn.
Iſt kein beſonderer Grund vorhanden, weshalb die eine oder andere dieſer vier Möglichkeiten öfter oder ſeltener eintreten ſollte — alſo unter gleichbleibenden Lebensbedingungen —, ſo werden ſie ſich alle gleich häufig verwirklichen: das heißt, es werden ebenſoviele rein weiße und rein ſchwarze Hühnerenkel vorhanden ſein, und, da hierfür zweierlei Kombinationen gegeben ſind, ebenſoviele Farbbaſtarde als Reinfarbige zuſammen. — Das iſt in der Tat ein Ziffernverhältnis zwiſchen Baſtarden und Reinraſſigen, welches nicht nur im eben herangezogenen Beiſpiel, ſondern bei allen Raſſenkreuzungen von Mendel entdeckt, von de Vries, E. v. Tſchermak und Correns wiederentdeckt wurde: in der Kinder— generation lauter in bezug auf das herausgegriffene Merkmal gleiche Miſchlinge, in der Enkelgeneration 50% gemiſchtraſſige Exemplare („Heterozygoten“) und je 25% reinraſſige Exemplare („Homo— zygoten“) der beiderlei wieder entmiſchten Ausgangsraſſen. Selbſt— verſtändlich werden letztere, wenn nur mit ihresgleichen gepaart, auch in der Arenkelgeneration uſw. keine anderen als reinraſſige Nach— kommen liefern; bei den Miſchlingen dagegen muß ſich, wenn ſie in— gezüchtet werden, die Aufſpaltung in / Reinraſſige jeder Stammraſſe (3. B. ½ weiße und ¼ ſchwarze Hühner) und ½ Gemiſchtraſſige (3. B. blaugraue Hühner) ſtets wiederholen.
In dem von uns benutzten Beiſpiele nahm das Merkmal der Baſtarde zwiſchen den Merkmalen der reinraſſigen Eltern die Mitte ein, und zwar in Form gleichförmiger Miſchung der reinen Merkmale („Intermediäre Vererbung“): Weiß mal Schwarz gleich Grau. Andere Beiſpiele von derſelben Beſchaffenheit ſind: Wunderblume (Mirabilis Yalapa), — weißblühende mit rotblühenden Exemplaren geben roſablühende, deren Nachkommen ſich in ½ rot-, ½ roja=, ½ weiß: blühende ſpalten (Taf. II, Fig. 1); ferner das Gartenlöwenmaul (An— tirrhinum majus), — elfenbeinfarbene mit rotblühenden geben roſa— blühende mit gleicher Aufſpaltung. Braunrote mit weißen Rindern geben hellrote Kälber ufſw. — Die Miſchung braucht aber keine gleich— förmige zu ſein, ſondern der Baſtard kann die elterlichen Merkmale in lokal begrenzter Abwechſlung rein zur Schau tragen („Partikuläre Vererbung“): Schwarz mal Weiß gleich Schwarz-Weiß-Scheckig. Der Kartoffelblattkäfer Leptinotarsa multitaeniata (Grundfarbe von Flügeldecken und Halsſchild weißlich) erzeugt mit feiner var. rubicunda (Flügeldecken und Halsſchild rötlich) Blendlinge mit rötlichem Hals—
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ſchild und weißlichen Flügeldecken; deren Inzucht erzeugt ¼ typiſche multitaeniata, ?/, geſcheckte Blendlinge und ¼ var. rubicunda an Enkel— käfern. Gewiſſe Bohnenraſſen mit einfarbiger Samenſchale erzielen Nachkommen mit zweifarbiger Samenſchale. Die Scheckung iſt hier eine räumliche, ſo daß beide Merkmale gleichzeitig zu ſehen ſind; bei Kreuzung einer braunvioletten mit einer gelben Gartenſchirkelſchnecke (Lang) iſt ſie eine zeitliche: die erſten Windungen des Baſtardgehäuſes ſind gelb, die letzte (größte) Windung wird braunviolett. Was wir hier „zeitliche Scheckung“ nennen, erklärt uns die häufige Erſcheinung, wobei ein Kind zuerſt frappant dem Vater, dann zunehmend der Mutter ähnlich iſt oder umgekehrt; der Wechſel kann auch ein mehrmaliger und unentſchiedener ſein.
Miſchung oder Scheckung bekommen wir, wenn die helle Farbe — und erſcheine ſie als reines Weiß — immerhin Farbe iſt, d. h. durch einen beſonderen, wenn auch nur ſpärlichen oder ſehr lichten Farbſtoff vertreten war. Weiß erſcheint uns aber auch, was keinerlei Farbſtoff enthält, alſo Körper oder Teile davon, die farblos ſind. Man ver— gegenwärtige ſich das Aufeinanderlegen zweier Glasplatten: die eine blau, die andere milchweiß oder hellgelb, — die blaue wird getrübt oder ins Grünliche verfärbt. Legt man aber die blaue über eine durchſichtige Fenſterſcheibe, ſo bleibt ſie blau wie zuvor. So ergeht es auch bei tieriſchen und pflanzlichen Farbſtoffen, wenn ſie in Raſſenmiſchung mit Mangel an Farbſtoffen („Albinismus“) zuſammentreffen: Farbloſig— keit beruht wohl hier auf Fehlen der entſprechenden Anlage in den Chromoſomen der weißen Raſſe. Das klaſſiſche, von Mendel ſelbſt gefundene Beiſpiel iſt die Kreuzung zweier Erbſenraſſen, einer rot- und einer reinweiß blühenden: die Baſtarde ſind alleſamt nicht vom Eltern— exemplar mit dem poſitiv vorhandenen Merkmal zu unterſcheiden, blühen alſo tiefrot. In der nächſten Generation (die man bei manchen Pflanzen durch Selbſtbeſtäubung, alſo der vollkommenſten, reinſte Reſultate liefern— den Inzucht, gewinnen kann) ſind hinwiederum die reinraſſig-poſitiven Enkel nicht von den Miſchlingen auseinanderzuhalten: nämlich ¼ der Enkel blüht ſatt rot, weil die Entmiſchung eingetreten iſt, / blühen rot, weil ſie eben Miſchlinge mit vollſtändiger Deckung („Dominanz“) des negativen Merkmals ſind; und das reſtliche Viertel blüht weiß. Statt dreier wohlunterſchiedener Formen im Verhältnis 1:2: 1 find nur zwei zu ſehen im Verhältnis 3: 1. Aber das reinraſſig-rote Enkel— viertel erzeugt ausſchließlich rein-rote Arenkel; die beiden gemiſchtraſſig— roten Enkelviertel ſpalten wieder in / rote und / weiße auf; in ihrem erblichen Benehmen ſind ſie alſo trotzdem zu unterſcheiden, und die Ver— ſchiebung des Zahlenverhältniſſes iſt nur eine ſcheinbare.
In dieſem zuletzt beſprochenen Beiſpiel dominiert demnach An— weſenheit eines Merkmals — es braucht durchaus nicht immer „Farbe“ zu ſein — über feine Abweſenheit („Alternative Vererbung ). Das anweſende Merkmal heißt demzufolge dominant (oder, wenn auch nicht ſtreng gleichbedeutend, „epiſtatiſch“), das abweſende rezeſſiv (oder
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„hypoſtatiſch“). Die alternative oder ausſchließende Vererbung umfaßt den einfachſten und zugleich recht häufigen Fall der Mendelſchen Regel, wofür folgende weitere Belege gegeben ſeien (vgl. auch S. 270, Abb. 74): 1. Farbe: rotblühendes Gartenlöwenmaul mit ſchneeweiß blühendem (iſt beſonders lehrreich, weil rotes mit gelblichweißem, wie vorhin er— wähnt, nach der gemiſchten Vererbung geht), — Rot dominiert über Weiß; graue Hausmaus mit weißer, — Grau dominant über Weiß; ſchwarzes Meerſchweinchen mit ſeinem Albino, — Schwarz dominant über Weiß. 2. Form: wieder das Meerſchweinchen, — roſettenartig geſtellte Haare dominieren über glattgeſtrichene; Hund, — krumme Dachs— beine dominant über gerade; Kanarienvogel, — Kopfhaube dominiert über glatten Kopf; Brenneſſel, — geſägter Blattrand dominant über ganzrandigen; Lichtnelke und Levkoje, — behaarte Blätter über nackte; Kohl, — krauſe Blätter über glatte; Stechapfel, — ſtachelige Früchte über ungeſtachelte; Erbſe und Mais, — pralle Samenſchalen über runzelige. 3. Größen: Linſe und Erbſe, — hoher Wuchs über Zwerg— wuchs; Nachtkerze, — langer Griffel über kurzen. 4. Funktionen: Haushuhn, — hohe Eierproduktion über geringe; Pferd, — Trabgang über Paßgang; Bilſenkraut, — Zweijährigkeit über Einjährigkeit. 5. Krankheiten: Weizen, — Empfänglichkeit für Getreideroſt dominant über Giftfeſtigkeit; Löwenmaul und Pelargonie, — Chlorophyllgehalt über Mangel an Chlorophyll (nicht lebensfähige „Aurea-Varietäten“); Menſch, — Farbenblindheit und Taubſtummheit meiſt rezeſſiv gegen— über dem geſunden Zuſtand. 6. Chemiſche Zuſammenſetzung: Mais, — hoher Waſſer- und Stärkegehalt der Körner dominant über niedrigen.
Die Regelmäßigkeit, womit das anweſende Merkmal über ſeine Abweſenheit dominiert, hat Bateſon zur „Presence-absence- Theorie“ ausgebaut. In folgenden Fällen ſtimmt ſie aber ſcheinbar nicht: niedriger Eiweiß-, Fett-, Aſche- und Rohrzuckergehalt iſt beim Mais dominant über hohen; kurze Haare ſind bei Hund und Meer— ſchweinchen dominant über lange; Einfarbigkeit dominiert über Streifen— zeichnung bei Langs Kreuzung der einfarbig gelben mit der ſchwarz— gebänderten Gartenſchnecke, u. a. m. — Bleiben wir bei letztgenanntem Beiſpiel, ſo fehlt vermutlich im Chromoſomenbeſitz der einfarbigen Schnecke nicht einfach die Anlage für Bänderung, ſondern dem Chromo— ſom für Bänderung in der geſtreiften Raſſe entſpricht ein Chromoſom in der ungeſtreiften Raſſe, welches einen die Zeichnungsentwicklung hemmenden Stoff enthält. Man dürfte dann nicht ſagen: Bänder— loſigkeit dominiert über Bänderung; ſondern der Hemmungsfaktor, welcher das Auftreten der Bänderzeichnung vereitelt, dominiert über die Abweſenheit dieſes ſelben Hemmungsfaktors. Bevor genauere Anterſuchungen fehlen, klingt die Auslegung etwas gekünſtelt, und man wird beſſer tun, einſtweilen auf Ableitung einer beſtimmten, allezeit gültigen Dominanzregel zu verzichten.
Es wird ſich empfehlen, jetzt, nachdem wir die Hauptſchemen der Vererbung angeborener Eigenſchaften in der Baſtardzüchtung kennen 258
gelernt haben, die Mendelſchen Regeln behufs Feſtigung des Ver— ſtändniſſes nochmals ſozuſagen algebraiſch abzuleiten: wir ſtehen vor der Aufgabe, zwei Raſſen miteinander zu kreuzen, und lenken unſere Auf— merkſamkeit auf ein beſtimmtes Merkmal, das unter anderen bei unſerem Pärchen verſchieden iſt. Wir bezeichnen die Anlage der betreffenden Eigenſchaft des Vaters (oder der Mutter) mit A, die entſprechende, hiervon abweichende Anlage der Mutter (oder des Vaters) mit a. Alle Kinder find unvermeidlich aus Aa oder aA zuſammengeſetzt; die nächſte Generation beweiſt, daß dieſe beiden, vorläufig vereinigten Eigenſchafts— anlagen ſich bei einem Teil der Enkel wieder zu trennen vermochten. Sie ſind alſo nicht, wie man früher glaubte, eine unlösbare Vermengung eingegangen, ſondern haben ſich, wie es bei ihrer Gebundenheit an be— ſtimmte Kernelemente nicht gut anders ſein kann, ohne gegenſeitige Be— einfluſſung nur aneinandergelegt. Sie können ſich wieder ſeparieren, folglich auch in beliebiger Kombination neuerdings zuſammenfinden: laut Wahrſcheinlichkeitsrechnung find für die möglichen Paarungen AA, Aa, aA, aa gleiche Chancen vorhanden. Da haben wir bereits das verlangte Verhältnis von einem reinraſſigen Enkel mit dem Merkmal A (in ſeinen Zellen durch zwei Chromoſomen AA vertreten), einem rein— raſſigen Enkel mit dem Merkmal a (in feinen Zellen durch zwei Chromo— ſomen aa vertreten) und zwei gemiſchtraſſigen Enkeln mit beiden Merkmalsanlagen (die repräſentativen beiden Chromoſomen A und a ſind verſchieden veranlagt). Der von uns an zweiter Stelle betrachtete Fall völliger Dominanz unterſchied ſich von den übrigen nur dadurch, daß überall, wo A (wenn dies die Anlage fürs poſitive Merkmal ſei) dabei iſt, nur A ſichtbar wird, weil es a (die Anlage fürs negative Merkmal) bis zur Unkenntlichkeit verdeckt.
Sehen wir zu, was herauskommt, wenn wir einen Baſtard mit einem reinraſſigen Exemplar rückkreuzen: Aa mit aa oder Aa mit AA. Nehmen wir nur erſteres an; es handle ſich alſo z. B. um Kreuzung eines Farbbaſtards, der die dominante Farbe allein oder mit der anderen in Miſchung oder Scheckung trägt, und des reinraſſigen weißen Individuums. Dann lauten alle möglichen Anlagenkombinationen Aa, aA, aa, aa: und da fie bei gleicher Chance ungefähr gleich oft realiſiert werden müſſen, ſo bekommen wir in beliebig vielen aufeinander— folgenden Generationen — ſo oft nämlich dieſelbe Kreuzung wiederholt wird — immer annähernd ebenſo viele Miſchlinge wie Reinraſſige. Doch dies Seitenſchema kennen wir ſchon (S. 191): in der Form Wm >< mm oder MW = ww lernten wir es als Schema kennen, nach welchem ſich höchſtwahrſcheinlich die Vererbung des Geſchlechtes vollzieht. Dort ſahen wir auch ſchon (S. 195, Abb. 48, und S. 196, Abb. 49), daß ſich ein Männchen Mw oder ein Weibchen Wm vom jeweils anderen Ge— ſchlechte anlagengemäß dadurch unterſcheidet, daß es zweierlei Keim— zellen in gleicher Menge hervorbringt: je nachdem 50% weibchen— erzeugende und 50% männchenerzeugende Samenfäden oder ebenſolche Eier. Wir nannten es deshalb das „digametiſche“ Geſchlecht; das andere,
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weil's nur einerlei Keimzellen hervorbringt, hieß das „monogametiſche“ Geſchlecht. Wir dürfen dieſe Bezeichnungen jetzt ruhig mit den für Naſſenkreuzungen üblichen identifizieren: indem wir das Geſchlecht als Raſſenmerkmal auffaſſen oder doch berechtigterweiſe damit vergleichen, wäre Mw und Wm das heterozygotiſche Geſchlecht oder der Geſchlechts— baſtard, mm oder ww das homozygotiſche oder reinraſſige Geſchlecht. Der Ausdruck „mono-“ und „digametiſch“ betont die Gleichartigkeit bzw. Angleichartigkeit der von einem Lebeweſen hervorgebrachten Keim— zellen (Gameten); der Ausdruck „homo-“ und „heterozygotiſch“ legt den Ton darauf, daß ein Lebeweſen, deſſen befruchteter Keim (Zygote) aus Verſchmelzung gleich- bzw. ungleichartiger Keimzellen hervorgegangen iſt, dementſprechend in jeder Zelle gleich- oder ungleichartige Chromo— ſomen birgt.
Wir ſetzten bis jetzt voraus, daß die von uns gezüchteten Pärchen ſich nur in einer Eigenſchaft (ſogenanntes mendelndes Merkmalspaar oder „Allelomorph“) unterſchieden; daß alſo nur eines von den Chromoſomenpaaren, die in der den Baſtard liefernden Stammzelle zu— ſammenkommen, verſchiedenwertig ſei („Monohybriden“); dieſe Vorausſetzung iſt natürlich rein theoretiſch, bedeutet praktiſch nichts anderes als das willkürliche Herausgreifen eines ſolchen Eigenſchaftspaares aus vielen anderen, die ebenfalls nicht übereinſtimmen („Polyhybriden“). Denn es laſſen ſich wohl keine zwei Exemplare irgendeiner Tier- oder Pflanzenraſſe — und ſeien fie nächſte Blutsverwandte — denken, die nicht in weit mehr als einer Beziehung der Farbe, Form, Funktion, in ſonſtigen körperlichen und pſychiſchen Kennzeichen voneinander abweichen. All dieſe elementaren Eigenheiten oder Erbeinheiten vererben ſich unter normalen Verhältniſſen ſelbſtändig und voneinander unabhängig; jede kann ſich mit jeder anderen im ſelben Individuum vereinigen, aber jede kann ſich auch auf ein anderes Individuum verteilen. Betrachten wir hierzu noch je ein zoologiſches und botaniſches Beiſpiel für Dihybriden (Baſtarde, die ſich in zwei Merkmalspaaren unterſcheiden), und zwar der Einfachheit wegen ſolche mit kompletter Dominanz.
Lang kreuzte die gelbe, ungebänderte Form der Hainſchnirkelſchnecke mit der roten, gebänderten Raſſe. Rot iſt dominant über Gelb, Bänder— loſigkeit über Bänderung: die Kindergeneration iſt durchweg einfarbig rot. Jeder von dieſen Miſchlingen bildet vier Sorten von reinraſſigen Keimzellen in durchſchnittlich gleicher Zahl: / rote gebänderte (d. h. mit den Anlagen für „Not“ und „Gebändert“), ½ rote ungebänderte, '/, gelbe gebänderte, / gelbe ungebänderte. Bei der Befruchtung entſtehen 16 verfchiedene Stammzellenkombinationen von beiläufig gleicher Frequenz; infolge totaler Dominanz von Rot über Gelb, Einfarbigkeit über Zeichnung laſſen ſich aber äußerlich nur vier Formen unterſcheiden, und zwar unter je 16 Schnecken neun rote ungebänderte, drei rote ge— bänderte, drei gelbe ungebänderte und eine gelbe gebänderte Schnecke. Nur die letzte iſt ſo reinraſſig, daß ſie bei Inzucht mit ihresgleichen fortan lauter gelbe und gebänderte Hainſchnecken liefern würde; alle 260
übrigen find Heterozygoten, die bei ihrer Weiterzucht in zwei bis vier Typen aufſpalten würden. — Correns kreuzte blaukörnigen, runzeligen Mais mit weißkörnigem, glatten (Taf. II, Fig. 2). Die erſte Nach— kommengeneration trägt, da Glatt über Runzelig und Blau über Weiß dominant iſt, Fruchtkolben mit lauter blau-glatten Körnern. Die zweite Nachkommengeneration trägt Fruchtkolben, auf denen von 16 Körnern immer neun blausglatt, drei blausrunzelig, drei gelb-glatt und eines gelb— runzelig iſt; beſonders inſtruktiv iſt hier die Verteilung der vier Körner— typen auf ein und demſelben Fruchtkolben. — In dieſen beiden Bei— ſpielen war jede der gekreuzten Raſſen im Beſitz je eines dominanten und rezeſſiven Merkmals; damit wir ſehen, daß es keinen Anterſchied macht, beſchreiben wir noch einen Fall, wo die eine Raſſe im Beſitze beider dominanter, die andere im Beſitze beider rezeſſiver Merkmale iſt; Mendel kreuzte eine Erbſenraſſe, deren Samen kantig ſind und grünes Eiweiß haben, mit einer anderen, deren Sameneiweiß gelb und deren Samenform rund iſt. Die Miſchlinge reifen Samen von runder Form mit gelbem Eiweiß. „Aus 15 ſolcher Samen wurden die Pflanzen gezogen; die nächſte Generation, alſo die entſtehenden Samen, boten folgende Kombinationen: von den 556 Samen waren 315 rund mit gelbem Eiweiß, 101 kantig mit gelbem Eiweiß, 108 rund mit grünem Eiweiß und 32 kantig mit grünem Eiweiß.“ Alſo auch hier recht genau das theoretiſch zu erwartende Verhältnis von 9:3:3: 1; es iſt noch zu beachten, zu welchem Aberblick wir kommen, wenn wir in dieſen komplexeren Beiſpielen bloß eines von den Merkmalspaaren heraus— greifen. Wie verhalten ſich im letzten Exempel bei der Enkelgeneration die runden zu den kantigen Samen? Oder im vorigen die glatten zu den runzeligen Körnern? Im vorvorigen die roten zu den gelben Schnecken? Allemal wie 12:4 oder gekürzt wieder wie 3:1. And dasſelbe gilt für das zweite Merkmalspaar.
Man ließ ſich die Mühe nicht verdrießen, auch drei und mehr allelomorphe Eigenſchaftspaare in der Kreuzung zu verfolgen: bei Tri— hybriden (drei Merkmalspaare) gibt es in der Enkelgeneration ſchon 64 verſchiedene Kombinationen im Verhältnis von 27:9:9:9:3:3:3:1: Bei Heptahybriden (ſieben Merkmalspaare) 16348 Kombinationen, die ſelbſt bei vollſtändiger Dominanz in 128 verſchiedenen Formen auf— treten, worunter nur eine einzige, die ohne Aufſpaltungen reinraſſig weiterzüchtet.
Der Leſer mag hier fragen, wie es kommt, daß zur Erforſchung der Vererbung angeborener Eigenſchaften immer mit Raſſenkreuzungen gearbeitet wird: warum ſtets Baſtardzucht zweier Raffen, warum nicht Reinzucht derſelben Raſſe? Die Antwort lautet: bei Rein— zucht ſehen wir nichts, als daß die beobachtete Eigenſchaft bei ſämtlichen Nachkommen die gleiche bleibt; daraus läßt ſich keine Geſetzmäßigkeit ableiten. Zur Erlangung beſſerer Aufſchlüſſe bedürfen wir zweier Eigen— ſchaften, die ſich bei unſeren Zuchtobjekten deutlich voneinander abheben; erſt aus ihrem gegenſeitigen Verhalten, wie wir es beſchrieben, werden
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die Wege der Vererbung offenbar. Solch diſtinkte Eigenſchaften treffen wir vorzugsweiſe bei verſchiedenen, doch nahverwandten Raſſen: das ideale Material wären Raſſen, die ſich nur in einem oder wenigen Merkmalspaaren unterſchieden, während alles übrige ſtreng gleichartig wäre; wie betont, gibt es zwar völlige Gleichheit der im Zuchtverlaufe unberückſichtigten Zeile nicht, aber bei naheſtehenden Raſſen find die Verſchiedenheiten doch ſo gering, daß wir ſie vernachläſſigen und die Raſſen theoretiſch als übereinſtimmend anſehen dürfen bis auf das ge— wählte markante Abzeichen, wovon im Vorhergehenden viele Beiſpiele zur Kenntnis gebracht wurden. Deswegen glaube man aber ja nicht, daß unſcheinbare Divergenzen, wie ſie ſich bei Individuen derſelben Raſſe, ja ſogar bei Geſchwiſtern reinſter Raſſe vorfinden, nach anderen Grundſätzen vererbt werden: daß ſie die Klarheit des Bildes nicht ſtören, — darauf kam es den Erforſchern der Vererbungsgeſetze an; war aber Klarheit einmal geſchaffen, ſo konnte man die Feſtſtellung nachholen, daß die geringfügigſten individuellen Züge ſich als mendelnde Erbeinheiten benehmen. Mit je einem zoologiſchen und botaniſchen Beiſpiel belegen wir jenes Faktum, woran man außerdem ſieht, wie leicht ſolch minimale, beſonders gradweiſe Abſtufungen geeignet waren, Verwirrung zu ſtiften.
Nilſſon-Ehle kreuzte zwei Weizenraſſen mit roten und mit weißen Körnern; die der erſten Miſchlingsgeneration find hellrot, die der zweiten zeigen alle möglichen Abſtufungen des Not, und unter je 64 Körnern befindet ſich nur ein weißes. Da man erwarten durfte, daß die Enkel— generation nur dreimal ſo viel rote wie weiße Körner enthalten werde, und zwar dunkel- zu hellroten zu weißen im Verhältnis von 1:2: 1, — ſo ſchien die Mendelſche Regel hier eine Ausnahme zu erleiden. Ge— nauere Analyſe ergab aber, daß man nicht, wie zu vermuten war, mit einem, ſondern mit drei Merkmalspaaren gearbeitet hatte: nämlich mit drei unabhängigen Anlagen für Dunkelrot, Mittelrot und Hellrot, deren jede zur Abweſenheit des Rot, d. i. Weiß, ein richtiges Allelomorph bildet. — Beim pflanzlichen Organismus, der ſo viele Sämlinge zeitigt, konnte jener Nachweis, das „Nilſſon-Ehleſche Prinzip“, ohne weiteres gelingen. Damit die empiriſch gefundenen Ziffern mit den theoretiſchen einigermaßen übereinſtimmen, iſt eben ſtets eine größere Menge von Nachkommen erforderlich: unmöglich kann ſich die Mendelſche Regel auf die zufällig gerade geborenen Exemplare beziehen, ſondern ſelbſtredend auf die Geſamtheit vorhandener Keimzellen; je zahlreichere von ihnen zur Erzeugung junger Individuen aufgeboten werden, deſto größer die Wahrſcheinlichkeit, daß Mendelſche Zahlenverhältniſſe heraus— kommen. Im Pflanzenreich iſt dieſe Forderung viel leichter erfüllbar als im Tierreich; was hilft es, wenn etwa eine von fremdem Hengſt belegte Stute nur drei Fohlen wirft, worin nicht einmal das einfachſte Häufigkeitsverhältnis (3:1) zum Ausdruck gelangen könnte; abgeſehen davon, daß ſelbſt bei dem hierzu notwendigen Minimum von vier Jungen die Wahrſcheinlichkeit nicht größer als / der Fälle wäre, daß gerade die ſeltenſte Kombination (das Rezeſſiv) ſich bereits darunter befände. 262
Müſſen wir ſchon von den Monohybriden eine größere als dieſe Minimal— menge, ſagen wir etwa ein Dutzend Nachkommen, beanſpruchen, damit regel— recht auf drei Dominante ein Rezeſſiv entfällt, jo wächſt das Erfordernis bei Polyhybriden in einer Weiſe, die von Tieren — und beſäßen ſie die ſprichwörtliche Fruchtbarkeit des Kaninchens — ſchwer zu erfüllen wäre; zwar ſehen wir in mendeliſtiſchen Züchtungen meiſt Tiere mit ſtarker Vermehrung, wie Ratten, Mäuſe, Meerſchweinchen, Kaninchen, Hühner u. dgl., verwendet; immer jedoch beſteht Gefahr, daß namentlich die ſelteneren Kombinationen, obſchon im Keimzellenvorrat in richtigem Prozentſatze vorhanden, ungeboren bleiben.
Das gilt denn auch für eine durch Caſtle bekannte Kaninchen— züchtung, die wahrſcheinlich durch das Nilſſon-Ehleſche Prinzip ihre befriedigende Aufklärung findet, anfangs jedoch als Ausnahme von der Mendelſchen Regel daſtand. Die Kreuzungsprodukte aus lang- und kurzohrigen Kaninchenraſſen haben nämlich durchweg halblange Ohren, gehorchen alſo der intermediären Vererbung; die Enkel aber ſcheiden ſich nicht in lang-, halblang- und kurzohrige, ſondern tragen ebenfalls mittellange Ohren, ebenſo alle Llrenfel uſw. Analog verläuft die Vererbungsweiſe der Mulatten, der grauen Miſchlinge aus ſchwarzer und weißer Menſchenraſſe, und der meiſten Baſtarde zwiſchen ver— ſchiedenen Arten und Gattungen der Tiere und Pflanzen, — nur unter Raſſen alſo ſtellt ſie die Ausnahme dar. Die mendeliſtiſche Er— klärung dieſer Fälle wird nun dadurch ermöglicht, daß die im übrigen konſtant zwiſchenſtehenden Baſtarde untereinander eine abgeſtufte Varia— bilität zeigen. So haben die Kaninchenblendlinge mit mittellangen Ohren nicht auch durchweg gleichlange Ohren, ſondern die einen etwas längere, die anderen etwas kürzere, — ohne Länge und Kürze der rein— raſſigen Ausgangsformen zu erreichen. Wenn nun, in Analogie mit der Kreuzung rot- und weißkörniger Weizenraſſen, nicht Kurzohr und Langohr Elementareigenſchaften darſtellen, ſondern Kurzohr, längeres Ohr, noch längeres Ohr, längſtes Ohr: dann hätten wir keine Mono-, ſondern Trihybriden vor uns, die von der Enkelgeneration in kom— plizierten prozentualen Werten aufgeſpalten werden müßten. Sogar in ſo vielköpfigen Geburten, wie ſie das Kaninchen liefert, könnten dann die extremeren Anlagenzuſammenſetzungen ſehr wohl ungeboren bleiben, — von Mulatten und Artbaſtarden, deren Fruchtbarkeit ohnehin eine herabgeſetzte zu ſein, bei Tieren ſogar meiſt nicht bis zur Erzeugung einer lebensfähigen Enkelgeneration zu führen pflegt, ganz zu ſchweigen.
Vom aufmerkſamen Leſer erwarte ich eine weitere Frage: Warum wird bei Mendelzüchtungen ſtets Inzeſt getrieben? Warum verwendet man nicht andere Familien gleicher Raſſe zur Weiterzucht? Warum züchtet man pärchenweiſe und beläßt nicht ſämtliche Nachkommen gleicher Abſtammung beiſammen? Dieſe „Ramſchzucht“ war viel— fach die Methode der Züchter vor Entdeckung der Mendelſchen Regel; zudem glaubte man, den ſchädlichen Folgen der Inzucht zeitweiſe durch Zuführung friſchen Blutes begegnen zu müſſen, während man heute
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weiß, daß geſunde Naffen zu wiſſenſchaftlichen Zwecken in genügend vielen Generationen ingezogen werden dürfen, ohne daß Abnahme der Fruchtbarkeit und andere Degenerationserſcheinungen ſich ſogleich in fühlbarem Maße häufen. — Daß aber ohne pärchenweiſe Familien— züchtung die Mendelſchen Regeln nicht aufgefunden worden wären, be— lege ich am beſten gleich mit einem Exempel.
Mac Cracken kreuzte bei Blattkäfern ſchwarze mit hellen Exemplaren (Taf. III, Fig. 1ba): meiſt find erſtere dominant (D), und wenn alle Nachkommen im ſelben Zuchtkäfig bleiben, ſo daß ſie ſich beliebig paaren, jo find nach wenig Generationen keine Rezeſſiven (R) mehr zu ſehen, ſondern der ganze Beſtand beſteht aus dominanten, alſo ſchwarzen Käfern. Mac Cracken ſchloß daraus auf eine von Generation zu Generation verſtärkte Dominanz. Przibram beſtätigte zunächſt das tat— ſächliche Ergebnis durch Rattenkreuzungen und erklärt es dann folgender— maßen. Es gelangen bei ſolcher Kulturart, wenn man die reinen RR entfernt, neben den DR und RD in der Enkelgeneration auch die DD- Exemplare mit dieſen zur Kopulation, und die Kombinationen dieſer drei Formen ergeben neben vier DD, zwei DR und zwei RD bloß ein RR, alſo bei der äußerlichen Gleichheit der erſten drei Kategorien 8 D: IR. Die Arenkelgeneration weiſt alſo das Verhältnis von SD: IR, die Arur— enkelgeneration von 15D: 1 R auf ufw., die nte Generation das Ver— hältnis von (ne — 1) D: IR. Einer derartigen künſtlichen Ramſchkultur gleichen nun aber die Paarungsbedingungen der freien Natur, wo die ab— weichend und meiſt auffälliger, heller gefärbten Rezeſſive von Feinden vernichtet, nicht ſelten von ihren Artgenoſſen ausgeſtoßen und getötet werden: die erzeptionelle Seltenheit gewiſſer Rezeſſive, wie z. B. der weißen Mäuſe, des ſprichwörtlichen „weißen Raben“ und in der Poeſie als Traumphantasma verewigten „weißen Hirſches“, findet jo ihre Erklärung, während dieſelben Rezeſſive, Albinos oder ſonſtige erbliche Abnormitäten ſelbſtredend durch wählende Inzucht der Domeſtikation augenblicks in größeren Mengen gewonnen werden können.
Anter den vielen Verſchleierungen, hinter denen ſich doch immer nur die einfachen Mendelſchen Gruppierungen verbergen, iſt noch die „Kryptomerie“ (E. v. Tſchermak) oder der „Kreuzungsatavismus“ erwähnenswert. Schon Darwin legt Gewicht auf die Tatſache, daß Miſchprodukte gewiſſer extrem verſchiedener Taubenraſſen, z. B. der ſchwarzen Barb- und weißen Pfauentaube, das blaugraue, ſchillernde, auf den Flügeln doppelt quergebänderte Federkleid der wilden Felſen— taube tragen, von der alle Haustauben abſtammen. Beſonders frap— pierend wirkt dieſer Anblick, wenn zwei derartige Raſſen, die beide ein ſchneeig weißes Gefieder haben und bei Reinzucht in allen Nachkommen auch behalten, bei Baſtardzucht zur vielfarbigen Ahnenform zurück— ſchlagen, wie dies durch Bateſon und Punnett vom weißen Seiden— huhn in ſeiner Kreuzung mit weißen Hühnern anderer Raſſen feſt— geſtellt wurde. Gleiches bietet die Kreuzung beſtimmter weißblühender, für ſich allein ſamenbeſtändiger Sorten der „ſpaniſchen Wicke“ (La—
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thyrus odoratus — Taf. II, Fig. 3): ihre Miſchſämlinge blühen pur— purn wie die wilde ſizilianiſche Stammpflanze, die Enkelſämlinge purpurn, rot und weiß im Verhältnis von 27:9: 28. Dies läßt auf 64 Roms binationen eines Trihybriden ſchließen, deſſen gewohnte Aufſpaltung 27:9 9:9:3:3:3: 1 irgendwie verdeckt ſein muß. Die von VBateſon und Miß Saunders gefundene, mit nebenſächlichen Abänderungen für alle derartigen Kreuzungsrückſchläge gültige Erklärung lautet dahin, daß jede Sorte Farbkomponenten enthält, die an ſich farblos bleiben und nur, wenn mit der anderen Sorte vermengt, die Farbenreaktionen hervor— rufen, — etwa ſo (um einen von Lang gebrauchten Vergleich zu wieder— holen), wie farbloſe Kaliumjodidlöſung mit farbloſer konzentrierter Sub— limatlöſung einen roten Queckſilberjodidniederſchlag ergibt. Wir hätten in unſerer Wickenkreuzung drei Merkmalspaare: Fähigkeit zur Bildung eines roten Farbſtoffes — Fehlen dieſer Fähigkeit; Fähigkeit zur Bil— dung eines Rot in Purpur ſättigenden Farbſtoffes — Fehlen derſelben; Bildung eines die Farbreaktion auslöſenden Enzyms — deſſen Fehlen. Daß unter je 64 Wicken 28 weiß blühen, verſteht man unter der Vor— ausſetzung, daß in je einer der ſonſt verſchieden ausſehenden Gruppen das Enzym vorhanden iſt, aber der rote und der Sättigungsfaktor fehlen; oder der rote Faktor vorhanden, aber nicht das Enzym zu ſeiner Sichtbarmachung; oder der Sättigungsfaktor, aber ebenfalls ohne das Enzym uſw., und im Reſt keine dieſer Anlagen. Damit iſt die uns gewöhnliche Aufſpaltung auf ihre Norm zurückgeführt.
Es geht daraus hervor, daß äußerlich gleiche Rezeſſive (in unſerem Falle Albinos) keineswegs gleichwertig ſind: obwohl ſie unter— einander niemals einen Nachkommen erzeugen, der nicht abermals ein reines Rezeſſiv iſt, tragen ſie Spuren ihrer Abſtammung in ſich, die ſie bei Kreuzung mit anderen Raſſen zur Geltung bringen. Mit ſolchen „kryptomeren“ Erſcheinungen hängt es zuſammen, daß z. B. eine weiße Ratte, die als Rezeſſiv aus einer Kreuzung von Albino— und wildfarbener grauer Ratte hervorging, wenn ihrerſeits mit einer grauen Ratte gepaart, unter 16 Enkeln 12 graue und 4 weiße liefert, — alſo die einfachſte Mendel-Spaltung von 3:1; entſtammte aber die weiße Ratte als Rezeſſiv einer Kreuzung von Albino- und ſchwarzer Nigrinoratte, ſo befinden ſich unter je 16 ihrer Enkel nur 9 graue und 4 weiße, die übrigen 3 find ſchwarz. Die vier weißen ſind in erblicher Beziehung abermals ungleichwertig: aus Wiederholung ihrer Anpaarung mit grauen Ratten geht hervor, daß drei nochmals die Spaltung in graue, ſchwarze und weiße wie 9:3: 4 ergeben und nur die letzte als einziger wirklich reiner Albino die monohybride Spal— tung von Grau und Weiß wie 3:1.
Anſer Wiſſen über Vererbung angeborener Eigenſchaften läßt ſich nach alle dem mit dem Satz beſchließen, daß in dieſem Bereiche die Mendelſche Regel mehr iſt als bloße Regel: ihre Anwendbarkeit auf ſämtliche erblich feſtſitzende Raſſeneigenſchaften, wo immer wir in die mitſpielenden Elementareigenſchaften richtigen Einblick haben, ſtempelt
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fie hier zum ausnahmsfreien Vererbungsgeſetz. — Das erſte Beiſpiel, woraus wir es ableiteten, betraf eine Kreuzung ſchwarzer und weißer Hühner, deren unmittelbare Nachkommen, die ſogenannten „Andaluſier“, blaugrau ausſehen: dieſe Farbe iſt ein Novum, — ſie erſcheint dem— jenigen, der ſolche Kreuzungen noch nie geſehen hat, als neues Merk— mal. So ſteht es in allen Fällen intermediärer Vererbung; aber auch bei alternativer Vererbung gibt es ſo etwas, ſobald zwei Merkmals— paare in Aktion treten: die blauen, glatten Maiskörner, die aus Kreu— zung weiß⸗glatter und blau-gerunzelter hervorgingen; ebenſo das weiß— runzelige Maiskorn, welches unter je 16 Enkelkörnern derſelben Kreuzung auftritt, erſcheinen uns als „Neuigkeiten“.
Jedoch wir wiſſen genau, daß es ſich nur um neue Kombina— tionen, Aufbau und Abbau uralter, gleichgebliebener Erbeinheiten („Gene“, „Faktoren“) handelt, um bloß ſcheinbar neue Eigenſchaften, nicht um wirkliche Neuerwerbungen. Die Vertreter der extrem mende— liſtiſchen Richtung glauben nun allerdings, daß es Novitäten der letzt— genannten Art überhaupt nicht gibt; denn wennſchon ein Individuum im Laufe ſeines Lebens etwas bis dahin noch nicht Dageweſenes an— nimmt, ſo ſterbe es mit dem Ende ſeines Lebens, gehe aber nicht in den Beſitz der Generationen über. Die geſamte Vielgeſtaltigkeit der Lebewesen ſei daher aus dem von freier Miſchungs- und Trennungs— fähigkeit beherrſchten Würfelſpiel verhältnismäßig weniger Grundanlagen abzuleiten. — Dieſe Behauptung bedeutet den Verzicht auf die Lehre, wonach alle Tiere und Pflanzen ſich aus einander und letztlich aus Ar— weſen entwickelt haben: bis in den Beginn des 19. Jahrhunderts glaubten die Naturforſcher, die tieriſche und pflanzliche Art ſei unver— änderlich; durch Lamarck, Darwin, die übrigen Begründer und Aus— bauer der Abſtammungslehre, wurde jene Anſicht zwar endgültig wider— legt, aber die orthodoxen Mendelianer erſetzen den Glauben an die Anveränderlichkeit der Art durch den an die Anveränderlich— keit der Anlagen. Bleibt dadurch der einzelnen Art eine gewiſſe, alltäglich beobachtete Modulationsfähigkeit gewahrt, ſo reicht ſie doch nicht zur Abzweigung ganzer Familien, Klaſſen und Stämme aus ein— ander: behielte die Neu-Mendelſche Schule recht, ſo müßte die Ab— ſtammungslehre aufgegeben, der ſtolze Bau naturwiſſenſchaftlicher Ge— dankenarbeit des letztverfloſſenen Jahrhunderts zu gutem Teile eingeriſſen werden! Wir wollen ſehen, wie die Vererbungstatſachen damit in Ein— klang ſtehen.
b) Vererbung erworbener Eigenſchaften
Werden Puppen des Neſſelfalters (Taf. IV, Fig. 8a) Froſttempera— turen ausgeſetzt, ſo liefern ſie Schmetterlinge, die im Vergleich zu nor— malen düſterer gefärbt und reichlicher ſchwarz gezeichnet ſind (b, c), — die Männchen ſtärker als die Weibchen. Ein Teil der Nachkommen (d) iſt abermals verdüſtert, trotzdem ſie bei normaler Temperatur auf— gezogen wurden. Dies iſt der klaſſiſche Verſuch von Standfuß; im 266
Gegenſatz hierzu erreicht Schröder beim Stachelbeerſpanner die erbliche, auch hier am Männchen ſtärker als am Weibchen ausgeprägte Schwärzung durch heiße Aufbewahrung der von normal hellfarbigen Faltern abſtammenden Puppen. Die intereſſante Erfahrung, daß ent— gegengeſetzte Extreme derſelben äußeren Lebensbedingung, z. B. Froſt und Hitze, Näſſe und Dürre, den gleichen Abänderungseffekt erzielen, ſteht hier keineswegs vereinzelt da, — wir ſind ihr ſchon bei chemiſchen Einwirkungen der inneren Sekretion (S. 169) begegnet.
Alſo gibt es doch eine „Vererbung erworbener Eigenſchaften“? —: wurde doch eine Eigenſchaft, die bei den Zuchteremplaren, mit denen wir unſere Beobachtungen beginnen, noch nicht in dieſer Weiſe vor— handen, alſo nicht angeboren und ſelbſt ſchon vererbt war, friſch an— genommen — noch dazu künſtlich aufgezwungen — und trotzdem ohne Weiterwirkung des verurſachenden Faktors ſofort auf die nächſtfolgende Generation übertragen! Nach Weismann und ſeinen Anhängern, ſo— wie nach der Mendeliſtiſchen Schule iſt das noch lange kein Nachweis für echte Erblichkeit erworbener Eigenſchaften; denn es laſſen ſich gegen eine in dieſem Sinne gefaßte Deutung der beſchriebenen Zuchtverſuche folgende Einwände geltend machen:
1. Es handelt ſich um direkte Beeinfluſſung der Keim— zellen („Parallelinduktion“): derſelbe äußere Reiz, der in einer uns wahrnehmbaren Weiſe nur einen begrenzten Körperabſchnitt, z. B. die Flügelfärbung eines Schmetterlings, verändert, dringt durch alle Körper— ſchichten auf direktem, „elementar-energetiſchem“ Wege, ohne erſt einer vermittelnden, „erregungs-energetiſchen“ Reizleitung („ſomatiſchen In: duktion“) zu bedürfen, bis zu den Keimſtoffen vor und legt dort für die nächſte Generation potentiell dieſelbe Veränderung an, die der Reiz aktuell zugleich am Körper des jetzigen Elternexemplares durchführt. — Das bedeutet inſofern eine Ausſchließung des Vorganges aus dem Be— reiche der Vererbungserſcheinungen, als die Keimzellen darin nicht mehr als Gewebe der jetzt lebenden, ſondern bereits als jüngſte Entwicklungs— ſtufe der folgenden Generation gelten: nicht das mütterliche Organ, ſondern ſchon der kindliche Organismus iſt es, der die Eigenſchaft er— wirbt, — und ſie iſt folglich für ihn kein ererbter, ſondern ſelbſterwor— bener Beſitz.
2. Es handelt ſich um Rückſchlag (Atavismus): der Kälte— reiz im Verſuche von Standfuß hat keine neue Eigenſchaft hervor— gerufen, ſondern nur eine alte auferſtehen laſſen; die Neſſelfalter der Eiszeit ſind nämlich jedenfalls auch ſchon dunkelfarbig geweſen. Daß die Dunkelfärbung im Schröderſchen Verſuch durch Hitze entſtand, muß dem nicht widerſprechen: es iſt die gleiche Schwärzung, die das eine Mal durch Kälte, das andere Mal durch Hitze ausgelöſt werden kann, nämlich beide Male (nach Schuckmann) durch Stehenbleiben auf einer ſonſt im Puppenſtadium überholten Durchgangsſtufe, alſo Entwicklungs— hemmung. Hätte es diluviale Hitzeperioden gegeben, wie es Kälte— perioden gab, ſo wäre am Endergebnis nichts geändert worden.
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3. Es handelt ſich um Zuchtwahl (Selektion): nicht alle be— handelten Puppen ließen verdunkelte Falter auskriechen, ein Teil blieb normalfarbig. Zur Nachzucht wurden aber ſelbſtverſtändlich diejenigen herangezogen, an denen die Bemühung erfolgreich geweſen war, — kein Wunder alſo, wenn ſie ebenfalls ſchwärzliche Nachkommen hatten! Im Zuſammenhang mit dem vorigen Einwand, wonach die Schwärzung
23107 nichts Neues, überhaupt
5 keine „erworbene“ Eigen—
ſchaft ſei, iſt demnach die Zuchtwahlwirkung für das Geſamtergebnis aus— reichend. Aber müſſen nicht damals, in jener fernen Eiszeit, unſere Schmetterlinge ihre Fä— higkeit, bei jedem Bedarf ſchwarz zu werden, zum erſten Male erworben haben? — Gewiß, aber auch damals nicht durch direkte Wirkung der Kälte, ſondern durch indirekte der Zuchtwahl: da dunkle Farben die vorhandenen Wärmeſtrahlen beſſer aus: nützen, blieben immer nur jene Falter am Leben, die ein wenig dunkler waren als ihre Genoſſen, und dieſe Bevorzugung konnte ſich im Laufe vieler Gene—
(Nach Kammerer.)
ohne Gegeneinwände zu machen, die mit Rückſicht auf manche Bedenklichkeit geboten wären, namentlich mit Hinblick auf das Geſamtbedenken, daß bewieſenen und beherrſchten Vorgängen unbewieſene und unbeweisbare Vermutungen entgegengeſtellt werden. Aber ſei's drum: es gilt Belege herbei— zuſchaffen, denen gegenüber jene Einwürfe nicht Stich halten.
Der ſchwarze, gelb gezeichnete Feuerſalamander wird auf gelbem Boden (Abb. 72) zunehmend gelber, auf ſchwarzem Boden (Abb. 73) zunehmend ſchwärzer. Dieſer zuerſt von mir beobachtete Vorgang, der mit Bezug auf analoge Erfahrungen „ſympathiſchen Farbwechſels“ an Grundfiſchen (S. 311, Abb. 81), Weichtieren und Krebſen nicht über— 268
raſchen konnte, iſt von v. Friſch und Secerov, in Teilerſcheinungen auch von Becker, v. Fejérvary, Gaiſch, v. Schweizerbarth und Wiedemann mit demſelben Ergebnis nachgeprüft und ſomit ganz zweifelsfrei feſt— geſtellt; er wird nicht beeinträchtigt, wenn man auf gelben Grund ge— ſetzte Exemplare möglichſt dunkel, auf ſchwarzem Grund gepflegte mög— lichſt hell ausſucht. Die erworbene Veränderung überträgt ſich auf die Nachkommen, auch wenn 22.407 222
letztere auf unwirkſamen, ja auf entgegengeſetzt wirkſamen Böden gehal— ten werden. Starke An— häufung eines Farb— ſtoffes hat bei den Nach— kommen deſſen ſymme— triſche Aufteilung zur Folge, ſo daß die Jun— gen unregelmäßig gefleck— ter Eltern dann regel— mäßig geſtreift ausfallen. Streifenſalamander gibt es auch im Freien, — nicht in der Gegend, wo ich mein Material ſam— melte, aber in Ländern, deren geologiſche Be— ſchaffenheit auf ähnliche Wirkungen wie in meinen Verſuchen ſchließen läßt. Kreuzt man Fleckenſala— mander mit Streifenſala—
mandern aus der Natur, Abb. 73. Feuerſalamander (Salamandra maculosa), alfo einer dort ſicherlich gewähltes Junges Exemplar zu Beginn des Verſuches, ſeit ſehr alten Zeiten ferti- daneben dasſelbe Tier am 23. V. 07; 6. X. 10 einjähriger gen Raſſe, ſo zeigt ſich ein- Nachkomme des vorigen; 6. V. 14 derſelbe vier Jahre faches Mendelſches Alter⸗ (Nach Kammerer, das di e V. 14 anderweitig noch nicht nativverhalten (Abb. 74), Bie — Fleckung dominant über Streifung; kreuzt man Fleckenſalamander mit Streifenſalamandern, die eben erſt im Experiment aus erſteren ge— wonnen wurden, fo find die Baſtarde zwiſchenſtehend (reihenfleckig), und die Mendelſchen Spaltungen bleiben aus (Abb. 75). Pflanzt man Eierſtöcke gefleckter Weibchen in natur-geſtreifte, jo find die Jungen trotzdem ſtets gefleckt; ſetzt man Eierſtöcke aus gefleckten Weibchen in kunſt⸗geſtreifte, ſo ſind die Jungen eines gefleckten Vaters reihenfleckig, eines geſtreiften Vaters ununterbrochen geſtreift.
Wo bleibt hier die Zuchtwahl? Sie iſt da, aber im verkehrten Sinne: die Verſuchstiere wurden ja konträr ausgewählt; damit die
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ſchwärzeſten am gelbſten, die gelbiten am ſchwärzeſten werden konnten, mußten ſich die Einflüſſe durchkreuzen. Das taten ſie bis zu dem Grade, daß ſämtliche Exemplare, nicht wie in Schmetterlingszuchten nur ein Teil, ſtark verändert waren und ſich jede Ausleſe für weitere Genera— tionen erübrigte. — Wo bleibt die direkte Beeinfluſſung des Keim— plasmas? Secerov hat gemeſſen, daß nur / 8 der äußeren Lichtmenge zu den Keimdrüſen gelangt und dann, durch die Körperdecken ab— geblendet, entſchieden nicht in den wirkſamen Farben! Zum Aberfluß beweiſt die dem gefleckten Tiere entnommene Keimdrüſe durch ihre
Funktion im künſtlich Nadi. geſtreiften Weibchen, daß ihre Amſtimmung vom Körper aus (durch „ſo— matiſche“, nicht durch „Parallelinduktion“) er— folgt ſein muß. Da dies nur in einem Weibchen zutrifft, das die Streifung nachweislich erſt ſeit einer Generation zu tragen be— kam, während ein Weib— chen, deſſen Streifung aus der heimatlichen Na— tur übernommen iſt und dort jedenfalls ſchon ein uralt gewordenes Raſſen— merkmal darſtellt, dies— bezüglich verſagt, — ſo durfte ich daraus und aus dem übereinſtimmen— den Verhalten bei den Kreuzungen den Schluß ziehen, daß hier ein Kri— terium zur Anterſcheidung eines „alten“ und eines „wirklich neuen“ Merkmals gefunden ſei: nur letzteres iſt kraft ſei— ner friſchen „morphogenen Reize“ (S. 56) imſtande, das Keimplasma um—
Abb. 74. Feuerſalamander (Salamandra maculosa): zuwandeln; beim anderen
Kreuzung der gefleckten (forma typica) mit der geſtreiften P f € ion Naturraſſe (Varietät taeniata), Schema unter Wiedergabe gehört dieſe Indukt 0 der Zeichnung wirklich in dieſer Zucht benutzter Exem- einer fernen Vergangen—
plare. Oben Eltern-, Mitte Kinder-, unten Enkel— heit an, — ſie iſt in der generation. 2 (Rah Kammerer.) Gegenwart auch nicht
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mehr nötig, weil hier die zugehörige Anlage ohne— hin ſchon von Anno da— zumal in den Keimzellen
ſteckt. Man kann ſich den -
Prozeß vorſtellen gleich der Abſtumpfung eines uns geläufigen Reizes, etwa des Druckes bei einem ungewohnten Klei— dungsſtück, das uns immer weniger und zuletzt gar nicht mehr fühlbar iſt, je länger wir es tragen. Zwiſchen Keimplasma und neuen Eigenſchaften beſteht alſo ein Abhän— gigkeits verhältnis;
zwiſchen alten Eigen—
ſchaften, deren morpho— gene Reize ſich durch Gewöhnung längſt ab— gebraucht haben, und dem Keimplasma beſteht die von Weismann ver— langte, von den (aus— nahmslos mit feſtſitzen— den Naſſeneigenſchaften vorgenommenen) Men— del-Forfchungen erwieſene Anabhängigkeit. And wo endlich bleibt der Atavismus? Ange— nommen, die Vorfahren unſerer heutigen Feuer— ſalamander ſeien ſchwär— zer geweſen, ſo iſt ihre
vermehrte Gelbfärbung ein Neuerwerb; waren aber die Ahnen gelber, ſo iſt der Gewinn an Schwarz ein Fortſchritt. Doch hier können die Gegner der Vererbung erworbener Eigenſchaften ſich noch helfen, in— dem ſie ſagen: nicht die Eigenheit, ſchwärzer oder gelber zu ſein, wird vererbt, ſondern die Fähigkeit, je nach Bedarf ſchwarz oder gelb zu werden („transgreſſive Okologismen“ Langs, „Reaktions— norm“ Wolterecks und Baurs); dieſe Fähigkeit aber könnte ehedem (nicht in den gegenwärtigen Zuchten, wo ſie ausgeſchaltet iſt) durch Zuchtwahl entſtanden ſein. Obwohl dieſer Zuſatzeinwand durch den
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Keimdrüſenaustauſch ebenfalls entkräftet und durch den vorhin gerade erwähnten Prüfſtein zur Anterſcheidung einer ataviſtiſchen von einer friſch akquirierten Eigenſchaft überflüſſig gemacht wird, ſo wollen wir doch auch jetzt weniger mit Gegeneinwänden arbeiten als mit Gegen— tatſachen! Zuvor aber noch einige Tatſachen anführen, die zugunſten der Lehre, daß erworbene Eigenſchaften ſich nicht vererben, zu ſprechen ſchienen.
Die Züchtungen von Tower an Kartoffelblattkäfern (Leptinotarsa) wenigſtens zugunſten der Annahme, daß die Keimzellen unabhängig vom Körper direkt beeinflußt werden. Tower gelang es durch Tem— peratur- und Feuchtigfeitsertreme, Größen- und Farbenabarten ver— ſchiedener Kartoffelkäfer (Taf. III, Fig. 2) erblich zu machen, jedoch nur dann, wenn die Einflüſſe den fertigen Käfer, der ſich ſelbſt nicht mehr verändern ließ, getroffen hatten; waren durch Beeinfluſſung der Puppe veränderte Käfer gewonnen worden, ſo waren alle Abkömmlinge wieder normal. Dieſer Verſuch beweiſt das Vorhandenſein „ſenſibler Perioden“, wie wir ſie für die Möglichkeiten erfolgreicher Geſchlechts— beſtimmung (S. 189) kennen gelernt haben: der Körper des Käfers iſt eindrucksfähig, ſobald er ſozuſagen die letzte Feile an ſeine Entwicklung legt; am fertig ausgebildeten, ausgewachſenen und ausgefärbten Käfer läßt ſich nichts mehr rückgängig machen. Die Keimzellen ſind gleichfalls nur in der Zeit ihres Heranreifens für umgeſtaltende Reize aufnahms— fähig; allein dieſe Zeiträume fallen nicht zuſammen: die Körperreife iſt vollendet, ehe die Keimreife beginnt. Die vollendete körperliche Ver— änderung bei Käfern, die während ihrer Puppenruhe heiß oder kalt, trocken oder naß gehalten worden waren, bleibt über die ganze Fort— pflanzungsperiode hinaus beſtehen und hinterläßt trotzdem keine erblichen Spuren: ſo glaubte denn Tower — fußend auf jener glücklichen Trenn— barkeit der Beeinfluſſungsepochen für Merkmale derſelben und für Merkmale der folgenden Generation — wenigſtens für dieſen einen Fall gefunden zu haben, welchen Weg die Einflüſſe der äußeren Welt einſchlagen, wenn ſie erbliche Eigenſchaften hervorrufen: den unmittel— baren, phyſikaliſchen Weg zu den Keimſtoffen. — „Dieſe Folgerung,“ ſagt nun aber Semon, „iſt genau ebenſo begründet wie die, daß ein Menſch, der eine ſtarre Maske trägt und deſſen Geſichtszüge deshalb keine Veränderung zeigen können, von freudigen und von ſchmerzlichen Eindrücken unberührt bleiben müſſe.“ Die Hauptveränderungen beſtehen nämlich in Farbſtoffablagerungen der äußeren Haut; letztere iſt nach Verwandlung des Käfers aus der Puppe zur toten, verhornten „Cuti— cula“ geworden, die mit dem übrigen Körper in keinerlei reizleitender Verbindung mehr ſteht. Die darunterliegende Haut („Hypodermis“) dagegen, die weiche, plaſtiſche Bildungsſtätte der nach außen abgeſon— derten harten Hülle, iſt trotz der Maskierung reizempfänglich wie zu— vor: von ihrem Beeinfluſſungszuſtand hing ſeinerzeit das Farbenmuſter der Decken ab. Solche Decken werden zwar beim entpuppten Käfer nicht mehr hervorgebracht, und die vorhandenen ſind für nachträgliche 272
Veränderungen nicht mehr erreichbar; aber nach innen zu muß jenes empfindſame Gewebe notwendigerweiſe noch immer Reizpforte ſein für die Amſtimmung der erſt jetzt herangereiften, zu richtigem Empfang bereiten Keimzellen!
Völlig zuungunſten der Vererbung erworbener Eigenſchaften ſprach anſcheinend das Ausbleiben erblicher Folgen von Verſtüm— melungen: Erfahrung des Alltags („kupierte“ Haustierraſſen, Be— ſchneidung, Stechen der Ohrläppchen u. dgl.) wie Experiment ſtimmten ſtets in gleicher Weiſe dafür, daß Verletzungen nie vererbt werden. Wenn wir bedenken, daß doch nur Reaktionen des Organismus auf äußere Eingriffe vererbt werden könnten, der Verluſt eines Körperteils aber durchaus keine ſolche Reaktion darſtellt, dieſe vielmehr darin be— ſteht, die erlittene Störung auszugleichen; ferner auf Grund unſerer Kenntnis über Regeneration iſt jenes negative Reſultat keineswegs wunderbar. Wenn ſchon der verſtümmelte Organismus ſelbſt nicht mehr imſtande war, das Fehlende durch ſein Wachstum zu ergänzen,
ſo iſt dafür ſein Keimling unbeſchränkt regenerationskräftig; ſogar wenn
ſich das Manko an Gliedern auf ihn übertragen hätte, wüßte er die umfangreichſten Ausfälle mit Leichtigkeit zu erſetzen. Dieſelbe Erklärung bleibt gültig dafür, daß auch Regeneratformen nicht vererbt werden, wenn der verletzte Körper ſelbſt bereits ſolche zu bilden in der Lage war: der regenerierte Eidechſenſchwanz, deſſen Kielſchuppen durch einfache Körnerſchuppen, deſſen gegliederte knöcherne Wirbelſäule durch einen ungegliederten Knorpelſtab erſetzt iſt, — das regenerierte Heu— ſchreckenbein, deſſen Fuß nur vier ſtatt fünf Glieder beſitzt; ſie haben bei den Nachkommen ſtets vollſtändigen, fehlerfreien Gebilden Platz gemacht. Da in dieſen Fällen vom alten Individuum regelmäßig weniger und Anvollkommeneres erzeugt als verloren worden war, ſo iſt wieder das Nachlaſſen feiner Regenerationsfähigkeit ſchuld daran, wenn der auf dem Höhepunkte ſeiner generativen und regenerativen Leiſtungskraft befindliche Keimling ihm darin nicht folgen mochte. Wie verhält es ſich aber in anderen Fällen, wo mehr nachwächſt, als in Verluſt geriet? Hier ſind unſere Erfahrungen ſpärlicher. Wir wiſſen nur, daß Lebeweſen mit Spaltdoppel-, Bruchdreifach- (S. 131) und anderen Mißbildungen, wenn überhaupt lebensfähig, ſo doch nicht zeugungsfähig zu fein, oder daß fie (Krebſe — Przibram) ihr mon— ſtröſes Glied bei der nächſten Häutung ganz abzuwerfen pflegen, um an ſeiner Statt ein neues und normales anzuſetzen. Es iſt nicht zu erwarten, daß ſolch abnorme Wuchsformen, die nur eine ausgleichs— bedürftige Störung der gewöhnlichen Körperpolarität und keine har— moniſche Amwandlung der chemiſch-phyſikaliſchen Körperſtrukturen ein— ſchließen, ſich vererben ſollten, ſelbſt wenn es gelänge, mit ihnen be— haftete Individuen zur Vermehrung zu bringen. Tornier iſt dies mit Nißbildungen geringeren Grades, die er durch geeignete Einſchnitte an Arxolotlbeinen und -ſchwänzen erzeugt hatte, bereits tatſächlich gelungen, aber Tauſende von Nachkommen zeigten niemals Vererbung des Uber: Kammerer, Allgemeine Biologie 18 273
zähligen. Anders ſteht es bei den durch Kälte begünſtigten Mehrfach— bildungen an Fliegenbeinen, die ganz neuerdings (1915) Hoge beobach— tete und die in ihrer Vererbung ſogar der Mendelſchen Regel folgten. Wahrſcheinlich bewirkt hier die niedere Temperatur, daß gewiſſe Zellen— gruppen nicht beiſammenbleiben, ſondern ſich trennen und dadurch ſepa— rate Ausgangsflächen für Gliederwachstum ſchaffen. Vererbt würde dann nicht die beſondere Form der Mißbildung, ſondern nur die all— gemeine Spaltungstendenz der Gewebe.
Noch anders als bei dieſen „Hyperregeneraten“ ſteht es mit den „Superregeneraten“, die keine überzähligen Teile, ſondern einfach vorhandene Organe in übernormaler Größe nach— wachſen ließen; hier habe ich ſelbſt ein außergewöhnlich günſtiges Ob— jekt, die Seeſcheide Ciona intestinalis (Abb. 76), genau geprüft. Der ſchlauchförmige Körper trägt am oberen freien Ende zwei Röhren, — die längere Einfuhr, die kürzere Ausfuhröffnung. Anterhalb der Ein— fuhrröhre beginnt der Verdauungskanal, der ſich ins entgegengeſetzte, auf dem Meeresgrunde feſtſitzende Körperende hinabſenkt, hier u-förmig umbiegt und bis zur Abzweigung der Ausfuhrröhre wieder aufwärts verläuft. In der Schlinge des Darmes, an feiner Umbiegungsitelle liegen die Geſchlechtsorgane, eine Zwitterdrüſe.
Schneidet man die Ein- und Ausſtrömröhren ab, ſo wachſen ſie nach, werden ſogar länger als vorher; wiederholt man die Amputation mehrmals, ſo bekommt man ſchließlich Exemplare mit ganz langen, ele— fantenrüffelartigen Röhren. Dieſe erhöhte lokale Wachstumsgeſchwindig— keit vererbt ſich auf die Nachkommen, welche, ohne ihrerſeits operiert zu ſein, doch wieder überlange Siphonen austreiben. — Mit jener erſten Operation kann man eine zweite verbinden: man ſtellt langröhrige See— ſcheiden her und ſchneidet ſie dann mitten entzwei, ſo daß die ganze untere Körperregion, wo die Geſchlechtsorgane liegen, in Wegfall kommt. Auch dieſe Verſtümmelung überſteht das Tier bzw. ſeine obere Hälfte: es regeneriert einen neuen Unterleib mit neuen Geſchlechtsorganen; und auch diesmal beſitzt eine junge Generation, aus regenerierten Geſchlechts— werkzeugen entſtanden, lange Röhren.
Der Einwand, es handle ſich um Zuchtwahl, iſt hinfällig, weil die langen Siphonen ihrem Träger keinen Nutzen ſtiften, — keine zweck—
volle Anpaſſung, ſondern nur eine zweckloſe, im beſten Fall gleichgültige
Veränderung darſtellen; und weil keine Wahl ausgeübt wird, ſondern alle behandelten Exemplare prompt dieſelbe Abweichung zeigen. — Der Einwand, es handle ſich um Rückſchlag auf eine Ahnenform, wäre durch keinen Schatten von Wahrſcheinlichkeit zu begründen; und der anſchließende Einwand, nicht die Siphonenlänge werde vererbt, ſondern die Fähigkeit, je nach Erfordernis längere oder kürzere Röhren zu bilden, iſt gleichgültig, ſobald nachgewieſen wird, daß dieſe oder jene Vererbung nicht „blaſtogen“ (im Keim), ſondern „ſomatogen“ (durch die Mittlerrolle des Körpers) zuſtande kommt. Dieſer wichtigſte Nachweis iſt aber geführt, und damit auch der letzte entſcheidendſte 274
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Einwand direkter Beeinfluſſung der Keimprodukte widerlegt, weil Keim— plasma, worauf die Operation (in welch rätſelhafter, „unvorſtellbarer“ Weiſe immer) direkt hätte wirken können, zur kritiſchen Zeit gar nicht vorhanden, ſondern nach Herſtellung der neuen Eigenſchaft entfernt worden war und erſt aus rein körperlichem (ſomatiſchem) Materiale neuerdings gebildet werden mußte. Somit konnte das Auferſtehen der erworbenen Eigenſchaft bei der Tochtergeneration nicht ſchon unmittel— bar im Keimplasma vorbereitet ſein, ſondern konnte von nirgends anders herkommen als aus dem veränderten Körper.
Die Frage nach der Vererbung erworbener Eigenſchaften iſt hier— mit wohl endgültig im bejahenden Sinne beantwortet; die gegenteiligen Befunde haben nur gelehrt, was niemals ſtrittig war: nämlich, daß nicht jede beliebige Veränderung, die den Körper trifft, ſchon erb— lich manifeſte Wirkungen hervorbringen müſſe. Damit ſie dies tue, iſt vielmehr erforderlich: erſtens eine gewiſſe Quantität der Stärke und Dauer, die der Veränderung erlaubt, das verborgene Keimplasma in Mitleidenſchaft zu ziehen; zweitens eine damit verbundene Qualitäts— änderung, die, wenn auch ſcheinbar auf einen engen Bezirk lokaliſiert, doch den Chemismus des ganzen Körpers einbezieht. Vergleichen wir die geſamte Körperform einer Kriſtallgeſtalt der Stoffe, woraus der Körper zuſammengeſetzt iſt, ſo muß ſich alſo an der molekularen Struktur dieſes „Kriſtalles“ etwas geändert haben, damit die ſtoffliche Anderung von der Form dauernd zum Ausdruck gebracht werde. Daß der Ein— griff in dem zuletzt dargeſtellten Experimentum crucis ein fo lokaliſierter war, iſt natürlich kein Grund dafür, daß auch die Antwort auf den Eingriff eine lokaliſierte bleiben mußte; gleichwie das Abſchneiden einer Kriſtallſpitze umordnende Prozeſſe auch in den entfernteſten, un— verletzt gebliebenen Teilen des Kriſtalles zur Folge hat, — ſo beweiſt das Ausſehen der aus den Eiern einer verſtümmelt geweſenen Seeſcheide hervorgegangenen Nachkommenſchaft, wie ſehr ſelbſt die ſcheinbar der Operation ſo weit entrückte Keimſphäre an der Geſamtveränderung teil— genommen hatte.
Ein Rückzug bleibt den Gegnern der Vererbung erworbener Eigen— ſchaften auch angeſichts des Seeſcheidenverſuches ſcheinbar noch gewahrt: die von Weismann aufgeſtellte Hilfshypotheſe (0 der „Reſerve— determin anten“. Dieſe Annahme wurde der Keimplasmatheorie angeſichts der Regenerationstatſachen aufgezwungen und beſagt, daß nicht bloß in den Keimzellenkernen, ſondern auch in denen aller Leibes— zellen etwas Keimſtoff vorhanden ſei, deſſen Anlagen („Determinanten“) erforderlichenfalls für Erſatzleiſtungen einzuſpringen hätten. Anfangs wurde angenommen, daß dieſes „ſomatiſche Keimplasma“ anlagenärmer ſei als dasjenige der Geſchlechtszellen; es enthalte immer nur diejenigen Determinanten, die für den örtlichen Aufbau in Betracht kämen, wäh— rend ihm die für andere Körperregionen fehlten. Angeſichts der „Hetero— morphoſen“ (S. 132), der Knoſpungs- und Reduktionserſcheinungen (S. 227, 122) u. a. kam jedoch beſonders Roux zu dem Schluſſe, daß
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mindeſtens bei niederen Formen jede Körperzelle nicht ſpezialiſiertes, ſondern volles Keimplasma im Reſervevorrat beigegeben enthält. Mit dieſem Zugeſtändnis können ſich aber nunmehr Gegner und Anhänger die Hände reichen: wenn jeder Zellkern im ganzen Körper, nicht bloß im Keimſtock, Vollplasma führt, dann iſt der vielberufene Gegenſatz zwiſchen Körper- und Keimzellen praktiſch aufgehoben. Die Lehre von der Anunterbrochenheit des Keimſtoffes werden wir gleichwohl als den wertvollſten Beſtandteil des Weismannſchen Theoriengebäudes bei— behalten; nur müſſen wir uns hüten, ſie als eine obligatoriſche zu nehmen; müſſen uns von der Möglichkeit totaler Regeneration der Keimſtätten aus körperlichem Materiale belehren laſſen, daß ſie nur eine fakultative iſt; und müſſen fie endlich erweitern zu einer Kon— tinuität der Einheit des Keimes und Körpers, deſſen Sterblichkeit nicht hindert, daß ſeine Geſamtorganiſation — unverändert oder auch ver— ändert — ſich hinüberzieht durch die ganze Kette der Geſchlechter!
Literatur über Vererbung:
Batefon,W., „Mendel’s Principles of Heredity“ Cambridge, University Press, 1909. (Das Buch kann nur in Beſchränkung auf die gegebenen Tatſachen der Mendelſchen Regeln als gut bezeichnet werden, nicht in bezug auf deren Auslegung und vererbungstheoretiſche Betrachtungen überhaupt!)
Baur, Erwin, „Einführung in die experimentelle Vererbungslehre.“ Berlin, Borntraeger, 1911. (Sit eigentlich nur Baſtardierungslehre und muß in bezug auf deſzendenztheoretiſche Folgerungen ſehr kritiſch aufgefaßt werden.)
Darwin, Ch., „Das Variieren der Tiere und Pflanzen im Zuſtande der Domeſtikation“. Deutſch von J. V. Carus. 2 Bände. Stuttgart, Schweizerbart, 1878.
Deläge, B., „La Structure du protoplasma et les théories sur l'hérédité et les grands problems de la biologie générale.“ Paris, C. Rein- wald & Cie., 1895.
Godlewski, Emil, „Das Vererbungsproblem im Lichte der Entwick— lungsmechanik betrachtet“. — Roux' Vorträge und Aufſätze über Ent— wicklungsmechanik IX. Leipzig, W. Engelmann, 1909.
Goldſchmidt, R., „Einführung in die Vererbungswiſſenſchaft“. Leipzig, W. Engelmann, 1911.
Haecker, V., „Allgemeine Vererbungslehre“. 2. Aufl. Braunſchweig, F. Vieweg & Sohn, 1912. (Bei im Grunde gegneriſcher Anſchauung ein ausgezeichnetes Buch von muſtergültiger Objektivität.)
Hart, D. B., „Phases of Evolution and Heredity“. London, Rebman, 1910. (Eines der einſeitigſten, rückſchrittlichſten Werke des Gebietes.)
Hatſchek, B., „Hypotheſe der organiſchen Vererbung“. Leipzig, W. Engel— mann, 1905.
Heider, Karl, „Vererbung und Chromoſomen“. Jena, G. Fiſcher, 1906.
Hering, E., „Aber das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der or— ganiſierten Materie“. 2. Aufl. Wien, C. Gerolds Sohn, 1876.
Kammerer, P., „Beweiſe für die Vererbung erworbener Eigenſchaften durch planmäßige Züchtung“. — 12. Flugſchrift der Deutſchen Geſell— ſchaft für Züchtungskunde, Berlin 1910.
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Kammerer, P. „Erwerbung und Vererbung des muſikaliſchen Talentes“. Leipzig, Theod. Thomas, 1912.
Kammerer, P., „Die Bedeutung der Vererbung erworbener Eigen— ſchaften für Erziehung und Anterricht“. — Flugſchriften der Sozial— pädagogiſchen Geſellſchaft. Heft 4. Wien 1914.
Lang, Arnold, „Aber Vererbungsverſuche“. — Verhandlungen der Deutſchen Zoologiſchen Geſellſchaft. Leipzig, W. Engelmann, 1909. Lang, Arnold, „Die experimentelle Vererbungslehre in der Zoologie
ſeit 1900“. — 1. Band. Jena, G. Fiſcher, 1914.
Mendel, Gregor, „Verſuche über Pflanzenhybriden“. Zwei Abhand— lungen, herausgeg von Erich v. Tſchermak. — Oſtwalds Klaſſiker der exakten Wiſſenſchaften, Nr. 121. Leipzig, W. Engelmann, 1901.
Plate, L., „Vererbungslehre mit beſonderer Berückſichtigung des Men— ſchen“. Leipzig, W. Engelmann, 1913.
Punnett, R. C., „Mendelismus“. Deutſch von W. v. Proſkowetz, herausgeg. von H. Iltis. Brünn, C. Winiker, 1910.
Schultz, Eugen, „Aber umkehrbare Entwicklungsprozeſſe“. Leipzig, W. Engelmann, 1908.
Semon, R., „Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechſel des or— ganiſchen Geſchehens“. 3. Aufl. Leipzig, W. Engelmann, 1911.
Semon, R., „Das Problem der Vererbung erworbener Eigenſchaften“. Leipzig, W. Engelmann, 1912. (Erſchöpfendſte Darſtellung von voll— endeter Klarheit!)
Teichmann, E., „Die Vererbung“. 7. Aufl. Stuttgart, Franckh'ſche Ver— lagshandlung, ohne Jahreszahl.
Tower, W. L., „An investigation of evolution in Chrysomelid Beetles of the genus Leptinotarsa“. Carnegie-Inſtit. Waſhington, Publ.-Nr. 48, 1906.
Weismann, A., „Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung“. Jena, G. Fiſcher, 1892.
Weismann, A., „Aufſätze über Vererbung und verwandte biologiſche Fragen“. Jena, G. Fiſcher, 1892.
(Vgl. auch die geſamte Literatur zum vorhergehenden Kapitel über „Zeu—
gung und Vermehrung“, wie zum folgenden Kapitel über „Abſtammung“;
endlich die Schriften von H. Winkler im VI., die von Haeckel im
VII. Kapitel.)
1 SI 00
X. Abſtammung (Phylogeneſe)
1. Abſtammungslehre (Deſzendenztheorie a) Beweiſe der experimentellen Züchtungskunde
Noch immer iſt die Meinung verbreitet, die Abſtammung der „höheren“, komplizierteren Lebeweſen von „niedrigeren“, einfachen ſei eine unbewieſene Vermutung oder Behauptung. Derſelbe Zweifel, dem, wie wir zu Ende vorigen Kapitels geſehen haben, das wichtigſte Funda— ment der Abſtammungslehre begegnet, — nämlich die Wechſelwirkung von Anpaſſung und Vererbung oder Vererbung erworbener Eigen— ſchaften — die gleiche unfruchtbare Skepſis verfolgt auch die unver— meidliche Folge jener „Neuvererbung“, nämlich die Amwand— lung und Höherentwicklung der Tier- und Pflanzenarten. Gewöhnlich wird die Anfechtung der Deſzendenztheorie durch den Hinweis begründet, man habe noch nie die Amwandlung einer Art in eine andere erreicht oder mitangeſehen.
Wofern damit gemeint iſt, es ſei noch niemals gelungen, eine Art in eine zweite, aus der Natur bekannte Art zu ver— wandeln, ſo iſt der Vorwurf richtig, — wenn auch nicht berechtigt: denn unmöglich kann uns zugemutet werden, die ſeit Jahrtauſenden in der Natur wirkſamen Bedingungen ſo genau nachzuahmen, daß auch der Endeffekt genau derſelbe wäre. Im gleich ein Beiſpiel anzuführen und dabei an Bekanntes (S. 268) anzuknüpfen, war es mir geglückt, den gelbgefleckten Regenmolch (Salamandra maculosa — Abb. 73) faſt aller Makeln zu berauben, ja einzelne Exemplare ganz ſchwarz zu bekommen; eines der dabei verwendeten Mittel (außer ſchwarzem Untergrund) beſtand darin, den Tieren durch Waſſerentzug die Yort- pflanzung des naheſtehenden, einfarbig ſchwarzen Alpenſalamanders (Salamandra atra) aufzuprägen: in Farbe, Entwicklung und teilweiſe ſogar den Körperproportionen glich nun der umgewandelte Flecken⸗ ſalamander bereits jenem Mohrenſalamander, — doch davon konnte nicht geſprochen werden, daß erſtere Art reſtlos in letztere übergeführt worden ſei.
Wenn aber der billige Einwurf, noch nie habe ſich vor unſeren Augen eine Art in eine andere umgeſtaltet, allgemein gelten ſoll — etwa auch für reine Kulturarten, die in der Natur gar nicht vor— kommen —: ſo iſt dies angeſichts des gegenwärtigen Standes der er- perimentellen Biologie nicht mehr berechtigt. Die vorhin erwähnten,
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total geſchwärzten Feuerſalamander dürfen zwar nicht mit Alpenſala— mandern identifiziert werden; aber ob ſie noch in den Speziesbereich der Salamandra maculosa hineingehören, dürfte mit demſelben Recht zweifel— haft ſein. Vbllig überzeugt bin ich aber, daß viele pflanzliche „Muta— tionen“ (ſiehe ſpäter) ſowie aus dem Tierreich, beiſpielsweiſe die von mir erzielte Experimentalform des Grottenolmes, als ſelbſtändige Arten beſchrieben würden, wenn ſie ohne Kenntnis der Herkunft irgendwo im Freien gefunden worden wären. Der Olm iſt in ſeiner Heimat, den Karſthöhlen, farblos und blind, — ſeine Augen ſind verkümmert und unter der Haut verborgen; noch am deutlichſten ſind ſie bei Neu— geborenen, — nach der biogenetiſchen Regel ein Hinweis auf Abſtam— mung des Olmes von oberweltlichen, ſehenden Molchen. Im Tages— licht werden die Olme ſchwarz; aber die hautbedeckten Augen kommen ins Dunkel, wenn ſich über ihnen ſo viel Farbſtoff ablagert. Im roten Licht iſt das nicht der Fall; in Abwechſlung mit Tageslicht kann zwiſchen Pigmentzuwachs und Augenwachstum ein Kompromiß ge— ſchloſſen werden, der ſchließlich die Entwicklung dunkelfarbiger, groß— augiger, ſehender Olme erreicht. — In der modernen Bakteriologie, alſo gerade unter denjenigen einfachſten Lebeweſen, von denen man es auch theoretiſch am eheſten erwartet, gehört verhältnismäßig raſches Amſchlagen einer Art in die andere nicht zu den Seltenheiten; und nur der Amſtand, daß man die Arten der Bakterien weniger an ihrer Form (hinſichtlich deren man ſich eigentlich auf die Einteilung in Bazillen, Kokken, Spirillen und Vibrionen beſchränkt) als an ihrer Funktion und „Virulenz“ (Stoffwechſelwirkung) unterſcheidet, hat bis— her keine ausgiebigere Verwertung zugunſten der Abſtammungslehre zugelaſſen.
Haeckel hat — bei aller Berechtigung ſeines Tadels gewiſſer Ein— ſeitigkeiten — den Experimentalbiologen Anrecht getan, wenn er ſchrieb, die Vererbung erworbener Eigenſchaften und ihre unmittelbare Kon— ſequenz, der Artenwandel, ſei eines experimentellen Beweiſes nicht fähig, weil die bezüglichen Prozeſſe einer allzu fernen Vergangenheit angehören und eine zu lange Dauer beanſpruchen. Gerade dieſe Dauer, für welche oft viele Jahrmillionen veranſchlagt wurden, hat in unſeren neueſten Befunden eine anſehnliche Herabminderung erfahren. Nicht die Mittel des Artenwandels, das Arſachengetriebe ſeiner Durchführung ſind dem Experiment unzugänglich; ſondern nur die Wege, die von den einzelnen Gruppen der ausgeſtorbenen zu den heute lebenden Formen hinführten. Nicht die allgemeine Abſtammungslehre, ſondern nur die ſpeziellere Stammbaumforſchung muß allerdings den vergleichenden und hiſtoriſchen Methoden überlaſſen bleiben. Die poſitiven Beweiſe, die auf dieſem Gebiete geſammelt wurden, ſind, ſo große Bedeutung ſie beſitzen, keine Errungenſchaften aus unſeren Tagen, ſondern aus den Gründungszeiten der Abſtammungslehre; für unſere Zwecke genügt da— her ihre knappſte Zuſammenfaſſung, um die Richtung zu zeigen, die ſie bis zum Stande der Gegenwart hinaufgeleiteten.
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b) Beweise der vergleichenden Anatomie und Entwicklungsgeſchichte
Die vergleichende Anatomie ſteuert zu dieſem Beweismateriale nebſt anderen Tatſachen die des gleichen Bauplanes homologer Organe bei: wenn fie noch fo ſehr ihre Funktion und damit Nußer— lichkeiten ihrer Form gewechſelt haben, ſo laſſen ſich doch gewiſſe gleich— artige Stücke wiedererkennen. Der Abſchnitt „Aktive Bewegungsorgane“ (S. 80, 81) enthält bereits Beiſpiele dafür, wie Bruſtfloſſe, Flügel und Arm. Solch übereinſtimmender Plan kommt auch in den „rudi— mentären Organen“ zum Vorſchein; der Menſch allein beſitzt deren laut Wiedersheim neunzig, — Ruinen ehemals groß angelegter und funktionswichtiger Körperteile, deren Aufgabe und Geſtalt jetzt zuſammen— ſchrumpfen: das Steißbein als Reſt der Schwanzwirbelſäule, die halb— mondförmige Falte im inneren Augenwinkel als Reſt der Nickhaut, die Muskelrelikte, welche ehemals zum flinken Hin- und Herbewegen der Ohrmuſchel dienten, und der Wurmfortſatz des Blinddarmes ſind die bekannteſten.
Die vergleichende Entwicklungsgeſchichte liefert ihr Belegmaterial vor allem in Geſtalt der bereits erörterten bio genetiſchen Wieder— holungsregel (S. 152): wenn ein Säugetier im Laufe ſeiner Em— bryonalentwicklung Kiemenbogen und Kiemenſpalten und floffenartige Gliedmaßen bekommt — wie ſollte dies auffällige Faktum beſſer zu erklären ſein als durch Abſtammung von fiſchähnlichen Vorfahren? Es gibt freilich Deutungen, die den gemeinſamen Bauplan, der in den Befunden der vergleichenden Anatomie und Entwicklungsgeſchichte zum Ausdruck kommt, lieber als einheitlichen Schöpfungsplan auffaſſen; und dieſen Einwendungen gegenüber iſt dann die Abſtammung „unbewieſen“.
c) Beweiſe der Syſtematik und Serodiagnoſtik
Die beſchreibende und einteilende Naturgeſchichte (Syſtematik) weiſt den Gruppen des Tier- und Pflanzenreiches nach gründlicher Durch— arbeitung in der Regel dieſelbe Stellung an, die ſie auch nach anato— miſcher, embryologiſcher und paläontologiſcher Forſchung einnehmen müſſen, und gelangt auf ſolche Weiſe zur Aufſtellung des „natür— lichen Syſtems“, das die natürliche Stammesverwandtſchaft der Lebeweſen widerſpiegelt. Bei ihren Klaſſifizierungsverſuchen begegnet aber die Syſtematik überall der fundamentalen Schwierigkeit, daß ſich die Gruppen nicht ſcharf voneinander abgrenzen laſſen, ſondern durch Abergangsſtufen verbunden werden. Vermittelten die Abergangsſtufen immer nur zwiſchen zwei Gruppen, die in der ganzen Stufenleiter be— nachbart wären, ſo ließe ſich die Schwierigkeit leicht überwinden — allein ſie ſtehen immer zwiſchen mehreren Gruppen, die gabelig oder ſtrahlen— büſchelförmig aus einer Stammgruppe hervorzugehen ſcheinen: ſo aus den Würmern die Stachelhäuter, Gliederfüßler, Weichtiere und Wirbel— tiere; aus den Reptilien die Vögel und Säugetiere; aus den Beutel—
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tieren die meiſten höheren Ordnungen der Säugetiere. In dieſen Ein- teilungshinderniſſen liegt die immer noch oft — beſonders von Laien — mißverſtandene Tatſache beſchloſſen, daß die Stammesentwicklung eben nicht in Form einer Stufenleiter, ſondern eines ſich zunehmend ver— zweigenden Stammbaumes erfolgt iſt. Am größten iſt dieſe Schwierig— keit bei den Arten, wo oft ganze Reihen allmählicher Abergänge von einer Art zur anderen hinüberreichen (ſiehe „Variation“, S. 287). Wie immer man die naturgeſchichtliche „Art (Spezies)“ definieren wollte: ob durch Fehlen ſolcher Abergänge, ob durch Abſtammung aus gleichem Samen und fruchtbare Vermiſchung der Individuen, — all dieſe Kri— terien haben ſich noch ſtets als hinfällig erwieſen. Nicht einmal die Anfruchtbarkeit der Artbaſtarde kann allgemein als Prüfſtein einer „guten“ Art Geltung behalten: im Pflanzenreich führt Baſtardierung verſchiedener Arten häufig zur Entſtehung neuer und beſtändiger, voll— kommen fruchtbarer Formen. Im Tierreich iſt dies zwar viel ſeltener, aber in der faſt immer leichten Rückkreuzung der Artbaſtarde mit den Stammarten iſt die Anfruchtbarkeitsregel im abſoluten Sinne umge— ſtoßen; und auch in der ſchwierigeren Weiterzucht der Artbaſtarde unter— einander erleidet ſie zahlreiche Ausnahmen: z. B. Stieglitz-Kanarien— vogel, diverſe Schmetterlingsarten, die als falſch betrachteten fruchtbaren Haſen-Kaninchenbaſtarde („Leporiden“) gewannen neue Wahrſchein— lichkeit.
Die Blutforſchung (Serodiagnoſtik) beſcherte uns im Verein mit der Immunitätslehre die Kenntnis der „Verwandtſchaftsreaktionen“. Wir hörten bereits (S. 139), daß eine fremde Blutart, in den Kreislauf injiziert, dort zugrunde geht; bei nahen Verwandten trifft dies in be— ſchränkterem Grade zu, ſo z. B. bei Injektion von Menſchenblut in Menſchenaffen. Mit der Ahnlichkeit ihrer Blutplasmen hängt es ferner zuſammen, wenn bakterielle Erkrankungen ſich auf ſolch nahe Verwandte am eheſten übertragen laſſen, z. B. Lues leichter auf den Schimpanſen als auf andere Affenarten. Die Abtötung des fremden Blutes in einer fremden Tierart wird geſteigert, wenn die Injektionen ſich wiederholten; die geſteigerte abtötende Wirkung unter Begleiterſcheinungen wie Zu— ſammenballen, „Agglutination“, Auflöſung, „Hämolyſe“ uſw. bezieht ſich dann nicht bloß auf die fremde Tierart ſelbſt, ſondern auch auf deren nächſte Verwandte: wird einem Kaninchen wiederholt Hühner— blut injiziert, ſo wirkt deſſen Blut dann nicht nur auf Hühnerblut, ſondern auch auf Taubenblut ſtärker ein (Dungern). Filtriertes, von Zellen befreites Blutſerum bildet beim Zuſatz fremden Blutes einen Niederſchlag, wenn die Art, aus der das Serum ſtammt, mit dem Blut der anderen Art, deren Blut zugeſetzt wird, „vorbehandelt“ (d. h. mehr— fachen Injektionen ausgeſetzt) geweſen war. Wird einem Kaninchen Menſchenblut oder Menſchenſerum injiziert, jo erzeugt ſpäter zugeſetztes menſchliches Blut im Serum des ſo behandelten Kaninchens einen Niederſchlag („Präzipitat“). Am reichlichſten iſt er ſtets dann, wenn dieſelbe Art, die zur Vorbehandlung verwendet worden war, auch 282
zur Nachbehandlung des Serums (Blutzuſatz) wieder Verwendung findet; bei Verwendung anderer Arten nimmt die Menge des Niederſchlags mit entfernterer Verwandtſchaft ab. Auf ſolche Weiſe ließen ſich reihenweiſe die Verwandtſchaftsgrade der Affenarten untereinander und zum Menſchen beſtimmen, je nachdem ſie in dem mit Menſchenblut vorbehandelten Kaninchenſerum ein ſtärkeres oder ſchwächeres Präzipitat erzeugen. Nahezu ununterſcheidbar von dem, das Menſchenblut ſelbſt hervorruft, iſt dasjenige von Schimpanſe, Gorilla und Orang — ſchwächer das von Makaken und Pavianen, noch ſchwächer das von Neuwelts— im Vergleich zu den aufgezählten Altweltsaffen. Nicht minder empfind— lich iſt die Methode zur Erkennung der verwandtſchaftlichen Beziehungen zwiſchen niederen Wirbeltieren (Nuttal) und wirbelloſen Tieren (Krebſe — Dungern); neuerdings beginnt die Präzipitinreaktion auch auf das Pflanzenreich mit ebenſo großen Erfolgen ausgedehnt zu werden (Friedenthal, Magnus, Gohlke).
Gegen ſyſtematiſche und ſerodiagnoſtiſche Beweiſe könnte ihre Gegnerſchaft immerhin noch etwas einwenden. Wenn den gradweiſen Verſchiedenheiten der Tier- und Pflanzenformen ebenſo graduelle, chemiſch nachweisbare Verſchiedenheiten ihrer Subſtanzen entſprechen, ſo brauchte dies nicht unbedingt auf ihrer Abſtammung aus einander zu beruhen: Blutähnlichkeit und Blutsverwandtſchaft braucht doch ebenſo⸗ wenig gleichbedeutend zu fein wie etwa die äußeren Ahnlichkeiten in Geſichtszügen oder Charakteren zweier Menſchen, die durchaus nicht derſelben Familie oder Nationalität a Den morphologiſchen Artmerkmalen geſellen ſich die chemiſchen; ebenſo wie jene, können Schritt für Schritt mit ihnen auch dieſe Anterſchiede größer oder geringer fein: vom Standpunkte des Gegners aus könnten immerhin beide „von An— fang an“, d. h. vom Schöpfungstage an, dieſelben geweſen und geblieben ſein. — Denſelben Einwand würde gegneriſche Auffaſſung für die Variationen herausfinden: man muß unterſcheiden zwiſchen Ab— änderungen und Veränderlichkeit; deshalb, weil innerhalb einer als „Art“ zuſammengefaßten ſyſtematiſchen Einheit viele Abweichungen vorkommen, müßte die Art noch nicht veränderlich, d. h. wandlungsfähig ſein; ſondern nicht bloß das, was man heute Arten nennt, — auch all die feineren Zwiſchenſtufen, die man Unterarten und Spielarten (Varie— täten und Aberrationen) nennt, beſtünden in der heutigen Geſtalt von Urzeit an. Ein derartiger Ausſpruch klingt gegenwärtig abſurd; ich ſetze ihn ſo ausführlich her, weil ich zu zeigen wünſchte, daß man ſich mit den vielberufenen Variationen und Übergängen, ſowie ſelbſt mit dem Nachweiſe, daß ſie ebenſovielen ſtofflichen Abſtufungen der Körper— und Blutplasmen entſprechen, in der Tat nicht begnügen durfte, um die Abſtammungslehre für bewieſen zu erklären. Daß die Variationen ſich oft in der Nachkommenſchaft eines einzigen Individuums vorfinden, ſpricht nicht gegen deren ewige Gleichheit und Anveränderlichkeit: nicht alle Anlagen, die verborgen („latent“) im Keimplasma ſtecken, entfalten ſich eben in jedem Individuum, ſondern ſie verteilen ſich auf verſchiedene
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Individuen, bleiben aber trotzdem unveräußerliches Eigentum der kon— ſtanten Art. Wir hörten ja im vorigen Kapitel, daß der Neu-Men— delismus in der Tat Vorſtöße in dieſer Richtung unternimmt, die geſamte Variabilität der Lebeweſen mit einem zufälligen Durcheinander— werfen ſtarr bleibender Anlagenteilchen für erklärt zu halten und dem— zufolge eine Rückkehr zum Alt-Linnéſchen und Vor-Darwinſchen Kon— ſtanzglauben zu vollziehen; mit dem einzigen Anterſchiede, daß der Mendelismus die Konſtanz der Art erſetzt durch die Konſtanz ihrer Anlagen.
d) Beweiſe der Paläontologie und Biogeographie
Allerdings wird aber ſchließlich, was an den Beweisverfahren der Syſtematik und Serodiagnoſtik noch unvollendet gelaſſen wurde, von der Verſteinerungskunde (Paläontologie) beſiegelt. Trotz der außerordent— lichen Lückenhaftigkeit, womit notwendigerweiſe die in Schichten der Erd— rinde eingegrabenen („foſſilen“) Tier- und Pflanzenreſte auf unſere Tage kamen, reichen fie aus zur Sicherung folgender Hauptſätze: 1. Von älteren zu jüngeren Schichten iſt die Organiſationshöhe ihrer Be— wohner im Anſteigen begriffen: z. B. (paläophytologiſch) im Kam— brium nur Algen, im Silur auch Mooſe, in der Steinkohlenzeit Farne und Nadelhölzer, erſt in der Kreide echte Blütenpflanzen; oder (paläo— zoologiſch) im Kambrium nur Wirbelloſe, im Silur als erſte Wirbel— tiere Fiſche (aber zunächſt nur Knorpelfiſche), im Karbon Amphibien, im Perm Reptilien, im Jura Vögel (aber in welch altertümlicher Form!), im Trias Säugetiere. — 2. Je näher zwei Schichten beiſammen— liegen, deſto ähnlicher ſind ihre Faunen und Floren. — 3. Für heute lebende Gruppen, zwiſchen denen eine tiefe Kluft zu be— ſtehen ſcheint, werden ausgeſtorbene Zwiſchenſtufen aufgefunden (3. B. für Reptilien und Vögel der „Archaeopteryx“). — 4. Aber auch kontinuierliche Reihen, deren Endglieder alſo nicht bloß durch einzelne mittenſtehende Formen, ſondern durch denkbar allmählichſte Abergänge verbunden find, liegen uns in verſteinerten Urkunden vor: z. B. Sumpfſchnecke Paludina Neumayri — P. Hoernesi aus dem Anter— pliozän; Tellerſchnecke Planorbis laevis — turbiniforme aus dem Ober— miozän; eine der berühmteſten Reihen, von Fünfzehigkeit (Phenacodus) zu Einhufigkeit (Equus), haben wir im Kapitel „Bewegung“ (S. 83) ſchon kennen gelernt.
Die Entſtehung der Lebensformen in geologiſcher Vorzeit iſt viel— fach noch für ihre gegenwärtige geographiſche Verbreitung urſächlich geblieben: die Fauna und Flora eines Gebietes hängt ſtets aufs engſte mit der ausgeſtorbenen desſelben Gebietes zuſammen, z. B. im Vor— handenſein von rezenten und foſſilen Gürtel- und Faultieren in Süd— amerika. Altabgetrennte Feſtländer beherbergen auch die altertümlichſten Tiere und Pflanzen, z. B. Neuſeeland, Auſtralien, Madagaskar. Inſeln, ſoweit ſie von wander- und transportunfähigen Lebeweſen bewohnt werden, ſtimmen darin am eheſten mit dem nächſtgelegenen 284
Kontinent überein, vorausgeſetzt, daß fie in früherer geologiſcher Epoche mit ihm zuſammenhingen. Landferne Inſeln oder ſolche, die von der benachbarten Ländermaſſe verſchiedenen geologiſchen YUrjprungs find, haben ihre eigene Tier- und Pflanzenbevölkerung, die ſich mit Zunahme der Iſolierungsdauer immer ſtärker verändert. Ein klaſſiſches Beiſpiel dafür ſind die von Darwin bereiſten Galopagosinſeln mit ihren endemiſchen
Abb. 77. Eidechſen-Inſelformen: oben Lacerta mellisellensis von der vulkaniſchen
Inſel Brusnik (= Melliſello) bei Liſſa; unten deren mögliche Stammform (?) Lacerta
fiumana lissana von der Inſel Liſſa, ſüddalmatiniſche Küſte des Adriatiſchen Meeres. (Nach Scherer.)
Schildkrötenformen und Arten ſchwerfällig fliegender Finken (Geospiza); die Inſelraſſen der Eidechſen (Abb. 77) auf der mediterranen Inſelwelt lernten wir gelegentlich Ableitung der biogenetiſchen Regel (S. 155) kennen. Wir haben dafür aber auch Beiſpiele aus hiſtoriſcher Zeit (Shetlandspony, Mankatze). Genau analoge Iſolierungswirkungen wie auf Landerhebungen in den ozeaniſchen Becken ſtellen ſich ein bei räum— licher Sonderung in Binnengewäſſern (Plankton, Maränenfiſche); hingen ſolche Seen in früherer geologiſcher Zeit mit dem Meere zu— ſammen, fo finden ſich darin Aberbleibſel („Relikte“) marinen Lebens,
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z. B. ein Schleimfiſch (Blennius — ſ. Abb. 81), ein Hering (Alosa finta) und eine Süßwaſſergarnele (Palaemonetes) in oberitalieniſchen Seen, ein Krebschen (Mysis relicta) in ſkandinaviſchen Seen uſw. Relikten— faunen und -Floren kommen auch bei anderen trennenden Arſachen zu— ſtande: das berühmteſte Beiſpiel ſind die einerſeits in den Hochalpen, anderſeits im hohen 1 vorkommenden gleichen oder ähnlichen Tier— und Pflanzenarten, z. B. Schneehaſe und Schneehuhn, ſowie zahlreiche Alpenpflanzen, welche als Aberbleibſel der Eiszeiten anzuſehen ſind und damals jedenfalls in geſchloſſenem Beſtande durch ganz Europa ver— breitet waren, bis das Klima der mitteleuropäiſchen Ebenen und Mittel— gebirge den nicht anpaſſungsfähigen Formen Vertilgung brachte. Dis— kontinuierliche Verbreitung könnte zwar auch vorgetäuſcht werden, wenn in zweierlei Gebieten von ähnlicher Elimatifcher Beſchaffenheit urſprüng— lich verſchiedene Formen zu nachträglicher Gleichheit konvergiert haben (ſ. über Konvergenzerſcheinungen S. 85), aber auch das wäre nur unter Zugrundelegung der Artveränderlichkeit zu verſtehen. — —
So iſt denn die organiſche Deſzendenzlehre in gleichem Sinne und Amfange bewieſen wie irgendeines der großen „Naturgeſetze“ aus der anorganiſchen Welt. Gewiß, auch auf dem Boden der Phyſik, Chemie und Aſtronomie ſind wir nicht ſicher vor großen Amwälzungen der Theoreme, die ſcheinbar ſchon zum ſicherſten Beſitz unſerer Erkenntnis gehörten; es braucht bloß an die Feuerproben erinnert zu werden, denen unſere Anſchauungen über Kraft und Stoff nach der Entdeckung der radioaktiven Erſcheinungen ausgeſetzt waren, an die Wandlungen, welche Atomiſtik und Athertheorie erfuhren, um ähnliche Aberraſchungen auch auf deſzendenztheoretiſchem Gebiete für möglich zu halten. Aber inner— halb derjenigen Grenzen, die menſchlichem Wiſſen und Können das Aufſtellen allgemeiner Naturtatſachen geftatten, muß die Tatſache der Blutsverwandtſchaft alles Lebendigen mit in erſter Reihe ſtehen: es iſt ungerecht, ihr einen Platz anzuweiſen, die ſie etwa dem Gravitations- und Subſtanzgeſetz (dem Satze von der Erhaltung der Energie und Materie) als untergeordnet und weniger verläßlich er— ſcheinen läßt.
Auch ſind die Abſtammungsvorgänge gewiß nicht auf die Welt der Lebeweſen beſchränkt: als allgemeine Transmutations— erſcheinungen gelten ſie für die anorganiſchen Körper und, wie ſeit Julius Robert Mayer bekannt, für die Energien ebenſo wie für die organiſierten Energie-Stoff-Syſteme. Die Radium-, Thorium— und Aktiniumreihe — in der erſtgenannten etwa die Amwandlung von Aran in Radium, Helium, Polonium mit Blei als Endglied — mußte uns überzeugen, daß ſelbſt die chemiſchen Elemente veränderlich ſind und ſich in einander umwandeln; die erwähnten Reihen lehrten uns ferner, weil ſie einen im Vergleich zu anderen Subſtanzen viel raſcheren Zerfall ihrer Atome aufweiſen, daß die Amwandlung auch im Mineral— reich mit Aufteilung (Differenzierung) einhergeht; endlich lehrten ſie uns, daß die Elemente noch nicht die wirklichen „Grundſtoffe“ ſind, die 286
—
jede Materie, die lebende ſo gut wie die tote, zuſammenſetzen. Die nahezu ſchon unumſtößliche Entdeckung, daß alles ſich verwandelt, nähert uns jener uralten Anſicht, die in naiver Form ſchon den griechiſchen Philoſophen vertraut war — ſo Thales, als er das All aus dem Waſſer geboren werden ließ —, der Anſchauung nämlich, daß alle Mannig— faltigkeit der Natur aus verſchiedenen Entwicklungszuſtänden ein und derſelben oder weniger Arſubſtanzen hervorgeht.
2. Der Artenwandel (Transmutabilität) a) Veränderung (Variation)
Artveränderung oder Variation — der Vorgang, deſſen Ergebnis individuelle Verſchiedenheiten einzelner Artmerkmale ſind — ſteht als Tatſache durch die im vorigen Abſchnitt beigebrachten Beweiſe feſt. Es gilt nur noch, Näheres über ihre Erſcheinungsweiſen und Arſachen zu erfahren. Ihr Maß iſt die „Variationsbreite“, der Abſtand zwiſchen den extremen Abweichungen nach poſitiver und negativer Rich— tung hin. Die einzelnen Abweichungen (Individuen oder Teile der— ſelben) heißen „Varianten“, und zwar je nachdem — bezogen auf den Mittelwert — Plus- oder Minus varianten. Die Geſamtheit der Varianten, der Größe nach geordnet, liefert die „Variationsreihe“; jene Variantengruppen, welche in größter Individuenzahl („Frequenz“) vorhanden ſind, bezeichnen die „Mode“, ſolche, die zwiſchen den Ex— tremen die Mitte halten, den „Mittelwert“ der Variationsreihe. Mode und Mittelwert fallen häufig zuſammen; dann werden die ſtärker variierenden Individuen nach der Plus- wie nach der Minusſeite ſel— tener, und zwar in direkter Proportion zum Maße ihrer Abweichungen (Queteletſches Geſetz).
So fand De Vries für die Fruchtlänge der Nachtkerze Oenothera _ rubriventris folgendes Verhältnis zwiſchen Varianten und Frequenz: Fruchtlänge in Millimetern: 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 Anzahl der Exemplare: d a (Re er
Noch regelmäßiger ift Hefferans Befund für die Zähnchenzahl am Kieferrande des marinen Borſtenwurmes Nereis limbata:
Anzahl der Zähnchen 2 4 5 6 7778 Anzahl der Individuen: 7 30 80 148 98 29 6 Pearl fand fürs Hirngewicht ſchwediſcher Männer:
Gramm.
1075 1125 1175 1225 1275 1325 1375 1425 1475 1525 1575 1625 1675 1725 1775 F r
Individuen. Tower fand für die Halsſchildzeichnung des Kartoffelkäfers Leptino— tarsa multitaeniata: Zeich fee, 6 7 89 10 11 Stpipintienzanl.sr 1 247575122 1s 26 14 123 1
Dieſe Verteilung der Varianten auf die Variationsreihe findet ihren mathematiſchen Ausdruck im Gaußſchen Zufalls- oder Fehler— geſetz: in einer Beobachtungsreihe iſt bei gleicher Beobachtungsweiſe die Häufigkeit eines Beobachtungsfehlers Funktion ſeiner Größe. Be— obachtungsfehler ſind es gewiſſermaßen, die von der Natur begangen werden, wenn ſie auf die Lebeweſen verändernd wirkt; und je gewaltiger ſolch Fehler, ſolche Abweichung ausfällt, die einen Organismus ganz aus der gewohnten Mittelmäßigkeit hinauswirft, deſto ſchwerer ereignet er ſich ohne Verluſt der Lebensfähigkeit. Präziſeſte Erfaſſung des Zu— fallsgeſetzes geſtattet die binomiſche Formel (a—+ b)n. Setzen wir hier— für konkrete Zahlen ein und rechnen die Formel aus, ſo bekommen wir ſtets eine Zahlenreihe, die ſich auffällig einer Variationsreihe nähert. Tun wir dies zunächſt nur für das Potenzzeichen, berechnen wir uns z. B. (a b), fo erhalten wir 4 + 4b + 6a’b’+4ab?’—+bt. Tun wir es jetzt auch für die Buchſtaben innerhalb der Klammer und nehmen in einfachſter Weiſe a=b=1, fo iſt 1+=1+4+6+4-1. Die Summe der ganzen Reihe ergibt die Geſamtzahl von Individuen in einem ſtatiſtiſch-mathematiſch unterſuchten Tier- oder Pflanzenbeſtande, von welchem man dann exakt angeben kann, inwieweit er von der idealen Symmetrie der Binomialformel abweicht. Führen wir dieſen Vergleich bei dem von Quetelet unterſuchten Beiſpiele der Körpergrößen von 25878 nordamerikaniſchen Freiwilligen durch:
Größe in Zoll: 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 Wirkliche Zahlen:) 2 2 20 48 75 117 134 157 140 121 80 57 26 13 5 2 1 Ideale Zahlen:?) 2 9 21 42 72 107 137 153 146 121 86 53 28 13 5 2 0
Je reichlicher man das Material bemißt, je größer die Zahl unter— ſuchter Individuen, deſto genauer ſtimmen — wenn nicht beſondere Verhältniſſe obwalten, die Variation z. B. durch äußere Faktoren in Verſchiebung begriffen iſt — die praktiſch gefundenen Zahlen mit den arithmetiſch geforderten überein.
Die Variationsreihe und ihr Vergleich mit der ausgerechneten binomiſchen Formel wird graphiſch dargeſtellt mit Hilfe von Varia— tionspolygonen und Variationskurven (Abb. 86 auf S. 320). Man trägt die gefundenen Werte auf einer Abſziſſe, die Zahl unter— ſuchter Exemplare in beliebig gewähltem Maßſtabe auf zugehörigen Ordinaten ein, deren Endpunkte man verbindet: man erhält dadurch Kurven, die ſehr häufig eingipfelig und annähernd ſymmetriſch ſind; dieſe Kurvenform erklärt ſich eben aus der Majorität mittelmäßiger Werte, wogegen diejenigen Werte, die in bezug auf das Mittel Plus— und Minusvarianten find, ſich gleichmäßig zu beiden Seiten gruppieren und proportional dem Maße ihrer Variation ſeltener werden. Dies verſteht ſich unter der Bedingung, daß das Material des variations— ſtatiſtiſch unterſuchten Beſtandes einheitlich iſt, d. h. nur kontinuierliche, gradweiſe abgeſtufte Varianten enthält. Befinden ſich aber diskonti—
1) Pro 1000 Soldaten. — ) Pro mille.
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nuierliche, ſprungweiſe abgeſtufte Varianten darin — ſeien es nun ſtarke Naſſen-, Saiſon-, Geſchlechts- oder Altersunterſchiede —, jo entſtehen doppel- und mehrgipfelige Kurven und unſymmetriſche, an zwei oder mehreren Stellen zu höherer, verſchieden hoher Frequenz anſteigende Variationsreihen. Zu entſcheiden, welcher von dieſen Fällen wirklich vorliegt, ſteht nicht in der Macht variationsſtatiſtiſcher Methoden und iſt auch nicht ihre Aufgabe, ſondern die der Syſtematik, Ethologie und verwandter biologiſcher Diſziplinen.
Auch über die Erblichkeit der Variationen vermag die Statiſtik nichts Sicheres auszuſagen, — der einfachſte Grund hierfür kann uns nach Kenntnisnahme der Mendelſchen Regeln nicht mehr verſchloſſen ſein: die Statiſtik muß nach dem äußeren Schein urteilen, der nur einen Bruchteil der in einem Individuum wirklich angelegten Erbeigenſchaften realiſiert; zu ihrer Anterſcheidung von Eigenſchaften, die ſich nicht ver— erben werden, iſt aber der Einblick in die Anlagenzuſammenſetzung un— entbehrlich. Man erinnere ſich an die rotblühenden Miſchlinge aus rot- und weißblühender Erbſe oder gar an die einfarbig roten Schnecken aus der Miſchung von gelber, ungebänderter und roter, gebänderter Varietät. Diejenigen unter den erſteren, welche nur rotblühende Erbſen— pflanzen liefern, unterſcheiden ſich äußerlich in nichts von denen, die auch weißblühende erzeugen werden; und die rote Maske der Schnecken ver— birgt nicht weniger als ſechzehn verſchiedene Kombinationen aus Gelb, Rot, Gebändert und Angebändert, von denen die rein ſtatiſtiſche Anter— ſuchung nichts erfahren kann. Zur Aufdeckung erblicher Variationen, wie aller kauſalen Beziehungen überhaupt, — namentlich auch zur Er— forſchung der Entſtehungsurſachen wahrgenommener Varianten — ge— hört unbedingt das Eingreifen des Experimentes, dem die Statiſtik be— hufs genaueſter Kenntnis des variierenden Materiales nur den Boden zu ebnen hat.
Vieles darüber iſt bereits in vorigen Kapiteln enthalten, namentlich dem über Vererbung erworbener Eigenſchaften, und in vorhergehenden Abſchnitten des gegenwärtigen Kapitels, beſonders demjenigen, der über züchteriſche Beweiſe für Abſtammungstatſachen Rechenſchaft ablegt. Danach konnte dem Leſer die Erkenntnis der erſten und eigent— lichen Arſachen aller Variation nicht verborgen bleiben: die äußeren Energien der Amwelt, die teilweiſe unmittelbar phyſi— kaliſch-chemiſch die lebende Subſtanz verändern, teils mittelbar durch die verſchiedene Tätigkeit, zu der die Organe bei geänderter Lebenslage ge— zwungen werden. Doch ſetzt natürlich die Wirkung der äußeren Fak— toren auf den lebenden Stoff deſſen Fähigkeit zur Gegenwirkung vor— aus: Verkennung dieſer Selbſtverſtändlichkeit führte oft, wenn Geſetz— mäßigkeiten der organiſchen Reaktionsfähigkeit entdeckt wurden (vergleiche nur das Verhalten der Kernſtäbchen bei Reduktionsteilung, Geſchlechts— verteilung und Befruchtung!), zum Mißverſtändnis, als ſeien fie allein maßgebend und die organiſche Variation nur durch innere Fak— toren bedingt. Wo Geſundheit und Krankheit, Entwicklungsſtadium,
Kammerer, Allgemeine Biologie 19 289
Alter und Geſchlecht, Kreuzung und Inzucht und vererbte Konſtitu— tionen irgendwelche Einflüſſe ausüben auf Veränderungen und Ver— änderlichkeiten, da ſind es nur ſekundäre, nachträgliche Wirkungen, die von jenen inneren Zuſtänden ausgehen; der primär bewirkende Anſtoß mußte aber — früher oder ſpäter, noch jetzt oder ehemals — ſtets von außen gegeben werden. Wahrſcheinlich wird das ſchon, wenn man ſieht, wie die Variationsreihen und -kurven ſich verſchieben in aufein— anderfolgenden, klimatiſch natürlich nie übereinſtimmenden Jahren (Ver— ſuche an Bohnen von Johannſen, an Kartoffelkäfern von Tower) und Jahreszeiten (Zyklomorphoſen S. 238 und Saiſonpolymorphismen S. 240); wie ſie ſich ferner ändern in verſchiedenen Gegenden, die entweder ſtändig von Bevölkerungen derſelben Art bewohnt werden (nordamerikaniſche Tiere von Norden und Oſten nach Süden und Weſten zunehmend aufgehellt und kleiner werdend — Allen, Formen— ketten der Landſchnecken auf Celebes und den Bahamas — Saraſin, Plate) oder auf regelmäßigen Wanderungen beſucht werden (Zug— vögel variabler als Standvögel — Montgomery); oder endlich in Gegenden, wohin ſie bald zufällig, bald abſichtlich verſchleppt wurden (Hainſchnecke und Sperling in Amerika mit außerordentlicher Ver— ſchiebung der Variation, von erſterer nach etlichen Jahren 67 in Europa unbekannte Varietäten! ).
Das Anbefriedigende an all dieſen Fällen liegt nur noch darin, daß man zwar erkennt, die Variabilität müſſe äußeren Urfprungs fein, aber nicht erkennt, welchen Anteil daran die einzelnen Energie— arten genommen haben. Indeſſen fehlt es heute auch an ſolch genauerem Beobachtungs- und Verſuchsmaterial nicht mehr; nur darf man nicht erwarten und unſere Erfahrungen darüber nicht dementſprechend be— urteilen, daß ein fo kompliziertes Syſtem, wie ſelbſt der primitivſte Organismus es iſt, auf die ebenfalls ſtets komplexen äußeren Ein— wirkungen in durchaus einfacher Weiſe antworten wird. Gerade die— jenigen Schriftſteller, welche dem Plasma und insbeſondere dem Keim— plasma eine ſchier unerſchöpflich hohe Zuſammenſetzung zuſchreiben — ſiehe Weismanns Determinantenlehre! —, laſſen das ganze Variations— geſchehen aus inneren Arſachen erfolgen und werden darin beſtärkt durch ihre oft mehr als naive, ſowohl unphyſikaliſche als unphyſiologiſche Deutung der Befunde, die fie mit Wirkſamkeit äußerer Urfachen gemacht haben. Sie bedenken nicht, daß in dem Maße, als ihre Vorausſetzung eines komplexen organiſchen Baues zutrifft, auch die unorganiſchen Mächte in ihrem Zuſammentreffen mit den organiſchen das elementar— einfache Gepräge verlieren müſſen.
Im folgenden gebe ich deshalb eine Zuſammenſtellung der wich— tigſten Punkte, gegen die der Experimentator, Beobachter und Theo— retiker nicht ſündigen darf, — bei ſonſtiger Gefahr, daß Ergebniſſe zu— ſtande kommen, die wegen ihrer ſcheinbaren Widerſpruchsfülle dazu ver— leiten, der Außenwelt jeden beſtimmenden Einfluß abzuſprechen und nur den inneren Variationsmechanismus gelten zu laſſen:
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1. Ein und derſelbe Faktor, in gleichem Grade ange- wendet, kann dennoch verſchiedene Reaktionen an Individuen gleicher Raſſe hervorbringen, wenn dieſe von verſchiedener örtlicher Her— kunft ſind: z. B. verhalten ſich Exemplare, die aus nördlichen Gegenden ſtammen, viel empfänglicher gegen Wärmewirkung als ſolche aus ſüd— lichen Gegenden. Dieſer oft überſehene Amſtand wird zur häufigen Fehlerquelle bei Freilandbeobachtungen, indem er gewiſſe Veränderungen der Feuchtigkeit und Kühle zuzuſchreiben verleitete, die in Wahrheit der Wärme und Trockenheit zuzuſchreiben waren, wenn der veränderte Be— ſtand eine relativ wärmere und trockenere Terraininſel inmitten eines kühl⸗feuchten Nevieres bewohnte und dann für die Kontraſtwirkung um ſo empfänglicher geworden war.
2. Ein und derſelbe Faktor, in verſchiedenen, wenn auch nahe beiein ander liegenden Graden angewendet, bewirkt an dieſer Grenze oft entgegengeſetzte Reaktionen bei Individuen gleicher Raſſe und Herkunft: z. B. liegt für die grüne Wieſeneidechſe (Lacerta serpa, — vgl. auch S. 155 und 326) bei 37° C ein kritiſcher Punkt, bis zu welchem die ſchwarzbraunen Farbftoffe („Melanine“) ſich vermehren und Schwarzfärbung („Melanismus“) erzeugen, von dem ab aufwärts aber ſelbſt ſie der Hitze nicht mehr ſtandhalten, an ſtärkſt erponierten Stellen zerſtört werden und eine hellfleckige („melano- leukiſche“) Form entſtehen laſſen.
3. Ein und derſelbe Faktor pflegt, in ſeinen gegenſätz— lichen Extremen angewendet, gleiche Reaktionen hervorzurufen: von chemiſchen (S. 169) und thermiſchen Einflüſſen (S. 267) haben wir dies ſchon gehört: es reagieren Käfer und Schmetterlinge auf Froſt und Hitze mit gleichen Abänderungen, während Wärme und Kühle hiervon und untereinander abweichende Anderungen hervorbringen; es gibt z. B. einen Hitze- wie einen Froſtmelanismus und — bei noch ſtärkeren Extremen — einen Hitze- und Froſtalbinismus.
4. Verſchiedene Faktoren können, auf gleichartige und auch ſonſt gleichbeſchaffene Organismen angewendet, von gleichen Reaktionen begleitet ſein: Melanismus z. B. kann, wie wir vernahmen, durch beide Temperaturextreme, aber auch durch beide Feuchtigfeitsertreme, ferner durch ſchwarzen Boden (S. 156 und 268) und endlich durch reiche Ernährung zuſtande kommen. Freilich gewährt dann die unter gemeinſamem Namen, wie „Melanismus“, zuſammen— gefaßte Erſcheinung nicht jedesmal genau das gleiche Bild; ſo kommt Dürre— melanismus bei Echſen durch Verdüſterung der Grundfarbe und dadurch ſekundär bedingtes Verſchwinden der Zeichnung, Hitzemelanismus durch Ausbreitung der Zeichnung und dadurch bedingtes Verdrängtwerden der Grundfarbe zuwege.
5. Zwei aufeinanderfolgende Entwicklungsſtadien ver— halten ſich manchmal ein und demſelben Faktor gleichen Grades gegenüber verſchieden oder ſogar konträr: bei Froſchlarven bis knapp vor Durchbruch der Vorderbeine wirkt qualitative Anter—
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ernährung, — von nun an Aberernährung verzögernd auf die Ver— wandlung, ebenſo bei Molchlarven, wo nur das Stadium nicht ſo mar— kant zu beſtimmen iſt wie bei Froſchquappen. Beim Blattkäfer läßt Veränderung der Larve durch Temperatur und Feuchtigkeit den Käfer unverändert, wogegen er bei Beeinfluſſung der Puppe (S. 272) ver— ändert ausſchlüpft.
6. Die Faktoren find dann mit Roux noch zu ſcheiden in voraus— ſetzende (realiſierende oder aktivierende) und beſtimmende (deter mi— nierende oder ſpezifiſche). Wir benötigten dieſe Anterſcheidung ſchon früher (S. 56, 57) für das Verſtändnis der Neizvorgänge; ein uns zum Zeil ebenfalls bereits bekanntes Beiſpiel (S. 268) ergänze fie nunmehr in bezug auf die Reizwirkung: beim Feuerſalamander vergrößern ſich auf gelbem Boden die gelben Flecken, auf naſſem Boden entſtehen zwiſchen den alten Flecken zahlreiche neue, kleine Sprenkel: beides unterbleibt im Finſtern. Farbe und Feuchtigkeit ſind hier determinie— rende Faktoren, das Licht iſt für beide Erſcheinungen der realiſierende Faktor. — N
Ein allgemeiner Aberblick experimenteller Ergebniſſe, die mit Ein— wirkenlaſſen äußerer Faktoren bisher erzielt worden ſind, gewährt uns zunächſt mit de Vries den Eindruck, dem wir uns ſchon bei Beſprechung der geſchlechtsbeſtimmenden Urſachen nicht entziehen konnten (S. 187): daß nämlich viele, wenn nicht alle äußeren Einflüſſe ſich ſchließlich auf ſolche der Ernährung zurückführen laſſen, auf zeitweiſe Schwan— kungen und Intenſitätsverſchiedenheiten im Chemismus des Stoffwechſels. So wird bei Temperaturerhöhung die Aſſimilationstätigkeit wechſel— warmer Lebeweſen ſtärker; und jo kommt es, daß viele Reſultate, die in der Variations- und ebenſo in der Sexualitätsforſchung der Wärme zugeſchrieben werden, ganz ebenſo auch durch Maſt erreicht werden können. Alle Einflüſſe, die den Stoffwechſel in günſtiger Weiſe ver— ſchieben, erzeugen kräftigere, meiſt dunklere oder glänzende Farben, zu— weilen bis zu totaler Schwärzung; bedeutendere Körpergröße, reichere ſtrukturelle und architektoniſche Ausbildung, — laſſen das Weibchen Geſchlechtsmerkmale des Männchens hinzugewinnen. Alle Einflüſſe, die den Stoffwechſel herabſetzen, erzeugen mattere oder blaſſere Farben, zuweilen bis zu albinoähnlichen Bleichungsformen, Zwergwuchs (Na—
nismus), Einſchmelzung geſtaltlicher Differenzierungen, — laſſen das
Männchen eines Teils ſeiner Geſchlechtsabzeichen verluſtig gehen und ſo zum kindlichen oder weiblichen Typus degradiert werden.
Wärme und geringe Dichte des Aufenthaltsmediums wirken be— ſonders mit Vergrößerung der oberflächlichen, unter genannten Be— dingungen ungehinderter wachſenden Flächen (Hautanhänge, Schalen, Borſten, Stacheln, Lappen, Blätter); doch iſt damit nur größere Wachstumsgeſchwindigkeit, nicht auch abſolute Größenzunahme des Geſamtkörpers verknüpft, indem ſpezielle Hitzeformen im Gegenteil oft kleiner bleiben. Eindringen von Feuchtigkeit in die dadurch praller (ſturgeſzenter“) werdenden Gewebe — oft eine Gefolgserſcheinung bei 292
Abnahme des Salzgehaltes im Waſſer — verurfacht hingegen durch fortgeführtes Teilungswachstum der Zellen außerdem auch erhöhte End— größen. Schwerkraft, mechaniſche Kräfte ſowie Magnetismus und Elektrizität (ſiehe die Davenportſche Einteilung der äußeren Agentien auf S. 55, 56) haben gewöhnlich nur einen geringen, teilweiſe raſch vor— übergehenden, nicht dauernd und erblich fixierbaren Einfluß auf die Variabilität, die ſich hier mehr in Schädigung oder Förderung äußert, nicht aber im Zuſtandekommen echter organiſcher Varianten. Jede Schwankung in den Lebensumſtänden, welcher Energieart ſie auch an— gehöre, hat aber Erhöhung, — jeder Ausgleich, Beſtändigkeit in der Lebenslage hat Verminderung der Variabilität zur Folge.
b) Allmähliche und ſprungweiſe Veränderung (Modifi— kation und Mutation)
Im gleichartigen Beſtande einer Tier- oder Pflanzenraſſe treten bisweilen mit einem Male wenige oder viele Exemplare auf, die eines oder mehrere, anſcheinend ganz neue, wenigſtens hier noch nie geſehene Merkmale zeigen. Solche Exemplare heißen Mutanten, die abweichen— den Merkmale Mutationen, auch diskontinuierliche oder Sprung— variationen. Dabei möge man nicht unbedingt an große Sprünge denken: auch kleine Schritte kommen vor und fallen unter den Begriff. Iſt das ganze Ausſehen eines Lebeweſens verändert, ſo ſpricht man von Totalmutation, — ſind nur wenige Merkmale verändert, von Partialmutation. Sind dem bisherigen Merkmalsſchatz anſchei— nend neue Elemente hinzugefügt worden, ſo nennt man die Mutation progreſſiv; iſt die Veränderung durch Fortfall von Elementen zu— ſtande gekommen, fo iſt fie Degreffiv; ſtellt fie einen früheren Zuſtand wieder her, ſo heißt ſie regreſſiv. Die regreſſive oder retrogreſſive Mutation deckt ſich daher teilweiſe mit dem alten Sammelbegriff des Rückſchlags oder Atavismus.
Fragen wir nach Urfachen der Mutation, jo ſollten es nach ur— ſprünglicher Anſicht des Ausgeſtalters der neuzeitlichen Mutations— theorie, de Vries, und feiner Schule nur innere Arſachen fein: Er— ſchütterungen in der molekularen Struktur des Keim— plasmas, wobei die bisherige Koppelung der Elemente eine Ver— ſchiebung erfährt. De Vries vergleicht den Vorgang mit dem Fall eines auf die Kante geſtellten Prismas, das nun mit einer anderen Fläche auf den Boden zu liegen kommt als derjenigen, wo es vorher lag; ohne daß von außen etwas hinzugekommen oder weggenommen worden wäre. Noch paſſender iſt der Vergleich mit einer Kaleidoſkop— röhre: die bunten Splitterchen in ihrem Innern entſprechen den Eigen— ſchaftsanlagen und erfahren nach jeder Drehung der Röhre ohne Ver— änderung ihrer Zahl und Beſchaffenheit eine Lageveränderung, mit der zugleich eine Bildveränderung gegeben iſt; jedesmal erſcheint ein anderer Stern, aus gleichgebliebenen Beſtandteilen ſtets aufs neue harmoniſch geordnet.
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Vergeſſen wir aber nicht, daß, um das Prisma auf die Kante und in labiles Gleichgewicht zu ſtellen, — um das Kaleidoſkop zu drehen, eine äußere Kraft nötig war. And die iſt eben auch bei der organiſchen Mutation ſtets wirkſam. Es iſt ſehr bezeichnend, wie viele Mutationen erſtens gerade im Gefolge klimatiſch ungewöhn— licher Jahre auftauchen (Simroth); zweitens an Lebeweſen, die in Kultur genommen wurden, in den Zuſtand der Domeſtikation und damit in gründlich veränderte Lebenslage gerieten; drittens an Organismen, die aus ihrem Vaterlande verſchleppt und in einer neuen Heimat verwildert ſind; viertens an ſolchen, die willkürlich des Experimentes halber ver— änderten Bedingungen ausgeſetzt werden. Die berühmteſten Mutanten fallen ſtets in eine von dieſen Kategorien: ſo die de Vriesſchen Mu— tanten von Oenothera Lamarckiana, der aus Nordamerika ſtammenden und in Europa verwilderten Nachtkerze; ſo die krummbeinigen Otter— ſchafe, aufgetreten in einer aus Europa nach Nordamerika exportierten und dort zur Weide getriebenen Herde; ſo die allgemein als Muta— tionen bezeichneten Experimentalformen der Towerſchen Blattkäfer Taf. III, Fig. 2); ſo endlich die Mutante des gewöhnlichen Schöll— krautes (Chelidonium majus) mit tief fiederſchnittigen, ſtatt bloß ſeicht geſägten Blättern, das Ch. laciniatum, welches in einem Garten mit gedüngter und ſomit auch ſonſt anders als in unberührter Natur zu— ſammengeſetzter Erde entſtanden war.
Mit Annahme äußerer Triebkräfte als Arſachen der Mutation ſteht auch das ſonſt unerklärliche Phänomen der Mutations- und Prämutationsperioden im Einklang. Die Lebensbedingungen wirken verändernd auf den Organismus; aber nicht ſogleich kommt not— wendigerweiſe die Veränderung äußerlich ſichtbar zum Durchbruch. Benützen wir wieder den Vergleich mit Prisma und Kaleidoſkop: das Prisma ſtellt ſich auf die Kante, die Kaleidoſkopröhre dreht ſich lang— ſam; aber noch fällt jenes nicht auf die andere Fläche, noch bleibt das Bild im Rohr unverändert. Schließlich kommt ein Augenblick, da die treibende Kraft das ſtatiſche Gleichgewicht unſeres Analogieobjekts, das dynamiſche Gleichgewicht des Lebeweſens überſchreitet: und nun plötz— lich fällt es in den neuen Gleichgewichtszuſtand hinein, der ſich jetzt auch nach außen hin dem ehemaligen Zuſtand gegenüber als deutliche Veränderung kundgibt. Da die veränderten Lebensbedingungen immer auf einen ganzen Beſtand von Individuen gleichzeitig und gleichſinnig einwirken, jo wird jener Moment des „Amſchnappens“ ebenfalls bei vielen oder allen gleichzeitig eintreten, ſo daß der Mutationsprozeß da— durch nicht ſowohl einen periodiſchen, als auch gleichſam epidemiſchen Charakter annimmt.
Es verbleibt uns das Verhältnis der in vollem Amfang erblichen diskontinuierlichen oder ſprunghaften Variationen („Mutationen“) zu den angeblich nicht erblichen kontinuierlichen oder ſchrittweiſen Varia— tionen ( „Modifikationen“ oder „Fluktuationen“ abzugrenzen. Zunächſt ift der in den Bezeichnungen ausgedrückte Anterſchied aufzu— 294
geben, wonach alle Veränderung, die vererbbar fein ſoll, einen großen, — jene, die nicht vererbt wird, einen kleinen Schritt oder Sprung aus— macht. Halten wir uns deshalb an die Ausdrücke „Mutation“ für die erblichen, „Modifikation“ für die nicht erblichen Veränderungen. Es gibt Mutationen, die ſo klein ſind, daß ſie nur mit ſubtilſten Mitteln der Forſchung erkannt werden; und es gibt Modifikationen, die dem Organismus ein total verändertes Ausſehen verleihen und trotzdem bei feinen Nachkommen nicht wiederkehren. An einem zweiten Anterſchied wird von vielen Vererbungsforſchern noch feſtgehalten, nämlich daß nur ſolche Veränderungen als Mutationen und wirklich vererbend anzuſehen ſeien, die beim erſtmaligen Auftreten ſofort den maximalen Grad ihrer Ausbildung erlangen und dann ſofort konſtant bleiben, alſo auch ſchon bei der nächſten Generation in vollem Amfang wiedererſcheinen. Ver— änderungen aber, die einen allmählichen Zuwachs erfahren, ſeien als Modifikationen zu betrachten; und wenn der Zuwachs ſich nicht bloß am Individuum, ſondern auch in einigen aufeinanderfolgenden Genera— tionen ſummiert, ſo ſei das keine echte Vererbung, ſondern bloß „Nach— wirkung“, — gleich derjenigen, die geſunde, kräftige, wohlgenährte Individuen ganz unſpezifiſch auch wieder nur ebenſolche gut konſtituierte dachkommen erzeugen läßt.
Gegen dieſe Konſtruktion müſſen gewichtige Gründe geltend gemacht werden: einmal kommt auch bei Formen, die einhellig als Mutationen gelten, Abgeſtuftſein des Variationsmaßes je nach Stärke der äußeren Einwirkung vor, ſo bei Towers Kartoffelblattkäfern; dann kommt bei ebenſo zweifelloſen Mutanten in der erblich übertragenen Form eine gewiſſe Abſchwächung des Variationsausmaßes vor; zum dritten trifft die völlige individuelle Konſtanz und volle generelle Erblichkeit haupt— ſächlich bei ſolchen Mutationen zu, deren Arſachen nicht bekannt ſind (ſogenannte „ſpontane“, „autogene“ Veränderungen oder „Sports ), aber ſelbſtverſtändlich irgendwie unkontrollierbar in den Kulturbedingungen enthalten find. Dieſe verantwortlichen Arſachen wirken dann unerkannt und ununterbrochen auf ſämtliche Generationen ein, die eben deshalb ſich in ihrer Veränderung gleichbleiben. Viertens tritt unter Amſtänden ein und dieſelbe Veränderung bald als erbliche Mutation, bald als nicht erbliche Modifikation auf; das treffendſte Beiſpiel dafür aus dem Tierreich iſt abermals die Blattkäferzucht von Tower (Taf. III, Fig. 2); aus dem Pflanzenreich die weiß, ſtatt rot— blühende chineſiſche Primel laut Baur.
Sollten wirklich dieſe Veränderungen, beide Male in genau gleicher Geſtalt auftretend und nur in ihrer erblichen Kraft verſchieden, das eine Mal etwas prinzipiell Verſchiedenes ſein als das andere Mal? Liegt es nicht näher, daß die Veränderung im Falle der Nichterblichkeit nur einfach minder tief reicht, nicht bis ins Gefüge des Keimplasmas hinein? —: entweder weil der ſie bewirkende Faktor nicht zur richtigen, empfänglichen Zeit, oder weil er nicht ſtark und lange genug eingewirkt hat; oder endlich, weil die Veränderung von mehreren unſpezifiſchen
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Faktoren (3. B. das eine Mal durch Wärme, das andere Mal durch Feuchtigkeit) in gleichem äußeren Gepräge, aber zunächſt verſchiedenem Reſultat in bezug auf Erblichkeit geſchaffen werden kann. Das erſte trifft nachweislich zu bei den mutationsgleichen Modifikationen des Kartoffelkäfers; das zweite gilt für die Mehrzahl nichterblicher Modi— fikationen; das letzte vermute ich für die weißblühenden Sorten der chineſiſchen Primel. — Modifikation und Mutation erſcheinen danach nur als Stadien ein und desſelben Variationsgeſchehens: die Modi— fikation ift nur unfertige Mutation, die Mutation ledig— lich beſonders ſchnelle und intenſive Modifikation. In dem einen Falle vollzieht ſich alles Nötige ſchon im Verlaufe einer Keimesentwicklung; dann erſcheint es uns, ſelbſt wenn nur ein kleiner Schritt vorliegt, als Mutation, — vorausgeſetzt, daß es erblich iſt (was oft der Fall, da ſo ſchneller Vollzug mit großer Intenſität der ver— antwortlichen Reizwirkung einhergeht). Im anderen Falle vollzieht es ſich erſt im Laufe einer, obgleich zuweilen nur wenige Generationen betragenden Stammesentwicklung; dann erſcheint es uns, ſelbſt wenn ſchließlich ſchon ein großer Schritt vorliegt, wegen der Steigerungs— fähigkeit als „bloß nachwirkende“, fluktuierende Modifikation. Ver— ſchieden iſt nur entweder der in der Entwicklungseinheit (Individuum, Generation) zurückgelegte Weg, falls die erzielten Veränderungen in zwei gegebenen Fällen ungleich ſtark ſind; oder verſchieden iſt die Ge— ſchwindigkeit, mit der dieſer Weg durchmeſſen wurde, wenn die Veränderungen in beiden Fällen (bei Mutation und Modifikation) gleich ſtark ſind.
Nach dieſer Auseinanderſetzung erſt find wir lin der Lage, zwei Einwände zu berückſichtigen, die im Abſchnitt über Vererbung er— worbener Eigenſchaften, gegen die ſie ſich richten, noch nicht erörtert werden konnten. Die Gegner der Lehre, daß körperlich („ſomatogen“) und geiſtig-ſeeliſch („pſychogen“) erworbene Eigenſchaften ſich vererben, ſetzen den bejahenden Befunden außer den Einwürfen, die wir ſchon kennen gelernt haben, noch folgende beiden Haupteinwände entgegen: die einen ſagen, es handle ſich „nur“ um Mutation, wobei ſie Mutationen aus unbekannten inneren Urſachen meinen oder die Außen— welt höchſtens als unſpezifiſchen Auslöſungsfaktor einer längſt keim— plasmatiſch vorbereiteten Amgeſtaltung gelten laſſen. Die anderen ſagen, es handle ſich um bloße Modifikation, deren Nach— wirkung geeignet ſei, Erblichkeit vorzutäuſchen. Es iſt klar, daß dieſe Einwände einander im eigenſten Sinne ihrer Arheber widerſprechen, denn iſt Mutation und Modifikation etwas Verſchiedenes, ſo können dieſelben Neuerwerbungen nicht beides zugleich ſein. Betrachten wir aber Modifikation und Mutation in unſerem Sinne, alſo auf der Baſis eines überbrückbaren Gradunterſchiedes, ſo entfallen die Einwände ganz, denn dann dürfen wir uns mit der Umkehr des Einwurfes: „Erworbene Eigenſchaften ſind ja nichts weiter als Mutationen“ gerne einverſtanden erklären, indem wir ſagen: „Alle Mutationen ſind nichts weiter 296 a
als vererbbare erworbene Eigenſchaften!“ Gleichwie auf dem Boden des Keimplasmabegriffes (S. 277), iſt ſomit auch auf dem— jenigen der Variations- und Mutationslehre für einſichtsvolle Gegner die Möglichkeit eines Ausgleiches ihrer zum e herabgeſunkenen widerſprechenden Meinungen gegeben.
c) Ausgleichung (Akkommodation) und Anpaſſung (QUd- aptation).
Man begegnet häufig dem Fehler, daß jede durch äußere Beein— fluſſung erzeugte Veränderung als „Anpaſſung“ bezeichnet wird. Nun iſt dies unzuläſſig ſchon mit Rückſicht auf die im Worte angedeutete zweckmäßige Beſchaffenheit der Anpaſſung. Außer der zweckmäßigen (adaptiven) gibt es zweckloſe (indifferente), ja ſogar zweckwidrige (deſtruktive) Abänderungen; nur die erſten entfallen in den Begriff der Anpaſſung, — und von „ſchädlichen Anpaſſungen“ zu reden iſt ein Anding.
Anderſeits iſt nicht zu leugnen, daß durch jede aus der Amgebung kommende Veränderung ein Gleichgewichtszuſtand zwiſchen Lebeweſen und Milieu hergeſtellt wird. Tietze formuliert dieſen Tatbeſtand in ſeinem Gleichgewichts- oder Proportionalgeſetz, das in An— wendung auf Organismen nichts weiter iſt als ein Sonderfall des all— gemeinen Arſachen- oder Kauſalgeſetzes: „Jedes, namentlich aber auch jedes organiſche Ding, iſt von einem oder mehreren anderen Dingen (von ſeiner Amgebung) derart abhängig, daß es infolge der Ver— änderung derſelben, wenn ſie es nicht vernichtet, ſelbſt automatiſch eine partielle Veränderung erleidet und daher automatiſch zu einem partiell neuen Ding wird. Selbſtverſtändlich iſt dieſe Veränderung des ab— hängigen Dings zu der es beherrſchenden Umgebung ftet8 proportional. Dieſe Proportionalität hat die Wirkung, daß einerſeits die erlittene Veränderung nicht ins Endloſe ſtatthat, ſondern, von der Umgebung abhängig und daher durch ſie in ihrem Maße beſchränkt, nach Er— reichung der entſprechenden Proportion aufhört, aber auch den Angriff der Amgebungsänderung aufhören macht.“
Nur braucht, wie geſagt, der ſtattgefundene Ausgleich zwiſchen Lebeweſen und Aufenthaltsmedium fürs erſtere nicht immer förderlich zu ſein, ſondern kann zwiſchen fördernd und vernichtend alle Mittelſtufen von gleichgültig zu unzweckmäßig einnehmen. Es empfiehlt ſich daher, für die ſichtbarlich mit der Außenwelt kauſal zuſammenhängenden Ver— änderungen ohne Rückſicht auf ihren Nutzen das Wort „Aus— gleichung“ (Akkommodation, Adäquation) einzuführen. Da wir im vorletzten Abſchnitt, der die Variation im allgemeinen behandelte, die Anſicht ausſprachen, daß die äußeren Energien in letzter Inſtanz für ſämtliche Abänderungen verantwortlich ſeien, ſo könnte es ſcheinen, als decke ſich der Begriff „Akkommodation“ mit demjenigen der „Variation“ und ſei überflüſſig; wir wollen ihn indes auf ſolche Variationen be— ſchränken, die offenkundig und unmittelbar von äußeren Amſtänden ab—
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hängen, — wollen ihn nicht auch auf jene Variationen ausdehnen, die durch vielfache Vererbung eine gewiſſe Anabhängigkeit von der Außen— welt erlangt haben. Variation ſtelle den weiteſten Begriff dar, worin alle Abweichungen inbegriffen ſind, namentlich auch ſolche, die durch den inneren Arſachenmechanismus der Chromatinverteilung, inneren Sekretion, des Altwerdens, Geſchlechtes und ſonſtiger ererbter Kon— ſtitutionen zutage treten; Akkommodation ſei der engere Begriff, gültig für die beſonderen Abweichungen, welche von Licht, Temperatur, Feuchtigkeit, Nahrung geſchaffen werden und als erworbene Konſtitutionen zutage treten. And wieder innerhalb dieſer Akkommodation befinden ſich die Adaptionen von ſpeziell und deutlich zweckmäßigem Charakter eingeſchloſſen. Scharfe Grenzen beſtehen natürlich zwiſchen Akkommodation und Adaption ebenſowenig wie zwiſchen Modifikation und Mutation; feſte Grenzen gibt es nirgends in der Natur, — und wollte man nach ſolchen fahnden, ſo wäre jede, unſeren Begriffen noch jo notwendige Anterſcheidung illuſo— riſch. In unſerem Fall iſt keine Schranke auffindbar, einerſeits, weil wir nicht immer mit Sicherheit zu beurteilen imſtande ſind, ob eine nutzlos erſcheinende Ausgleichung ihrem Träger wirklich keinen Vorteil bringt und dann als Anpaſſung zu betrachten wäre; anderſeits ſind wir leicht geneigt, einen Nutzen hineinzugeheimniſſen, wo in Wirklich— keit vielleicht eine ganz indifferente Ausgleichung vorliegt; drittens endlich kann ein und dieſelbe Einrichtung zuzeiten nützlich, zu anderen Zeiten gleichgültig oder ſchädlich ſein oder ſogar gleichzeitig ihre guten und ſchlechten Seiten haben.
Nicht bloß, wie man's gewöhnt iſt, für die eigentlichen Anpaſſungen, ſondern für alle Ausgleichungen gilt die übliche Einteilung in direkte oder paſſive (Geoffroyſches Prinzip) und funktionelle oder aktive (Lamarckſches Prinzip). Direkt iſt eine Ausgleichung, wenn die lebende Subſtanz durch chemiſch-phyſikaliſche Wirkung geändert worden iſt (3. B. Bräunung der Haut durch ultra-violette Strahlen); funktionell — das Wort „indirekt“ vermeide ich hier, weil man öfter die durch Zuchtwahl bedingten ſelektiven Anpaſſungen (vgl. den folgenden Abſchnitt) ſo bezeichnet findet — iſt eine Ausgleichung dann, wenn die lebende Subſtanz ſich durch geänderte Betätigung ſelbſt geändert hat (3. B. Stärkung eines Muskels durch Abung). Natürlich iſt ſie zum veränderten, vermehrten, verminderten Gebrauch mittelbar gleichfalls durch chemiſch-phyſikaliſche Zuſtandsänderungen gezwungen worden.
Abermals haben wir das Fehlen klarer Grenzen zu betonen. Bei der direkten und funktionellen Ausgleichung iſt dies um ſo wichtiger, als noch immer behauptet wird, jene ſei unter Amſtänden erblich bzw. unterliege der „Nachwirkung“ oder „Scheinvererbung“, — während für dieſe angeblich noch kein einziges einwandfreies Beiſpiel bekannt ſei, wo ein durch Gebrauch oder Nichtgebrauch erworbenes Merkmal ſeinen Erwerber und Träger überlebt habe. Zuerſt ſei daran erinnert, daß der Anterſchied zwiſchen beiden Hauptarten der Akkommodation nur
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darin beſteht, daß die elementaren Energien unmittelbar oder durch Vermittlung geänderter Organtätigkeit verändernd wirken. Wie ſie aber auch abgeſehen davon ineinander übergehen bzw. eigentlich überall zuſammenfallen, ſoll am Beiſpiel des Farbenwechſels illuſtriert werden. Das Chamäleon iſt in dieſer Hinſicht berühmt geworden; doch ſein Farbenwechſel intereſſiert uns hier weniger, weil er nicht auf der Fähig— keit beruht, ſich einer umgebung von beliebiger Farbe anzupaſſen, ſondern nur von verſchiedenen Erregungszuſtänden — Wohlbefinden, Hunger, Zorn, Liebe und Schreck — beſtimmt wird. Gewiſſe auf dem Grund der Gewäſſer lebende Fiſche (S. 311, Abb. 81), Krebſe und Kopffüßer dagegen nehmen wirklich, wie uns übrigens (S. 72, 268) nicht mehr neu iſt, in wenig Stunden oder ſogar Minuten die Farbe des Bodens an, auf den ſie bei ihren Wanderungen gelangen oder auf den ſie abſichtlich des Experimentes halber geſetzt werden. Veräſtelte Farbſtoffzellen der Haut (Farbſtoffträger oder „Chromatophoren“) ziehen ſich je nach— dem zuſammen oder dehnen ſich aus (Abb. 78); auf hellem Grunde erfolgt Kontraktion und daher allgemeine Aufhellung; auf dunklem
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Abb. 78. Farbſtoffzelle (Chromatophor) eines Krebſes (Garneele, Palaemon) links in Kontraktion, nach rechts in zunehmender und endlich maximaler Expanſion. (Unter Benutzung der Figuren von Meguſar.)
Grund Expanſion und deshalb allgemeine Verdüſterung. Auf ge— miſchtem Grund lokale Kontraktion, an anderen Stellen zugleich Er: panſion, ſo daß helle und düſtere Flächen in entſprechender Flecken— oder Marmelzeichnung miteinander abwechſeln. Bewirkt der Farbwechſel, wie bisher beſchrieben, nur den Helligkeitsgrad und die Verteilung von Licht und Schatten, ſo wird durch auswahlweiſe Kontraktion und Ex— panſion — Zuſammenziehung der ungleichfarbigen, Ausdehnung der gleichfarbigen Chromatophoren — auch ſpezifiſche Farbanpaſſung erreicht. Menge und Art der Farbſtoffe („Pigmente“) bleibt bei dieſem ſchnellen, „phyſiologiſchen“ Farbwechſel dieſelbe; die Farb— ausgleichung beruht nur auf den Bewegungen und Stellungen der in ihrer Zahl konſtant bleibenden Farbſtoffzellen.
Faſt noch geläufiger als die Exiſtenz von Tieren mit raſchem Be— wegungsfarbwechſel iſt das Faktum, daß ſehr viele Tiere dauernd ihrer Amgebungsfarbe in hohem Grade gleichen: die wüſtenfarbigen Löwen und Gazellen, die ſchneefarbigen Eisbären und Hermeline, die erdfarbenen Hafen (S. 310, Abb. 80), Hamſter, Sperlinge und Lerchen, die gras- oder laubfarbenen Smaragdeidechſen und Heuſchrecken (S. 313, Abb. 82) find Beſitzer ſolcher Schutz- oder Deckfarben. Obgleich derartige Farbanpaſſungen nicht ſo ſchwankend ſind und ſich nicht ſo
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leicht rückgängig machen laſſen wie die anderen, können wir uns doch auf experimentellem Wege eine Vorſtellung davon machen, wie ſie zu— ſtande kommen. Man bat fie bisher meiſt als ein Ergebnis der Zucht— wahl angeſehen, ja als einen der letzten Punkte, wo die Zuchtwahl— wirkung zur Erklärung organiſcher Zweckmäßigkeit und Merkmals— entſtehung unentbehrlich ſein ſollte. Wir werden im nächſten Abſchnitt reſümieren können, daß ſelbſt die protektiven Färbungen für das Zucht— wahlprinzip keine Zufluchtsſtätte mehr bedeuten; jetzt ſchaffen wir für dieſes Schlußergebnis das notwendige tatſächliche Fundament.
Geeignete Verſuchsobjekte, wie Salamander (S. 268, Abb. 72, und S. 269, Abb. 73), Kröten, Nacktſchnecken, nehmen, jahrelang auf be— ſtimmtfarbigem Grund gehalten, nach und nach deſſen Tönung und Zeichnung an. Dieſer langſame Farbwechſel beruht nicht auf wechſel— weiſem Zuſammenziehen und Ausdehnen der dabei konſtant bleibenden Pigmentvorräte, überhaupt nicht auf Pigmentbewegung und Ver— ſchiebung, ſondern auf Vermehrung bzw. Verminderung ent— ſprechender Sorten von Farbſtoffzellen. Auch hier begegnen wir behufs Herſtellung ſpezieller Farbanpaſſungen dem elektiven Ver— fahren: gleichfarbige Chromatophoren ſchlagen ein beſchleunigtes Teilungs— tempo ein, ungleichfarbige hören zu wachſen auf. Eine tiefe Kluft ſchien dieſen langſamen „morphologiſchen“ oder Geſtaltungsfarb— wechſel vom ſchnellen phyſiologiſchen oder Bewegungsfarbwechſel zu trennen. — Nun vergegenwärtige man ſich aber folgenden Fall: eine halbwüchſige Salamanderlarve wird auf gelbem Grund gehalten; als— bald ſieht ſie vorwiegend gelb aus, weil ihre gelbes Pigment führenden Farbſtoffzellen ſich erpandiert haben. In dieſem Zuſtande der Aus— dehnung geht aber die Kohäſion der Zelle eher verloren als im Zuſtande der Zuſammenballung; die Zelle teilt ſich früher, als ſie es kontrahiert getan haben würde, in zwei Zellen, die ſich nun ihrerſeits ausdehnen und raſcher zur abermaligen Vermehrung gelangen uſw., wodurch die andersfarbigen, kontrahierten Elemente verdrängt und aufgeſogen werden. So ſtellen ſich morphologiſcher und phyſiologiſcher Farbwechſel als bloße Entwicklungsſtadien ein und desſelben Farbengeſchehens dar und ſtehen in innigem genetiſchen Zuſammenhange.
Nun aber weiter: wir ſahen, daß die Reſultate des Geſtaltungs— farbwechſels vielfach erblich ſind. Man pflegt ſie unter die „direkten Ausgleichungen“ einzureihen und daher an ihrer Erblichkeit — wobei es für Gegner der Vererbung erworbener Eigenſchaften nur heißen muß: „Scheinerblichkeit“ — weiter nichts Auffälliges zu finden. Beruht denn nicht aber auch dieſe direkte Ausgleichung auf einer geänderten Funktion? Wenn der morphologiſche Farbwechſel dem phyſiologiſchen entſpringt, fo iſt feine erſte Arſache die geänderte Aktivität des Farbzellenapparates, vermöge deren die eine Zellſorte in Zuſammenziehung, die andere in Ausdehnung übergeht.
Ein anderes Beiſpiel dafür, daß direkte und funktionelle Aus— gleichungen keine wirklich getrennten Dinge find, bietet die Anterſuchung
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der menſchlichen Fußſohle (Abb. 79). Schon beim alten Anatomen Albinus findet ſich die Angabe, daß die mächtige Hornſchwiele, die ſich dort proportional der Druckbeanſpruchung, alſo geſteigert durch Körper— gewicht und vieles Gehen, entwickelt, ſchon beim Neugeborenen vor Gebrauch der Beine als Verdickung der entſprechenden Hautpartien nachweisbar ſei. Semon hat dieſen eklatanten Fall der Vererbung einer funktionellen Veränderung neuerdings nachgeprüft und beſtätigt; ja gefunden, daß die Verdickung der Oberhaut und das durch ſtarke
Abb. 79. Vererbung der Drudihwielen- Anlage auf der menſch—
lichen Fußſohle: rechts Sohle mit der „Meyerſchen Linie“ ſtärkſten Auf—
tretens und ſtärkſter Schwielenbildung (a b). Links oben Schnitt durch die
Haut der Fußſohle, unten des Fußrückens bei einem 7½ Monate alten Embryo:
HSch Hornſchicht, KSch Keimſchicht der Oberhaut, PK Papillarkörper der
Anterhaut. (Die Schnitte nach Semon, die beigegebene Orientierungsfigur aus Altſchul, Körper- und Geſund— heitslehre.)
Faltungen angezeigte raſchere Wachstum des Papillarkörpers der Anter— haut ſchon im ſiebenten Embryonalmonat ſehr deutlich ſei, — ſowie, daß es an denjenigen Stellen am ausgeſprochenſten ſei, die zum ſpäteren ſtärkſten Laſtentragen auserſehen ſind: Beere der großen Zehe, Fuß— ballen, Ferſe. Auch ein angeborener („kongenitaler“) Klumpfuß, deſſen Rücken zum Auftreten benützt wurde, zeigt an denſelben Stellen der Sohle die charakteriſtiſchen Hautverſtärkungen. Damit die veränderte angepaßte Benützung zuſtande komme, mußte eine direkte paſſive Beein— fluſſung ſtets vorausgegangen ſein: im Falle der Schwiele iſt dies der Druck, ein mechaniſches Agens. Die Gegner der Vererbung erworbener Eigenſchaften werden dieſes Argument ſofort aufgreifen und die Schwiele als paſſive Anpaſſung deuten, ihren Charakter als erbliche aktive An—
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paſſung beſtreiten. Wir vermögen umgekehrt zu folgern, daß aktive Anpaſſungen ebenſo erblich ſein müſſen wie paſſive, weil erſtere ſo gut wie letztere einer direkten Bewirkung bedürfen, und dieſe ſo gut wie jene mit angepaßter bzw. ausgeglichener Drgantätigfeit Hand in Hand gehen.
3. Ausleſe (Selektion) a) Kampf ums Daſein (Panparaſitis mus)
Da die Anpaſſungen, wie wir erfuhren, durch Wechſelwirkung zwiſchen Organismus und Außenwelt teils unmittelbar, teils als „funktionelle Selbſtgeſtaltung des Zweckmäßigen“ (Roux) zuſtande kommen, ſo ſollte man erwarten, daß kein weiteres treibendes Moment notwendig wäre, um Artenwandel und Höherenwicklung zu verſtehen. Indeſſen der Grundſatz einfachſter Erklärung in der Wiſſenſchaft hat inſoweit Schiffbruch gelitten, als die elementarſten Zuſammenhänge nicht ſchon immer die zutreffenden und erſchöpfenden ſind: im Beſitze einer auf ſolche gegründeten Deutung darf man ſich alſo nicht zufrieden geben und andere Möglichkeiten abweiſen, ſondern muß trotzdem nach komplizierteren Zuſammenhängen Umfchau halten.
Die zweckmäßigen Abänderungen entſtehen allerdings unabhängig von jedem anderen Prinzip als dem der Eigenwirkung und des Bewirktwerdens; aber es entſtehen auf dieſelbe Weiſe auch unzweckmäßige und zweckloſe Abänderungen. Doch ſehen wir im allgemeinen, daß die Lebeweſen ſehr zweckentſprechend ausgerüſtet ſind, daß ihre Lebenswerkzeuge mit der Präziſion gut berechneter und tadel— los konſtruierter Maſchinen arbeiten. Es muß alſo eine Triebkraft geben, die das Antaugliche entfernt, ſo daß allmählich vorwiegend Taugliches übrigbleibt.
Dieſe ausleſende Kraft entdeckte Ch. Darwin im Kampf ums Da— fein (struggle for life“). Er wird geführt zwiſchen den Lebeweſen untereinander als Wettbewerb um Nahrung, Naum, Licht, Luft und Wärme; er beſteht aber auch zwiſchen den Organismen insgeſamt und den anorganiſchen Gewalten, deren Elementarereigniſſe fortwährende Angriffe gegen das Leben richten — Angriffe, die durch Ausgleichung und Anpaſſung pariert werden müſſen. Wo dies nicht gelingt, weil der Organismus zu ſchwach war, da wird der Schwache „ausgeleſen“, der Starke darf als „auserleſen“ übrigbleiben. Das bedeutet noch nicht ſofort abſolute Vernichtung, Tötung des Schwachen, ſondern zu— nächſt nur ſeine „Deklaſſierung“, Herabdrückung auf ein niedrigeres, ſchlechteres Niveau der Lebensführung. So wird der geſchwächte Or— ganismus als Ballaſt des Lebens gleich einem rudimentären Organ noch eine Zeitlang, vielleicht viele Generationen lang, mitgeſchleppt, ehe ihm gänzliche Ausmerzung widerfährt. And wie das rudimentäre Organ, wenn es eine untergeordnete Funktion behält, die mit ſeiner urſprüng— lichen nicht übereinzuſtimmen braucht, ſogar zum Dauerbeſitz ſeines Trägers werden kann, ſo auch die rudimentierte, deklaſſierte Art, wenn 302
fie etwa an ungünſtigerer Ortlichkeit oder ſonſt kümmerlicheren Verhält— niſſen fortfährt, eine gewiſſe, und ſei es auch nur nebenſächliche Molle im Haushalte der Natur auszufüllen.
Der Kampfplatz beſchränkt ſich nicht auf den Lebensraum, be— lebte und unbelebte Elemente darin: auch jene belebten Elemente, die zuſammen ein Ganzes, ein zuſammengeſetztes Individuum bilden, machen ſich Konkurrenz. Die Organe platten ſich aneinander ab; der Druck, den ſie ausüben, beſtimmt ihre Form; fällt eines davon hinweg, ſo dehnt ſich das Nachbarorgan aus, rückt an die Stelle des anderen und verliert mit ſeinen charakteriſtiſchen Abflachungen und Ein— buchtungen die normale Geſtalt. Nicht nur den Raum, auch die Nah— rung machen Organe und Gewebe einander ſtreitig: durch Schwächung des einen kann ein anderes Gewebe die Übermacht gewinnen und ſich auf Koſten des geſchwächten entwickeln. Wenn die Ränder einer Wunde ſich nicht raſch genug überhäuten, ſo wächſt das „wilde Fleiſch“ aus der offenen Wunde heraus; und wenn wir eine überreichliche Mahl— zeit eingenommen haben, ſo müſſen die geſamten Kräfte des Körpers derart ausſchließlich in den Dienſt der Verdauung geſtellt werden, daß wir uns ſchlaff und müde fühlen.
In den „züchtenden Kampf der Teile“ (Rour) find natürlich auch die Keimzellen hineingezogen; beſonders v. Hanſemann hat an mikro— ſkopiſchen Gewebebildern des Eierſtockes, Theſing an ſolchen des Hodens, alſo ebenfalls hiſtologiſch gezeigt, daß während der Ei- und Samenbildung eine Menge von Ei- und Samenzellen buchſtäblich „an die Wand ge— drückt“ werden, zugrunde gehen und reſorbiert werden. Jedenfalls macht die Fehde auch bei den Zellen noch nicht Halt, ſondern geht weiter auf die kleinſten Teilchen lebender Subſtanz — alſo innerhalb des Keim— plasmas auf die Anlagenträger der erblichen Eigenſchaften. Weismann gründete auf dieſe notwendige Folgerung ſeine Hypotheſe der „Ger— minalſelektion“, der Keimchenausleſe, um zu erklären, wie auch die intimſte Struktur nur das Gedeihen des Beſten und Zäheſten, hier der tüchtigſten Entwicklungsanlagen, zuläßt. Wenn freilich Weismann dieſe, gleich ſeiner „Kontinuität des Keimplasmas“ (S. 250) im Grundgedanken zwingende Lehre dazu verwendet, um die Notwendigkeit erblichen Ein— greifens äußerer Kräfte beiſeite zu ſchieben, ſo entbehrt dieſer weitere Schluß hier wie dort jeder Folgerichtigkeit. Weismann ſelbſt erblickt das Maßgebende, das die bevorzugten Keime vor den zugrunde gehenden auszeichnet, in ihrer beſſeren Ernährung; damit iſt jedoch ein Moment eingeführt, das unentrinnbar in letzter Linie auf den äußeren Lebens— raum zurückgreift.
Allgemeine Naturphänomene pflegen ſich an einigen Stellen ihres Geſchehens ſo zu verdichten, daß ſie uns dort wie Paradigmen der Er— ſcheinung vor Augen rücken. Wir ſahen dies am Generationswechſel, an der Stockbildung, der inneren Sekretion; wir ſehen es jetzt wieder beim Kampf ums Daſein, deſſen Schulbeiſpiele vom Schmarotzertum („Paraſitismus“) geliefert werden. Es iſt überaus fruchtbar, die Stufen
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zu verfolgen, die von hochgradiger Unabhängigkeit und gänzlicher Be— wegungsfreiheit der Feinde dahin führen, wo einer dem anderen ſpe— zifiſch 0 und faſt organiſch untrennbar angehängt iſt. Eigentlich bewegen ſich die paraſitären Anpaſſungen auf zwei einander kreuzenden Linien, einerſeits von Ortsbeweglichkeit zu unbeweglicher Seßhaftigkeit, anderſeits von äußeren („Ektoparaſitismus“) zu inneren Angriffsflächen („Entoparaſitismus“) für den Schmarotzer auf feinem Wirt.
Größte Freiheit in beiderlei Beziehung wird gewohntermaßen noch nicht als Paraſitismus bezeichnet, obwohl dieſer von hier ſeinen Aus— gang genommen haben muß: das Verhältnis zwiſchen Raubtier und Beute. Man iſt nicht geneigt, den Marder, der in einen Hühner— ſtall einbricht, als „Paraſit“ des Huhnes zu betrachten; wenn aber das kleine Wieſel ſich einem vielmal größeren Opfer, etwa einem erwachſenen Feldhaſen, an die Gurgel ſetzt und fo lange zubeißt und an den Hals: adern ſaugt, bis er verblutet, fo hat dieſe Angriffsweiſe ſchon mehr Ahnlichkeit mit einem Verhältnis zwiſchen Schmarotzer und Wirt. Innerhalb der Säugetiere iſt es zu einem Fall echten Schmarotzertums nicht gekommen, wenn wir nicht die an unſeren Vorräten und Wohn— räumen mitgenießenden Nager hierherzählen wollen; aber innerhalb der Würmer haben wir es gegenwärtig, wie der gemeine Blutegel (Aulasto— mum gulo) neben ſeiner Saugetätigkeit noch echtes Raubtier iſt und kleinere Waſſertiere ganz verſchlingt, — wie dann andere Egelarten ſich nur mehr aufs Blutſaugen verſtehen, aber den auszuſaugenden Körper zeitweilig verlaſſen und frei umherſchwimmen, bis endlich in den Fiſch— egeln (Piscicola) ſolche Arten erſtehen, die ohne Not, d. h. vor Ab— ſterben ihres Wirtes, ſich gar nicht mehr von ihm trennen. Innerhalb der Inſekten ſehen wir die blutſaugenden Mücken, die ſich nur zeitweiſe auf ihrem Opfer niederlaſſen, den flugunfähig gewordenen, in womöglich ſtändiger Gemeinſchaft mit dem Opfer lebenden Floh zum Stammes— verwandten haben. Was unſere Anſchauung letzteren Falles erleichtert, iſt das Größenverhältnis zwiſchen Angreifer und Angegriffenem: iſt dieſer der überwältigend größere, ſo erblicken wir leichter ein paraſitäres Verhältnis, als wenn beide gleichgroß ſind oder gar der Angreifer größer. Aber auch dieſer Anterſchied wird hinfällig, ſobald wir nur wenig die uns allzu bequem gewordenen Denkbahnen verlaſſen: die
Seeſpinnen oder „Maskierungskrabben“ legen ſich auf ihrem Panzer
einen Gemüſegarten aus Algen an, der ſie außerdem den Blicken der Feinde entzieht. Den Algen erwachſen aus dieſem Anbau zwar einige Vorteile, wie namentlich der häufige Transport in friſches Atem- und Nährmedium und Düngung durch dabei aufgewühlte Schlammteilchen; da ſie aber ſtändig zugeſtutzt werden, kann man nicht behaupten, daß ihr Wachstum fern von der Krabbe im Schlußergebnis kein günſtigeres geweſen wäre. Die Genoſſenſchaft ſtellt ſich daher als eine ſolche mit einſeitig verſchobenem Vorteil, bei der engen Verkettung der Genoſſen nur um ſo eher als echten Paraſitismus dar; aber Schmarotzer iſt der größere, Wirt der kleinere Partner. Auch bei dem 8m langen Band— 304
wurm (Taenia saginata) oder der Wieſenpflanzen ausſaugenden Klee: ſeide und Sommerwurz iſt das Größenverhältnis, wenn ſelbſt der Paraſit in kleinen Dimenſionen ſeine Tätigkeit beginnt, ſchließlich zu ſeinen Gunſten ausgefallen.
Noch etwas erleichtert es uns, das Verhältnis zwiſchen Mücke und
geſtochenem Tier eher beginnenden Paraſitismus zu nennen als das— jenige zwiſchen Raubtier und gefreſſenem Tier: dort wird der Beute nur Blut oder Saft abgezapft, hier wird fie verſchlungen oder zer— riſſen und in all ihren genießbaren Teilen aufgezehrt. Da— durch iſt meiſt mitbedingt, daß ſie dort ein zwar geſchwächtes, aber nicht momentan endigendes Leben, — ein Zuſammenleben mit dem Para— ſiten weiterführt, hier auf der Stelle den Wunden erliegt. Allein viele echte Raubtiere beſchränken ſich ebenfalls vorzugsweiſe auf den Blutgenuß und töten durch Ausſaugen ihre oft größen- und kraft— überlegene Beute, ſo abermals die kleineren Marder- und die Blutegel— arten, unter den Gliederfüßlern die Spinnen, wo dieſe Art des Nah— rungswerbens in den Milben zu echtem, bei den Zecken ſogar zu feſt— ſitzendem Dauerparaſitismus ohne unmittelbaren Tod des Wirtes hin— geführt hat. Wie ſchon in einigen Beiſpielen durchgeführt, läßt ſich in analogen Abergängen von außen nach innen, von ſelbſtändig wachſenden zu an— gewachſenen, von groß zu klein das Schmarotzertum auch zwiſchen Tieren und Pflanzen ſowie zwiſchen Pflanzen und Pflanzen als allgemeine Erſcheinung nachweiſen. Ein pflanzenfreſſendes Tier, etwa einen Wiederkäuer, als „Paraſiten“ ſeiner Futtergewächſe hinzu— ſtellen — gewiß ein fremdartiger Gedanke; aber er muß ausgeſprochen werden, um klarzulegen, wie die Entwicklung des Nahrungserwerbes von gewiſſen Punkten aus in der einen Richtung zum Verzehren des ganzen Pflanzengewebes, allenfalls verbunden mit überlegener Größe des Freſſers, hinläuft, nach der anderen Richtung zum Ausſaugen des Gewebeſaftes, meiſt verbunden mit geringerer Größe des Saugers, divergiert. Die Männchen jener Stechmücken, deren blutſaugende Ge— wohnheiten uns in ihnen Anfänger des Paraſitierens erblicken ließen, ſaugen Pflanzenſäfte, — eine Ernährungsweiſe, die an vielen Stellen der Inſektenklaſſe teils zu beweglichem (Blattläuſe), teils faſt unbeweg— lichem (Schildläuſe), zu äußerem (Blattfreſſer aller Gruppen) und innerem (Stengelminierer, z. B. Borken- und Bockkäfer, Glasflügler), zu ſaugendem (Baumwanzen, Zikaden) und beißendem (Raupen, Käfer) Paraſitismus an Bäumen und Sträuchern, Stauden und Kräutern hingeführt hat.
Wie beim allgemeinen Kampf ums Daſein, den wir mit Rückſicht auf vorſtehende Ausführungen über Schmarotzertum als univerſelle Er— ſcheinung „Panparaſitismus“ nennen können, ſo handelt es ſich auch beim ſpeziellen Paraſitismus nicht immer um Nahrungskonkurrenz; es gibt beiſpielsweiſe auch einen Raum- und einen Brutparaſitismus. Raumfchmaroger find viele „Aberpflanzen“ (Epiphyten), die teils
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auf anderen Pflanzen, teils auf Tieren (algenbewachſene Schaltiere, Krebſe, Schildkröten) wachſen. Aber auch Tiere treten als Raum— paraſiten von Pflanzen (z. B. Ameiſen in Myrmecodia) und anderen Tieren (z. B. Seepocken und Schildfiſch auf Haien und Walen) auf. Der Raumparaſitismus kann gleich dem Nahrungsparaſitismus ein äußerer (hierher wohl die meiſten Fälle) und innerer fein (Sandälchen Fierasfer und Barſch Apogonichthys in Quallen, Weichtieren, Stachelhäutern).
Das bekannteſte Beiſpiel fürs Brutſchmarotzen iſt der Kuckuck, der ſeine Eier in fremde Neſter legt; der Vergleich unſeres europäiſchen Kuckucks mit exotiſchen Arten läßt wieder alle Abergänge von ſelb— ſtändigem, teilweiſe geſtörtem und zeitweiſe aufgegebenem Neſtbau und Brutpflege bis zu vollſtändigem Verzicht und Verlernen dieſer Be— tätigungen nachweiſen. Recht verbreitet ſind Brutparaſitismen unter den Inſekten und hier nachweislich aus gewöhnlicher, paraſitärer oder nicht eigentlich paraſitärer Futterkonkurrenz entſtanden: „Die Gewohn— heit der Kuckucksbienen (Nomada), in die Zellen von Hummeln ein Ei abzuſetzen, ehe letztere die mit ihrem Ei belegte Kammer verſchließen konnten, hatte urſprünglich jedenfalls den Zweck, vom Larvenfutter zu profitieren, welches die Hummel fürs eigene Ei in der Zelle auf— ſpeichert. Daraus entſtand die Gewohnheit, daß die früher als die Hummelmade ausſchlüpfende Nomadalarve ihre Tätigkeit damit beginnt, das Hummelei aufzufreſſen und ſich dann an dem für dieſes beſtimmten Nährmaterial zu mäſten. — Die Grabweſpen machen für jedes Ei ein Erdloch und legen als Nahrung durch einen Stich gelähmte Larven anderer Inſekten zu dem Ei. Auch hier kommt es vor, daß Kuckucks— weſpen ihr Ei einſchmuggeln und auf die zur Nahrung herbeigeſchleppte Larve ablegen. Die ausſchlüpfende Made der Kuckucksweſpe teilt ſich nun entweder mit der Grabweſpenlarve in die für ſie allein herbei— geſchaffte Nahrung, oder ſie frißt, früher ausſchlüpfend, das Grab— weſpenei zuerſt auf. Es kommt ferner vor, daß das Kuckucksei ſpäter auskriecht, und dann hat die aus dem rechtmäßigen Ei entſtandene Larve meiſt ſchon bedeutende Größe erreicht; es entſteht jetzt echter Paraſitis— mus, indem die nachgeborene Larve an der älteren ſaugt und ſie erſt zuletzt ganz aufzehrt“ (frei nach v. Graff). Reiner Raum- und Brut— paraſitismus geht alſo leicht wieder in Nahrungs-, Blut- und Saft— paraſitismus über; auch die Epiphyten, die anfangs mit fpärlichiten _ Humusmengen vorliebnahmen, die in der riſſigen Borke eines Baumes abgelagert waren, treiben ſchließlich ihre Wurzeln ins lebende Gewebe ihres Wirtes, von deſſen Säften ſie fortan leben (Miſtel, Fichten— ſpargel); im Epiphytismus auf Tieren bietet die Alge Foreliella per- forans in den Schalen der Teichmuſcheln und Schlammſchnecken ein homologes Beiſpiel.
b) Hilfe im Daſein (Panſymbioſe)
Wenn wir gewahr werden, wie ſich das Kampfprinzip nicht bloß in der Außenwelt zwiſchen verſchiedenen Organismen, ſondern auch in 306
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der Innenwelt des Einzelweſens zwiſchen ſeinen verſchiedenen Organen, Geweben, Zellen und lebenstätigen Molekeln betätigt, ſo gewinnt jedes dieſer Elemente den Charakter eines Paraſiten an jedem zweiten wie an der Geſamtheit der übrigen. Ganz ausdrücklich hat ja Weismann das Keimplasma als Schmarotzer am ſomatiſchen Plasma bezeichnet; aber das iſt, gleich allen anderen Beziehungen zwiſchen Keim und Körper, kein Sonderverhältnis zwiſchen beiden, ſondern gilt ganz ebenſo für beliebige, benachbarte oder auch entfernte Teile des Leibes. Zugleich beſteht nun aber zwiſchen ſämtlichen Teilen auch ein Genoſſenſchaftsver— hältnis, das nicht auf dem Vorteil nur eines Partners, ſondern beider und aller Teilhaber gegründet iſt. Nicht bloß ein Kampf, ſondern auch eine Hilfe der Teile kennzeichnet das Gleichgewicht des Lebens im Organismus, deſſen Zellen und höhere Einheiten das Schauſpiel eines denkbar feſtgeſchloſſenſten Bündniſſes, des auf Erhaltung abzielenden Zuſammenhaltens darbieten. Von dem Augenblicke an, als das einzellige Lebeweſen, Arweſen oder Keim, ſich teilt und die Teilprodukte, Tochter-, Enkelzellen uſw. nicht mehr ſelbſtändig ihres Weges ziehen, ſondern bei— ſammen bleiben und untereinander in Beziehungen treten, die den Erwerb des Lebensunterhaltes und den Sieg im Daſeinskampfe erleichtern — von dieſem Augenblicke an iſt dies Bündnis zu gegenſeitigem Schutz und Stoffaustauſch die unbedingte Vorausſetzung zur Entwicklung vielzelligen Lebens, das ſeinerſeits jede Höherentwicklung bedingt und begleitet. Wir nahmen bei Verfolgung des Kampfes ums Daſein unſeren Weg vom äußeren in den inneren Lebensraum, um hier wie dort die Identität der Prozeſſe zu erkennen; wir gehen jetzt bei Beobachtung der Hilfe im Dafein umgekehrt den Weg von innen nach außen: was uns innen als ſymbiotiſches und paraſitiſches Organ, etwa beſonders typiſch als „Synergiſten“ und „Antagoniſten“ unter den innerſekretoriſchen Drüſen (S. 169) entgegentritt, das wird außen durch ſymbiotiſche und paraſitiſche Organismen und Organismenarten repräſentiert. Neben dem Krieg aller gegen alle umſchlingt auch im äußeren Lebens— raum die wechſelſeitige Anterſtützung groß und klein, ſchwach und ſtark mit gemeinſamem Band. Das Wechſelverhältnis zwiſchen pflanzlicher Ernährung und tieriſcher Atmung, Sauerſtofferzeugern und Kohlenſäureabnehmern einerſeits, Kohlenſäureproduzenten und Sauer— ſtoffkonſumenten anderſeits (S. 111); der Kreislauf des Stickſtoffs unter Vermittlung von Bakterien (S. 94, 96); die Beziehungen zwiſchen Pilzen und grünen Pflanzen (Flechten, „Mykorrhiza“); Tieren und Blüten— pflanzen (S. 216), — das ſind keine in der Natur zerſtreut vorkommenden Kurioſitäten, wofür man die Erſcheinung gegenſeitiger Hilfe bisher zu halten geneigt war, ſondern es ſind Regelmäßigkeiten, die den ganzen belebten Planeten umſpannen. And wie der Paraſitismus als Zu— ſammenleben auf Grund einſeitiger Vorteile die beſten Schulbeiſpiele hinſtellt zur Illuſtration des Entwicklungskampfes, ſo hat die Entwick— lungshilfe ihre draſtiſchen Paradigmen in Geſtalt der Symbioſen oder des Zuſammenlebens auf Grund beidſeitiger Vorteile. Einſiedler— 307
krebs und Seeanemone, dieſe vom Krebs unwillkürlich gefüttert und ihn dafür mit ſcharfen Waffen, den Neſſelbatterien, gegen Feinde be— ſchützend; Inſekt und Blume, erſteres dort Nahrung findend und dafür die Befruchtung der Blüte beſorgend; Pilz und Alge, er die anorga— niſche, ſie die organiſche Nahrung beiſteuernd, wenn fie ſich als „Flechte“ im gemeinſamen Haushalt vereinigen: ſolch allbekannteſte Exempel ge— nügen, um ſelbſt innerhalb dieſes vermeintlichen „Naritätenkabinettes der Natur“ zu erkennen, daß die Symbioſen zwiſchen Tier und Tier, Tier und Pflanze, Pflanze und Pflanze nur als Hochtriebe einer ge— meinſamen Grund- und Wurzelerſcheinung aufragen. „Panparaſitismus“ lautete unſer Ausdruck für den in vieler Beziehung mißverſtandenen „Kampf ums Daſein“, von dem man ſogar behauptete, er exiſtiere nicht, weil z. B. eine friedlich weidende Herde nicht im Kampf begriffen ſei (trotzdem fie ſich doch das Futter ſchmälert!). „Panſymbioſe“ taufen wir nun, in Wahrung des engeren Terminus Symbioſe für die ſeit jeher ſo bezeichneten Sonderfälle, die allgegenwärtige gegenſeitige Hilfe. Kampf und Hilfe gehen überall in der Natur Hand in Hand miteinander, greifen untrennbar ineinander. Pilz und Alge, Krebs und Aktinie, Inſekt und Blume ſtehen, trotzdem ſie ſich zu Schutz und Trutz im Daſeinskampf verbündeten, auch untereinander — von der übrigen Welt jetzt ganz abgeſehen — in Wettbewerb: ein Einſiedlerkrebs, auf deſſen Haus ſich ſtatt einer Aktinie deren mehrere niedergelaſſen haben, wird ſeines Bewegungsvermögens beraubt und muß hungern; ſo geht es überall, wo das Gleichgewicht, deſſen Reſultat Symbioſe iſt, ver— loren geht — die Symbioſe ſchlägt dann in Paraſitismus um, die freundlichen Beziehungen weichen offener Feindſchaft. Das Verhältnis zwiſchen Arbeiter und Dienſtherr iſt gewiß zunächſt auf gegenſeitigen Vorteil gegründet: jener ſchafft die Arbeit, die dem Dienſtgeber nötig iſt, dieſer bezahlt den Dienſtnehmer dafür und ermöglicht ſo wieder ſeinen Anterhalt. Das Verhältnis trägt aber gleichzeitig auch alle Merkmale des Kampfes an ſich: denn jeder Teil hat das Beſtreben, möglichſt viel vom Vorteil ſich ſelbſt zu ſichern, und in dieſem Beſtreben fühlt jeder Teil ſich vom anderen übervorteilt.
Die Erwägung, wie Lebeweſen ſich befehden und nützen, ſowie die Abwägung des Anteils und der Beziehungen zwiſchen Schaden und Nutzen beanſpruchen an ſich noch keinen allgemein-biologiſchen Erkenntniswert, ſondern entfielen zur Gänze ins Gebiet der ſpeziellen Ethologie; wenn nicht weiter zu verfolgen wäre, daß Kampf und Hilfe in ihren geſtaltenden Konſequenzen ſtammesgeſchichtliche Wir— kungen, Artveränderungen und Artanpaſſungen hervorrufen. Der Kampf hetzt die nachteiligen Einflüſſe auf den Organismus los und zwingt ihn, ſich anzupaſſen; die Hilfe läßt förderliche Einflüſſe zu ihrem Rechte kommen und verleiht dem Organismus Kraft, Anpaſſungen durchzuführen. Dies erklärt zunächſt, warum — ſeit lange ein Rätſel für Entwicklungstheoretiker und ein wunder Punkt des Darwinismus in der Meinung ſeiner Gegner — neben den zweckmäßigen ſo viele
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gleichgültige, ja ſchädliche Eigenſchaften lange erhalten bleiben. Sie ſind teilweiſe ein Ausdruck der Verweichlichung, der die Lebeweſen an⸗ heimfallen, wenn der Wettbewerb durch Symbioſe gar zu milde Formen annahm. Solche „Luxus bildungen“, die an ſich vielleicht nur zwecklos oder Selbſtzweck, Schönheitszweck ſind, würden im natürlichen Zuſtande ſcharfen Wettbewerbes ernſte Hemmungen und Schäden dar⸗ ſtellen; früher oder ſpäter kommen ſie ſtets bei Tier⸗ und Pflanzen⸗ bevölkerungen zum Vorſchein, die durch irgendeinen „glücklichen“ Am⸗ ſtand dem Daſeinsſtreit, ſoweit dies möglich, entrückt wurden: ſo bei Haus⸗ tieren (man denke an Fettſteißſchaf, Angorakatze, Trommel⸗, Purzeltaube und allerhand Farbenauffälligkeiten) und bei Inſelbewohnern, deren Raſſenbildung mit ihren teils zwerghaften (Ponys), teils rieſenhaften Formen (Rieſenlandſchildkröten), ihren teils albinotiſchen (Schnecken), teils melanotiſchen (Eidechſen — S. 285 Abb. 77), teils ſcheckigen (Borken⸗ ratte der Philippinen) Formen, ja auch den Inſtinkten, ſo dem Ablegen jeder Scheu auffällig an Domeſtikationserſcheinungen erinnert.
Am eindringlichſten erweiſt ſich, was an Merkmalen dem Kampf und der Hilfe unmittelbar zu danken iſt, natürlich dort, wo jeweils Kampf oder Hilfe ſelbſt am offenkundigſten und in ſozuſagen konzen⸗ trierteſter Weiſe ihr Spiel treiben: alſo bei eigentlichen Paraſitismen und Symbioſen. Eine Aberfülle angepaßter Merkmale begegnet uns hier, in denen der Schmarotzer einſeitig fürs Zuſammenleben mit dem Wirt, die Symbionten gegenſeitig für einander eingerichtet ſind. All die Klammer und Anſaugewerkzeuge, Rückbildung entbehrlicher Organe, Stehenbleiben auf untergeordneten Entwicklungsſtufen, Frühreife und Zwitterigkeit der Geſchlechtsorgane, Abflachungen und Abrundungen des Gejamtförpers aufzuzählen, würde ein eigenes dickes Buch beanſpruchen; mit vollem Recht hebt aber v. Graff hervor, daß ſich keine einzige, den Paraſiten als ſolchen eigentümliche Einrichtung findet, die nicht auch in der übrigen Lebenswelt mehr vereinzelt vor⸗ kommen würde; und ebenſo ſteht es bei den Symbionten. Dies iſt einerſeits wieder ein Symptom für die allgemeine Beſchaffen⸗ heit der in Paraſitismus und Symbioſe ausgeſprochenen Geſetzmäßig⸗ keit, dann auch ein Fingerzeig dafür, daß Paraſiten und Symbionten ihre beſonderen, durch das Zuſammenleben aufgeprägten Merkmale prinzipiell in derſelben Weiſe erwerben wie andre Organismen bei ihrem Leben in anorganiſchem Milieu: durch direkte und funktionelle Anpaſſung. Nur mit dem einzigen, graduellen Anterſchiede, daß dieſe Anpaſſung bei ſolitär lebenden Arten durch die Wechſelwirkung mit den unbelebten, phyſikaliſchen Energien, — bei vereint lebenden Arten außerdem und beſonders durch die Aufeinanderwirkung ihrer belebten Körper und phyſiologiſchen Energien zuſtande kommen.
c) Zuchtwahl
Das iſt nun aber durchaus nicht die Art und Weiſe, in der ſich die „Selektioniſten“ — Darwin noch eher als die „Neo-Darwiniſten“, 309
allen voran Weismann — das Wirken des Kampfes ums Daſein vor- ſtellen. Laut ihnen ſchließt ſich an den ausſiebenden Selektionsprozeß — mit ihm ſtrenge genommen nicht ganz gleichbedeutend, ſondern ſeine unmittelbare Folge — die Zuchtwahl: wenn in jeder Generation nur die jeweils und relativ Beſten übrigbleiben („survival of the fittest“), ſo können nur dieſe letzteren untereinander zur Fortpflanzung gelangen. Ihre hervorragenden Eigenſchaften können ſich daher auf die Nach— kommen übertragen, unter denen der Ausleſeprozeß fortgeſetzt, und zwar wegen der ſtattgefundenen Vermehrung ſchärfer fortgeſetzt wird; unter dem Zweckmäßigen wird jetzt das noch Zweckmäßigere aus— gewählt und im Generationenverlaufe ſchließlich zum Zweckmäßigſten geſteigert.
d) Schützende Ähnlichkeiten (Mimikry im weiteſten Sinne)
So ungefähr lautet, in einfachſten Zügen dargeſtellt, der Gedanken— gang Darwins. Nun ſind bekanntlich die verſchiedenſten Bedenken gegen ſeine Richtigkeit geäußert worden, und die Diskuſſion darüber ſchwillt leicht ins Anendliche an, iſt auch in ſtarkleibigen Bänden faſt zum Aberdruſſe durchgehechelt worden. Wichtig iſt nur die eine Frage: wirken Ausleſe und Zuchtwahl bloß negativ als Eliminationsfaktor für beſtehende Schädlichkeiten und außerdem konſervativ als Ver— breitungsfaktor für beſtehende Nützlichkeiten; oder wirken ſie poſitiv
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und produktiv als Entſtehungsfaktor noch nicht beſtandener zweck— mäßiger Eigenſchaften?
Als wichtigſtes Bollwerk der ſchöpferiſchen Zuchtwahllehre, des Darwinismus im engeren Sinne, galt und gilt vielfach noch die Tat— ſache der ſchützenden Ähnlichkeiten bei Tieren und Pflanzen. Dieſe Ahnlichkeiten äußern ſich zum Teil in Schutzfarben („protective colorations“), zum anderen Teil in Schugformen und Schutz— ſtellungen, d. h. ſchützenden Haltungen des Körpers. Alle drei ſind wieder je von zweierlei Art: entweder haben ſie zum Zweck, die Beute vor ihrem Feind, den Räuber vor ſeinem Opfer unſichtbar zu machen, — das find die Deckfarben, -formen und -ſtellungen; oder ſie ſetzen zum Ziel, ſich als Abſchreckungsmittel gerade erſt recht ſichtbar zu machen, — das find die Schreckfarben, formen und itellungen. Erſtere erreichen den Schutz durch möglichſte Ahnlichkeit mit der Am— gebung: Beiſpiele wurden früher (S. 299) aufgezählt (Abb. 80, 81); doch ſei jetzt noch darauf aufmerkſam gemacht, wie gerade ſolche Körper— flächen mit Vorliebe unauffällig gefärbt und geſtaltet werden, die während der Ruhe den Blicken der Feinde exponiert ſind, — bei den Tagfaltern, welche die Vorder- und Hinterflügel beim Sitzen nach oben zuſammenklappen, iſt die ganze Oberſeite bunt, die Anterſeite erd- oder rindenfarbig; bei Abend- und Nachtfaltern, welche die Vorderflügel dachförmig über die Hinterflügel legen, ſind erſtere auf ihrer Oberſeite und ein freibleibender Mittelſtreif des Hinterleibes ſchutzfarbig, Hinter— leibſaum und Hinterflügel ſowie Flügelunterſeiten hellfarbig. Zur
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Schutzfarbe geſellt ſich ſchon hier zus weilen die Schutz— form, ſo die wie Rindenfchuppen ge— ſtalteten Flügelum— riſſe, z. B. bei den Eckfaltern (Vanessa), dem Linden- und Pappelſchwärmer, der Kupferglucke. Die vollkommenſten Beiſpiele dieſer Art, wo Schutzform ſich mitSchutzfarbe paart, liefern, außer dem in— diſchen Blattſchmet— terling und den Spannerraupen, die Geſpenſtſchrecken mit Stabheuſchrecken (Abb. 82) und wan— delndem Blatt als berühmteſten Vertre— tern. Durch An⸗ | ſchmiegen an die ähn— Abb. 82. Indiſche Stabſchrecke (Carausius IDixippus! liche Anterlage, alſo morosus) auf zum Teil zahlgefveilenen Brombeerzweigen: eine Schutzſtellung,
Garnet äpntigteie der dn f. bn n wird der Schutzeffekt
noch erhöht: das rin— denfarbene Käuzchen, der Ziegenmelker ducken ſich enge an den Stamm, der Haſe an den Erdboden; viele Käfer, Aſſeln uſw. ſtellen ſich tot, ziehen die Beine an oder rollen ſich zuſammen — und ſo werden ſie noch leichter überſehen.
Träger von Schreck, Warn- oder Trutzfarben (wozu auch das Leuchten gewiſſer Nachtinſekten gerechnet werden darf, da es beim Auf— finden der Geſchlechter kaum eine Rolle ſpielt) find einesteils Geſchöpfe, die in irgendeiner Beziehung unangenehme Eigenſchaften, z. B. ſchlechten Geſchmack und Geruch, ätzende Säfte, ſteinharte Körperdecken, Stacheln und Biſſe für den Feind bereithalten. Was nützt es aber der Weſpe, wenn ſie ſticht, dabei den Stachel in der Wunde laſſen muß und an der erlittenen Verletzung zugrunde geht? Was nützt der grellen Wanze ihr Stank, wenn ſie vom Singvogel zwar unter allen Zeichen des Ekels ausgeſpuckt, aber dabei ſchon zerquetſcht wird? Nun, dank der auf— fälligen Form und Färbung merkt ſich ſolch ein Vogel den Biſſen und rührt keinen zweiten, der ebenſo ausſieht, an: das Todesopfer iſt 312
zugunsten vieler Artgenoſſen gebracht worden. Abrigens ſcheinen Vögel und andere inſektenfreſſende Tiere vor ſolchen Warn— farben ſogar bereits eine angeborene Scheu mitzubringen. — Andern— teils zeigen ſich in zurückſcheuchendem, auffälligem Kleid ſolche Geſchöpfe, die zwar an ſich harmlos ſind, aber das Ausſehen anderer Arten er— borgt haben, die giftig oder biſſig ſind: das wehrhafte Weſen wird von wehrloſen nachgeahmt, — Darwin und der von Darwin unab— hängige Mitentdecker der Zuchtwahllehre, Wallace, nannten jene Nach— äffung „Mimikry“ (im weiteren Sinne und zuweilen irrtümlich wird der Ausdruck oft auf alle ſchützenden Ahnlichkeiten ausgedehnt). Es gibt Bockkäfer, Fliegen (Taf. III, Fig. 3b, 4b) und Schmetterlinge, die nicht ſtechen, ihrem Feinde überhaupt kein Leid zufügen können, dabei wie Weſpen (Taf. III, Fig. 3a), Bienen oder Hummeln (Taf. III, Fig. 4a) ausſehen; es gibt ungiftige Schlangen, welche in Form, Be— nehmen und Farbe giftige Schlangen aufs getreueſte kopieren. Es gibt Raupen, die den Feind angeifern (Schwärmer), die ſich in bedrohlicher Weiſe aufbäumen (Buchenſpinner) oder nebſtbei aus irgendeinem
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ſtäbchen- oder gabelförmigen Auswuchs fleifchfarbene Fäden hervor— ſtülpen (Nackengabel der Schwalbenſchwanzraupe, „Peitſchenraupe“ des großen Gabelſchwanzes). Oft hat die Schreckſtellung den Zweck, Waffen in angriffsbereite Lage zu bringen, ſo beim Flußbarſch, wenn er die bedornten Kiemendeckel ſpreizt, beim Stichling, wenn er die Rücken— ſtacheln in ihre Sperrvorrichtung einſchnappen läßt, beim Waſſerkäfer, deſſen Bruſtſtachel, wenn ſich der Käfer tot ſtellt, leicht verletzt. Häufig auch iſt das Abergehen in die Schreckſtellung mit plötzlichem Erſcheinen auffälliger Farben und Flecken verbunden, ſo bei der ägyptiſchen Gottes— anbeterin (Sphodromantis bioculata — Abb. 83), wo zwei Tüpfel auf den Oberſchenkeln der auseinandergeſpreizten Raubbeine vor deren Dornbeſatz zu warnen ſcheinen, ſo bei gewiſſen tropiſchen Schmetter— lingen, die bei jäh auseinandergeklappten Flügeln ein Eulengeſicht vor— ſtellen und dadurch kleine Vögel abſchrecken ſollen.
Es gibt Tiere, die fo glücklich find, ſich gleichzeitig im Beſitz von Deck- und Schreckmitteln zu ſehen: wunderbar ſind die Schnarrheuſchrecken der Farbe des Erdbodens angepaßt; müſſen ſie ſich aber erheben, ſo werden mit einem Male die grell blauen oder roten Hinterflügel ſichtbar, wozu manche Arten (Psophus stridulus) ein laut ratſchendes Geräuſch hören laſſen. Sogar ein und dieſelbe Farbe oder Form kann je nach Entfernung als Deck- oder Trutzerſcheinung wirken: den Feuerſalamander ſieht man auf dunklem, von dürrem Laub und halb entrindeten Aſtchen beſtreuten, mit Hutpilzen beſtan— denem Waldboden nicht weit; in der Nähe ſticht das ſchreiende, gelb— ſchwarze Muſter deſto ſchärfer ab, — ein Warnungszeichen vor giftigem Drüſenſaft.
licht immer find bunte Farben dazu da, um dem Räuber An— genießbarkeit anzuzeigen: zuweilen iſt Gefreſſenwerden im Intereſſe richtiger Deponierung der Nachkommenſchaft ſogar erwünſcht, und dann ſorgen Lockfarben und -formen dafür, daß dies Ziel erreicht werde. Wir kennen die Erſcheinung von den Blütenhüllen der inſektenbeſtäubten Blumen und den Fruchtſchalen der durch Vögel verbreiteten Beeren— und Steinfrüchte. Wie die Schreckfarbe üblen Geſchmack und Geruch, ſo zeigt die Lockfarbe Wohlgeſchmack an und wird darin von ſüßen oder ſonſt das Begehren reizenden Düften unterſtützt. Im Tierreich kenne
ich nur einen Fall, den Saugwurm Urogonimus macrostomus (Abb. 84),
der in ſeinem Zwiſchenwirt, der Bernſteinſchnecke (Abb. 84 links), Keim— ſchläuche bildet, die mit ihrer Ningelzeichnung und ihren zuckenden Be— wegungen an Fliegenmaden erinnern. Indem ſolch madenähnlicher Keimſchlauch in den Fühler der Schnecke vorwächſt, werden Vögel darauf aufmerkſam, picken die vermeintliche Made weg und infizieren ſich mit Saugwurmbrut, die im Vogeldarm als ihrem Endwirt die Geſchlechtsreife erlangt. In entfernterer Weiſe wird man die wurm— ähnlichen Bartfäden der Welſe und köderartigen Floſſenſtrahlen des Anglerfiſches hierherſtellen dürfen, deren Bewegungen Fiſchchen an— locken, die dann leichter gepackt und verſchlungen werden.
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All die liſtigen Schutz- und Trutzeinrichtungen ſollen nun auf andere Weiſe als durch ſchöpferiſche Leiſtungen der Zuchtwahl nicht erklärt werden können. Damit die Folgerung zutreffe, muß zuvörderſt ihre Vorausſetzung ſicher richtig ſein: die oft geradezu raffinierte Zweck— mäßigkeit, die ſich in jenen Anpaſſungen auszuſprechen ſcheint, muß erforderlichenfalls die von ihr verlangten Dienſte wirk— lich zu liefern imſtande ſein. Schon die Erfüllung dieſer Grund— bedingung ſtößt aber auf bedenkliche Schwierigkeiten und Anregelmäßig— keiten. Cesnola hat grüne und braune Heuſchrecken derſelben Art (Mantis religiosa) in je zwei Partien auf belaubte und unbelaubte Aſte feſtgebunden und konnte nach etlichen Tagen konſtatieren, daß die auf ungleichfarbiger Unterlage ſitzenden verſchwunden, vermutlich alſo von Vögeln weggefreſſen; die auf gleichfarbiger Unterlage ſitzenden — die grünen auf den be— blätterten, die braunen auf den dürren Zweigen — zum Teile noch vorhanden wa— ren. Hier hat die Deckfarbe prompt funktioniert; in vie— len anderen Fällen iſt aber beobachtet, daß ſie das Ge— ſehen- und Verzehrtwerden nicht hindert.
Ahnlich ſteht es mit
i „ Abb. 84. Leucochloridium paradoxum (Keim— der Wirkung 2950 Schreck ſchlauch des Saugwurmes Urogonimus macrostomus),
mitteln: Verfütterungs— links in den Fühlern einer Bernſteinſchnecke, rechts aus verſuche mit angeblich dieſem Zwiſchenwirt herausgenommen. 72 . (Nach Heckert aus v. Graff.) warnfarbengeſchützten Tie— ren an ihre natürlichen Feinde zeigten in überwiegender Mehrzahl, daß jene trotz ihrer unbequemen Eigenſchaften entweder gefreſſen oder wenig— ſtens totgebiſſen wurden, was ſich nach einer kurzen, zum Vergeſſen aus— reichenden Pauſe immer wiederholte. Wenn ſchon die unmittelbar ge— ſchützten „Modelle“ trotz ihres angeblichen Schutzes attackiert und getötet werden, ſo iſt das gleiche Ergebnis bei nicht waffen-, ſondern nur farbengeſchützten „Imitatoren“ nur um ſo einleuchtender. Aller— dings ſind bei ſolchen Verſuchen zwei Fehlerquellen nicht mit hin— reichender Sorgfalt vermieden worden: wenn auf niedriger Geiſtesſtufe ſtehende Räuber, wie Reptilien, Amphibien, Raubinſekten, auf die Warnungszeichen negativ reagieren, ſo iſt damit nicht geſagt, ob Vögel ſich ebenſo benehmen würden; ein Schutz nur gegen den intelligenteſten Feind wäre für Erhaltung der Art ſchon wertvoll genug. Dann müßte beſſer darauf geachtet werden, daß Verfolger und Verfolgte ſtets genau von denſelben Fundſtellen herſtammen: andernfalls läuft man Gefahr, dem Raubtier eine Beute vorzuwerfen, die es nie geſehen hat und deren Warnfarbe es daher nicht erkennen kann. Ich ſelbſt überzeugte mich, daß es nicht genügt, nur einander feindliche Tiere desſelben 315
Heimatlandes zuſammenzuſperren; und daß die Reſultate erheblich mehr zugunſten der Warnfarbentheorie ausfallen, wenn man Tiere derſelben Wieſe, desſelben Abhanges u. dgl. verwendet.
Lauten alſo die Mitteilungen über den Erfolg ſchützender Einrich— tungen bis auf weiteres mindeſtens noch ſehr widerſprechend, ſo laſſen ſich andererſeits heute die Wege angeben, wie die ihnen zugrunde liegenden morphologiſchen und phyſiologiſchen Merkmale ohne aktives Eingreifen der Zuchtwahl entſtehen könnten, durch einfache paſſive oder funktionelle Anpaſſung. Von den Deckfarben wiſſen wir es ſchon (S. 300): die Ablöſung des Bewegungsfarbwechſels durch den Ge— ſtaltungsfarbwechſel, wahrſcheinlich noch verbunden mit farbenphoto— graphiſchen Vorgängen in der Haut, erklären das Zuſtande— kommen übereinſtimmender Färbung und Zeichnung reſtlos. Nichts ſpricht dagegen, weshalb eine entſprechende Erklärung nicht auch für Deckformen gelten ſollte: vieles mag hier funktionelle an leiſten, inſoferne, als z. B. auf ſchmalen Aſten eine ſchmale Form leichter und ſicherer vorwärts kommen kann als eine breite; vieles mag Feuchtigkeit leiſten, inſoferne in naſſer Gegend und Jahreszeit die Oberhautgebilde leichter in blattförmige Auswüchſe übergehen, die den in ſolcher Atmo— ſphäre reichlicher gebildeten Baumblättern gleichen; der Reſt wird ge— deckt, wenn ſich (wie ich vermute) beſtätigt, daß die Lebeweſen Formen ebenſo direkt imitieren wie Farben, ſo daß eine jahre- und generationenlange Anweſenheit in beſtimmt geformter Amgebung genügt, die Geſtalten wie die Farben der umgebenden Gegenſtände anzunehmen. Ich ſtelle mir dieſes Ahnlichwerden nicht als bewußte oder unbewußte pſychiſche Willenstätigkeit vor, ſondern als Teilerſcheinung der all— gemeinen Aktion und Reaktion, die zwei beliebige Körper aufeinander ausüben, als formenenergetiſchen Teilprozeß in dem großen und fort— währenden Austauſch von Energien.
Was die Schreckeinrichtungen im Lichte ihrer Entſtehung durch direkte und aktive Anpaſſung anbelangt, ſo iſt vor allen Dingen daran zu erinnern, auf welch verſchiedene Weiſe und für welch mannigfache andere als Erſchreckungszwecke ſchillernde Farben und bizarre Formen zuſtande kommen können. Nicht alle zwar ſind dem Verſcheuchungs— zweck ſo gerade entgegengeſetzt wie die Lockfarben und Lockgerüche; aber
die Luſtfarben und Luſtdüfte brünſtig erregter Geſchlechter, welche von
inneren Sekreten ihrer zur Betätigung drängenden Keimdrüſen, — die blendenden Farben- und Formbildungen, welche die Fülle des Lichtes, der Wärme und guten Ernährung hervorzaubern, laſſen den Gedanken gar nicht abſurd erſcheinen, daß manche von ihnen gewiſſermaßen im Nebenamt als Kainszeichen verwendet wurden, wo ſie in glücklicher Kombination mit Waffen und Giften zuſammentrafen. Daß trotzige Stellungen, knallige Farben nicht eigens zu dem Zwecke geſchaffen wurden, ſich mit einer im Hintergrunde lauernden Wehrfähigkeit zu vereinigen, geht daraus hervor, daß es die Zuſammenſtellung un— angenehmer, aber nicht in Trutzfarben protzender, — oder 316
ſogar peinlich anzurührender, aber trotzdem dabei deckfarbengeſchützter Tiere gibt (grüne Baumwanzen, erdfarbene Bienen uſw.), die von etwaigen Räubern entweder ebenſo gefreſſen bzw. ohne Fraß getötet werden oder ebenſo erkannt und mit Abſcheu verſchont werden wie ihre prunkfarbigen Verwandten. Ebenſo gibt es die entgegengeſetzte Zuſammen— ſtellung fruchtloſen Farbenprangens bei gänzlich harm— loſen, ihren Feinden genehmen und wohlſchmeckenden Tieren, bei denen nirgendhin Mimikry als Entſchuldigungsgrund für ihren ins Auge ſtechenden prunkvollen Aufwand dienen kann (Prachtfinken, Ei— dechſen, Kärpflinge, Goldfliege, viele Tagfalter, Schnirkelſchnecken uſw.).
So verbleibt nur noch die Aufgabe, die Mimikry ſelbſt, die bös— artigen Vorbildern nachgeahmten gutartigen Kopien in ihrer Originaltreue zu erklären. Das unterliegt nicht der geringſten Schwierigkeit, wenn wir bedenken, daß Vorbilder und Nachahmer, wenn die gewünſchte Täuſchung der Feinde durch die Fälſchung erreicht werden ſoll, notwendigerweiſe an denſelben Aufenthaltsorten leben müſſen. Hier tritt aber die wiederholt gewürdigte (S. 85 u. 286) „Kon— vergenz“ in ihre Rechte, da gleiche Bedingungen gleiche Wirkungen, in unſerem Falle gleiche Form-, Farben- und Bewegungsbilder erzeugen müſſen. Daß dieſe Aufklärung der Mimikryerſcheinungen die zutreffende iſt, geht recht deutlich aus den Fällen hervor, wo zwei Formen ein— ander ähneln, aber für keinen von beiden ein Nutzen dabei heraus— ſchaut, weil ſie entweder beide geſchützt oder beide befähigt ſind, ſich ſelbſt zu ſchützen (z. B. Taggecko Lygodactylus picturatus und Fang— ſchrecke Myrcinus marchali auf Akazien im Sudan); oder wenn Formen, die in gleicher Heimat unbedingt als „mimetiſche“ aufgefaßt würden, in verſchiedenen Ländern, jedoch an Orten von übereinſtimmender klima— tiſcher und phyſikaliſcher Beſchaffenheit vorkommen (Chamäleonechſe Rhampholeon Stumpfii auf Madagaskar und Heuſchrecke Enialopsis Petersii von der gegenüberliegenden Küſte Afrikas). Die Verähnlichung geht alſo wohl nicht von der einen (ſchutzbedürftigen) Form aus, ſon— dern iſt eine gegenſeitige, verurſacht durch den nivellierenden Einfluß ausgeglichener Lebenslage.
Beſonders lehrreich in dieſer Beziehung ſind ſolche „nachahmende“ Arten, bei denen zu einer Männchenform mehrere Weibchenformen gehören, die ſich durch ſchwächer oder ſtärker abgeſtuftes Verſchiedenſein vom Männchen unterſcheiden. Wir erkannten in dieſer weiblichen Vielgeſtalt, die man z. B. bei indiſchen und afrikaniſchen Tagfaltern (Taf. IV, Fig. 4b, c, d) ſehr charakteriſtiſch ausgebildet antrifft, bereits S. 211 ein Symptom langſamerer Veränderlichkeit des Weibchens, das etappenweiſe dem Männchen auf einem Variationswege folgt, den das Männchen längſt bis zu äußerſten Grenzen zurückgelegt hat. Gerade geſchlechtsbegrenzte Polymorphismen ſind nun häufig von Mimikry— erſcheinungen begleitet, inſoferne, als jede Weibchenform je einer anderen, geſchützten Art (Taf. IV, Fig. 5, 6 u. 7) ähnelt: dieſe „Vorbilder“ ſind aber ſtets Verwandte, und zwar keine allzu fernen, der polymorphen
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„Nachahmer“; und da letztere weiblichen Gefchlechtes find, das Männ— chen hingegen weder Modell noch Kopie, — ſo iſt kein anderer Schluß möglich, als daß die Weibchen infolge ihres Verſpätens in der Variation dem gemeinfdmen Arſprungspunkt, von dem die Veränderung der ver- wandten Arten und Gattungen ſich abzweigt und von welchem ſpeziell die „geſchützten“, nachgeahmten Arten und Gattungen ſich noch nicht ſo weit entfernten, ebenfalls näher blieben.
Hier wie dort wie überall werden es eben phyſiologiſche Ar— ſachen, Stoffwechſelbedingungen ſein, die, nachdem ſie von phyſi— kaliſchen Arſachen, klimatiſchen und Ernährungsbedingungen her— vorgerufen waren, nun ihrerſeits die mannigfaltigſt kombinierten, ge— ſtaltlichen Reaktionen am Körper eintreten laſſen. Trifft dann die morphologiſche Reaktion mit Wehrfähigkeit oder Schutzbedarf zuſammen, — dann erſt, aber nicht früher und namentlich nicht ehe das deckende oder ſchreckende Merkmal fix und fertig war, kann die das Werk krönende und ſeinen Charakter als Anpaſſung vollendende Wirkſamkeit der Zuchtwahl einſetzen: darin beſtehend, die weniger glücklichen Kom— binationen allmählich auszutilgen und den glücklichen dadurch derartige Vermehrungsmöglichkeit zu eröffnen, daß ſie über kurz oder lang allein den Plan behaupten.
Die große Rolle der Ausleſe und Zuchtwahl ſoll alſo in keiner Weiſe geleugnet, in jeder Weiſe anerkannt werden; nur aber muß ſie auf dasjenige Maß beſchränkt werden, das Darwin ſelbſt in weit vorausſchauender Genialität ihr zuwies; und das Aber— maß an Leiſtungen muß ihr genommen werden, womit Darwins un— echte Nachfolger ſie auszuſtatten gedachten.
e) Gemiſchte Beſtände und reine Linien (Phänotypen und Biotypen)
Beſäße die Zuchtwahl jene Allmacht, welche die Vertreter des heutigen, antidarwiniſtiſchen Darwinismus von ihr verlangen, ſo müßte ſie für ſich allein eine Steigerung der primären Zweckmäßigkeit oder, was damit zuſammenfällt, eine ſtärkere Ausprägung der zweckmäßigen Eigenſchaften hervorbringen. Dieſe produktive Macht der Naturzüchtung muß nun auf Grund all unſerer heutigen Erfahrungen entſchieden in
Abrede geſtellt werden. Noch nicht ſo ſehr Darwin ſelbſt als ſeine ihn
einſeitig interpretierenden Nachfolger, allen voran Weismann und ſeine Schule, ſind nämlich genötigt, ſich den Entſtehungsprozeß eines neuen Merkmals, wofür ſie die direkte Mithilfe der Außenwelt ablehnen, folgendermaßen vorzuſtellen: Wenn zwei Lebeweſen mit gleichen Eigen— ſchaften ſich fortpflanzen, ſo ſollte dieſe Eigenſchaft bei ihren Nach— kommen in geſteigertem Maße, gleichſam aus väterlichem und mütterlichem Merkmal addiert, zum Vorſchein kommen. Eine Farbanpaſſung, die in grasgrüner Färbung eines Wieſenbewohners gipfelt, ſoll durch Paarung von Tieren entſtehen, die anfangs ganz anders gefärbt, aber vor ihren Artgenoſſen durch ein grünes Fleckchen 318
oder einen grünen Schimmer im Vorteil waren; Exemplare, die den Fleck oder Schimmer nicht beſaßen, fielen ihren Feinden leichter auf und wurden gefreſſen, der Reſt durfte ſich fortpflanzen und Nach— kommen zeugen, deren Fleck vergrößert oder verdoppelt, deren Schimmer verſtärkt erſchien. Durch häufige Wiederholung des gleichen Ausleſe— und Kumulationsprozeſſes ſei zuletzt das einfarbig grüne Tier ent— ſtanden.
Abgeſehen von der aprioriſtiſchen Anwahrſcheinlichkeit, daß die erſt beginnende Grünfärbung den damit ausgeſtatteten Indi— viduen irgendwelchen Nutzen, im konkreten Falle irgendwelche Deckung
Abb. 85. Zuchtwahl bei Kapuzenratten („hooded rats“): durch Ausleſe der Exem—
plare mit breiteſtem Rückenſtreif ſind aus einem Beſtand von Ratten, die jo ausſahen
wie die ganz links befindlichen, allmählich ſolche gezogen worden wie die rechts befindlichen. (Nach Caſtle und Phillips.)
verſchafft haben kann, ſteht die erbliche Steigerung der Eigenſchaft im Widerſpruch zu den Mendelſchen Regeln. Wenn wir dort die in der Enkelgeneration abgeſpaltenen, rotblühenden Exemplare des Löwenmaules, der Wunderblume und Erbſe (S. 256) untereinander fortziehen, wie wir es behufs Ermittlung ihrer Reinraſſigkeit tun mußten, ſo ſollten danach die Arenkel noch röter blühen, eine erhöhte Sättigung der Blütenfarbe zur Schau tragen: das iſt nun durchaus nicht der Fall, ſondern die reingezüchtete Eigenſchaft bleibt ſich in ihrer Aus— bildung trotz Ausleſe immer gleich.
Scheinbar anders verhält ſie ſich noch, ſolange ſie nicht ganz rein— gezüchtet ift: fo konnten Me. Curdy und Caſtle bei den ſogenannten Kapuzenratten („hooded rats“ — Abb. 85), die auf weißem Grunde ſchwarzen oder grauen Kopf und ebenſolchen Rückenſtreif tragen, eine Verbreiterung des Rückenſtreifens durch Auswählen breitſtreifiger In—
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dividuen erhalten. Allein die Verbreiterung geht nicht ſchrankenlos weiter, ſondern ſchon nach wenig Generationen iſt eine Grenze erreicht, wo Ausleſe der breiteſt geſtreiften dasſelbe Reſultat ergibt wie bei den zuvor genannten rotblühenden Pflanzen die Selektion der ſattröteſten Exemplare: von nun an unterbleibt die weitere Steigerung des heraus— und rein durchgezüchteten Merkmals.
Die Gründe dafür erſehen wir aus Johannſens Zucht „reiner Linien“, die überhaupt das entſcheidendſte Beweismaterial gegen eine ſchöpferiſche Wirkſamkeit der Zuchtwahl beibringen. Denken wir uns einen beliebigen Tier- oder Pflanzenbeſtand (Abb. 86), eine ſogenannte
Bevölkerung oder „Population“ — Johannſen ſelbſt arbeitete mit Bohnenbeſtänden, Hanel mit ſolchen des Süßwaſſerpolypen, Jennings mit Pantoffeltierchen: und wir hätten dieſen Beſtand auf Grund irgendeines Merkmals, am beſten eines zähl-, meß- oder wägbaren, variationsſtatiſtiſch unterſucht, die dem Queteletſchen Geſetz (S. 287) und der Binomialformel (S. 288) entſprechende Variationsreihe aufgeſtellt, ſowie die eingipfelig-ſymmetriſche Variationskurve hiervon konſtruiert. Dann wählen wir aus dem Beſtande z. B. eine einzelne Bohnenpflanze, befruchten ſie mit dem Pollen ihrer eigenen Blüte und ziehen ſo in ſtrengſter Inzucht aus den Samen zahlreiche Nachkommen, die wir abermals der variationsſtatiſtiſchen Prüfung unterwerfen. Wiederum erhalten wir eine ähnliche Kurve, nur diesmal eine in ſämtlichen Di— menſionen kleinere: ihre Höhe iſt niedriger, weil uns nicht ſo viele
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Individuen zur Verfügung waren wie im ganzen Naturbeſtand; ihre Baſis iſt kürzer, weil die Variation ſich hier innerhalb engerer Grenzen bewegt als dort. — Wiederholen wir den Inzuchtverſuch mit großen, mittleren und kleinen bzw. ſchweren, mittelſchweren und leichten Indi— viduen und zeichnen die gefundenen kleinen Kurven (Abb. 86, A—Z) in die große Variationskurve ein, ſo gelangen wir mit der Zeit zu der eigentlich ja ſelbſtverſtändlichen Vorſtellung, daß die aktuelle Variations— breite der ganzen Bevölkerung ſich aus der jeweils enger begrenzten potentiellen Variabilität ihrer einzelnen Vertreter zuſammenſetzt.
Johannſen nennt dieſe Komponenten, die aus Selbſtbefruchtung, jungfräulicher Zeugung oder vegetativer Fortpflanzung eines einzigen Exemplars oder allenfalls durch Kreuzbefruchtung eines einzigen rein— raſſigen Geſchwiſterpärchens abgeleitet werden, „reine Linien“ oder „Biotypen“); den willkürlich herausgegriffenen Beſtand aber, woraus fie iſoliert wurden, nennt er Scheintypus oder „Phänotypus“. Damit iſt zum Ausdruck gebracht, daß nur die Biotypen etwas Ein— heitliches, die Phänotypen aber ein buntes Gemiſch aller erdenklichen Variationslinien bilden. Auch die Biotypen ſind reine Linien nur in bezug auf das eine Merkmal, auf das ſich ihre variationsſtatiſtiſche Anterſuchung bezieht, alſo z. B. in bezug auf Samenlänge und Samen— gewicht bei Bohnen; hinſichtlich aller übrigen Merkmale, alſo z. B. Farbe der Samenſchale, Größe und Blütenfarbe der Stammexemplare uſw., gehören fie immer noch dem gemiſchten Phänotypus an und müßten für jedes Merkmal ſeparat ſelbſt erſt wieder der iſolierenden Behandlung unterzogen werden. Reine Linien in bezug auf ein be— ſtimmtes Merkmal, die in allen ſonſtigen Beziehungen gemiſchtlinig waren, haben wir ſchon auf andere Weiſe als durch Inzucht einzelner Exemplare dargeſtellt gefunden: nämlich durch Anpaarung einzelner Pärchen, aus deren Kreuzung ſich in der Enkelgeneration die rein— raſſigen Mendelſchen Rezeſſive und Dominanten abſpalteten: dieſe ſind ebenfalls Biotypen in bezug auf das Merkmal, in welchem ſie rein— raſſig ſind und verläſſig rein weiterziehen: in einer Kreuzung von weißer und roter Wunderblume z. B. ſind die rot- und die weißblühenden Enkel reine Linien bezüglich ihrer Blütenfarbe, während ſie ſelbſt in allen anderen Beziehungen und die roſablühenden Enkel auch in bezug auf Blütenfarbe den phänotypiſchen Miſchlingscharakter beibehielten und ſeine Entmiſchung ſeparater Züchtung vorbehielten.
Die Iſolierung der reinen Linien läßt ſich endlich noch durch eine dritte züchteriſche Methode durchführen, nämlich durch Ausleſe, der das eine Mal die ganze Population, das andere Mal zur Kontrolle der Ausleſewirkung eine bereits fertige reine Linie unterzogen wird. Bringe ich dort, in der Population, z. B. nur lange Exemplare zur Ausſaat, ſo ſind ſchon in der folgenden Generation alle kleinſten Varianten ver— ſchwunden, wogegen ſie beſonders viele Plusvarianten enthält. Die Population gehorcht dem Galtonſchen Rückſchlags- oder Regreſ— ſionsgeſetz, deſſen Ausdruck die folgenden zwei Sätze find: 1. Die
Kammerer, Allgemeine Biologie 21 321
Nachkommen weichen nach derſelben Richtung ab wie die Eltern; 2. ſie weichen jedoch weniger vom Typus ab als die Eltern. Das wiederholt ſich in den weiteren Generationen, wenn man die Selektion in gleicher Nichtung fortſetzt; doch wird der Effekt immer geringer und hört endlich ganz auf. Wir haben die extremen Plusvarianten, in unſerem Falle die Rieſen, aus dem Beſtande ſelegiert, aber darüber hinaus iſt die Zuchtwahl machtlos; ſie allein vermag den Beſtand nicht über die äußerſten Punkte ſeiner Variationsbreite emporzuführen, kann keine Steigerung der Variabilität hervorbringen. Wir haben im Phäno— typus durch mehrere Generationen hin nichts anderes ausgeleſen, als was durch Inzucht des oder der ſorgſam ausgeklaubten allergrößten Exemplare ſchon in der nächſten Generation vorgelegen hätte: die reine Linie der extremen Plusvarianten.
Das war alſo die Wirkung der Selektion im ganzen Beſtand; wir müſſen noch dieſe Wirkung im Biotypus betrachten. Hier kann von einer ſolchen überhaupt nicht geſprochen werden; denn ſo oft auch wir die größten oder ſchwerſten Exemplare ſuchen und die nur aus ihnen gezogene Nachkommenſchaft prüfen: immer bekommen wir annähernd dieſelbe Kurve, immer dieſelben Mittelwerte. Der Rückſchlag zum Durchſchnitt iſt hier ſtets ein ſofortiger und totaler, das Galtonſche Regreſſionsgeſetz innerhalb der reinen Linie ungültig. Da— mit die Selektion auch im Biotypus angreifen kann oder, was auf das— ſelbe herauskommt, damit ſie imſtande ſei, die Variabilität des ganzen Phänotypus zu verſchieben, muß etwas hinzukommen, ein Anſtoß von anderswoher als von der rein negativ arbeitenden Zuchtwahl.
4. Fortſchreitende Entwicklung (Orthogeneſe)
Die Frage, woher ſolche Einflüſſe, die den Beſtand über ſeine bis— herigen Variationsgrenzen hinausheben, wirklich herſtammen, dieſe Frage haben wir längſt beantwortet. Sie führt uns nochmals zurück zur Er— kenntnis der ſchöpferiſch variierenden Macht der Lebensbedingungen; bisher unerörtert blieb hier die wichtige Nebenfrage, ob die Variabilität beſtimmte Richtungen verfolgt, wie K. E. v. Baer, Naegeli und Eimer glaubten, — oder ob ſie richtungslos auseinandergeht, wie es Darwins
Anſicht war. Die Annahme einer beſtimmten Entwicklungsrichtung
(Orthogeneſe — Eimer, Zielſtrebigkeit — v. Baer) wird nahegelegt durch die unleugbare Tatſache der Höherentwicklung, des Fortſchrittes an Komplikation und Organiſationshöhe. Es gibt zwar Natur— forſcher, die, trotzdem ſie überzeugte Abſtammungstheoretiker ſind, doch nicht an die Stammesentwicklung im Sinne einer zunehmenden Ver— vollkommnung glauben, alſo von „höheren“ und „niedrigeren“ Lebe— weſen nichts wiſſen wollen, ſondern darauf hinweiſen, das einzellige Auf— gußtierchen, alſo ein ſehr „niedriger“ Organismus, ſei in ſeiner Art ebenſo vollkommen ausgerüſtet und feiner ſpeziellen Umgebung angepaßt wie das „höchſte“ Wirbeltier; und weiter ſeien in ſolch einer Zelle 322
ebenſo große Komplikationen und funktionelle Mannigfaltigkeiten ein— geſchloſſen wie im vielzelligen Körper. Anter den modernen Gelehrten vertritt namentlich V. Franz dieſe Anſicht, die unſtreitig manches zu ihren Gunſten anführen kann. Wir wollen deshalb den Streit über „Vollkommenheit“ und „Anvollkommenheit“, weil er zu viele relative Zweckbegriffe in ſich ſchließt, ganz beiſeite laſſen und nur die Begriffe „Einfachheit“ und „Zuſammengeſetztheit“ oder Kom— plikation in Betracht ziehen, was gewiß nicht gleichbedeutend iſt mit Anzweckmäßigkeit und vervollkommneter Zweckmäßigkeit. Ein primitiver Organismus kann ſehr vollkommen, d. h. zweckmäßig ſeinen Bedürfniſſen angepaßt ſein; und ein ſehr komplizierter Organismus braucht es nicht zu ſein.
Iſt nun in der Tat ſchon die Zelle ein ſehr zuſammengeſetztes Ge— bilde, deſſen Komplerheit ſich uns deſto mehr enthüllt, je ſchärfere Be— obachtungsmittel wir gewinnen, ſo kann dieſer Amſtand nichts daran ändern, daß ein Organismus, der aus vielen Zellen zuſammengeſetzt iſt, in deren jeder die gleiche, nur durch Arbeitsteilung noch abgewandelte Komplikation ſteckt, doch einen weit höheren Aufbau darſtellt als der einzelne Bauſtein, woraus er ſich zu ſeiner ragenden Höhe emporrichtet. In dieſer Richtung zunehmender Zuſammenſetzung und gleichzeitig da— mit zunehmender Arbeitsteilung bewegt ſich nun die Stammesentwick— lung; und ebendieſe Entwicklungsrichtung hat den Abſtammungs— theoretikern allezeit viel Kopfzerbrechen verurſacht, ſo zwar, daß ſie die Wechſelwirkung von Anpaſſung und Vererbung und all die untergeord— neteren Mittel des Artenwandels, wie Ausleſe und Zuchtwahl, nicht als zureichend empfanden, um jenes Gerichtetſein zu erklären. Ein un— definierbarer innerer Vervollkommnungstrieb (v. Baer), ein ge— heimnisvoller, ſchier übernatürlicher „nisus formativus“ (Naegeli) wurde herangezogen, um die Erklärungslücken auszufüllen.
Anſeres Erachtens iſt aber die bezeichnete Schwierigkeit gar nicht vorhanden und konnte nur durch Verſchulden von dreierlei Denkmängeln empfunden werden: Erſtens durch Vernachläſſigung der allgemeinen gegenſeitigen Entwicklungshilfe als Widerpart des über— ſchätzten Kampfes ums Daſein: in unſerem Falle äußert ſie ſich durch den Geſelligkeits- oder Aggregationstrieb der Zellen, die ſich nach vollzogenen Teilungen nicht mehr voneinander trennen, ſon— dern behufs Bildung widerſtandsfähiger Zellkolonien beiſammen bleiben. Dasſelbe tun dann auch die den Zellen übergeordneten höheren Ein— heiten, die Gewebe, Organe und Organſyſteme; das Gedeihen der Aggregate iſt aber, von je höherer Ordnung ſie ſind, deſto mehr davon abhängig, daß die ſie zuſammenſetzenden Elemente ſich aneinander an— paſſen, die nach innen gelangenden gegenüber den außen verbleibenden nicht in Nachteil geſetzt werden u. dgl. Das geſchieht durch Arbeits— teilung; die Geſellung organiſcher Elemente im Verbande mit der un— vermeidlich dabei einſetzenden Arbeitsteilung erklärt aber allein ſchon einen guten Teil der ſo auffälligen und ſcheinbar erklärungsbedürftigen
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Entwicklungsrichtung als relativ einfaches und klares Kom— plikationsphänomen. Der Geſellungstrieb ſelbſt, die Eigenſchaft und der Drang der Elemente, ſich zu organiſchen Einheiten von höherer Rangordnung zuſammenzuſchließen, iſt hinſichtlich ſeiner erſtmaligen Entſtehung nicht anders zu beurteilen und zu erklären wie die Schaffung einer beliebigen anderen morphologiſchen und phyſiologiſchen Eigenſchaft. Sie iſt durch direkte Anpaſſung entſtanden und durch Vererbung weiter— gegeben: darüber liegen ſogar Experimente vor: Jennings und MeClen— don erreichten bei Infuſorienkulturen teils durch ſchlechte Ernährung, teils durch mäßiges Zentrifugieren, daß die vollkommene Durchſchnürung der Zellen bei den Teilungen unterblieb, ſo daß lange, ſchnur- oder wurmförmige Kolonien entſtanden. Löſte ſich gelegentlich zwar ein Einzelexemplar davon ab, ſo erzeugte es ſeinerſeits oder ſpäteſtens in ſeiner durch Teilung abgetrennten Nachkommenſchaft doch wieder Ketten— tiere, — und zwar auch dann, wenn der zentrifugale Druck inzwiſchen längſt aufgehört hatte bzw. auch Aberſiedlung in reiches Futtermedium ſtattgefunden hatte.
Der zweite Denkfehler, der eine beſtimmt gerichtete Entwicklung als rätſelhaft empfinden ließ, beſteht in mangelhafter Vertrautheit vieler Naturforſcher, die ſich den organiſchen Naturwiſſenſchaften zugewendet haben, mit den einfachſten Geſetzen der anorganiſchen Naturforſchung, der Phyſik. Völlige RNichtungsloſigkeit iſt nämlich ein phyſi— kaliſches Anding: richtungsloſe Wirkungen, Entwicklungen kann es ebenſowenig geben, als es ungerichtete Kräfte gibt. Auch die in der Phyſik als „richtungsloſe“ Skalare (3. B. Wärme) den „gerichteten“ Vektoren (3. B. Strahlung) gegenübergeſtellten Kräfte find mindeſtens in ihren Wirkungen, in der Arbeit, die ſie leiſten, nicht ungerichtet. Richtungsloſigkeit kann höchſtens vorgetäuſcht werden entweder durch Amkehr (Reverſion) in der Richtung, wobei aber doch verkehrte Nich- tung immer noch Richtung iſt; oder — und darin beſteht der dritte Denkfehler, den die Verfechter einer richtungsloſen Variabilität begangen haben und der auch in der modernen Baſtardforſchung erſt überwunden werden mußte, ehe die Vererbungsgeſetze entdeckt werden konnten — Nichtungsloſigkeit wird vorgetäuſcht, wenn man den Geſamthabitus, alſo viele Merkmale zuſammen, betrachtet, von denen Farbe, Größe, Struktur, Geſtalt, Inſtinkt nach diskrepanten Richtungen auseinander— weichen, — ſtatt daß man nach dem jetzt als notwendig erkannten Grundſatz einzelne Merkmale herausgreift. Eine Eigenſchaft allein kann aber nur nach wenig Richtungen variieren, — gewöhnlich nach zweien: vorwärts und rückwärts. Daraus erklärt ſich auch unſer früherer Befund (S. 291), wonach die verändernden Faktoren oft in einer ſcheinbar ſo unbeſtimmten Art wirkſam ſind, ſo daß z. B. Schwär— zung durch intenſive Beſtrahlung, Erwärmung, Ernährung, Benetzung und außerdem durch ſchwarze Amgebung, — ja in faſt gleicher Weiſe durch ſämtliche entgegengeſetzte Extreme dieſer Energien, alſo unter Am— ſtänden auch durch Dunkelheit, Kälte, Hunger, Trockenheit und weißen 324
Boden hervorgerufen werden kann. Schwarzer Farbſtoff kann nämlich nicht gut anders, als zu- oder abnehmen: jeder Faktor, der ihn über— haupt beeinflußt — und reagieren muß er wohl, richtige Doſierung vorausgeſetzt, auf jeden — iſt genötigt, Zu- oder Abnahme zu bewirken. Wie ein Stahlpendel in unterſchiedsloſer Weiſe ſchwingt, ob mechaniſche, elektriſche oder magnetiſche Energie es in Bewegung ſetzt, ſo auch das einzelne organiſche Merkmal. Warum dann nicht wenigſtens die Re— aktionswirkungen eines Merkmals parallel gehen mit den Gradſchwan— kungen des bewirkenden Faktors, ſondern an beiden Extremen ſeiner Skala mehr als einmal ins jeweilige Gegenteil umſchlagen, ſo daß die Extreme ſich wiederum berühren, erklärt ſich aus den Grenzen der Lebensfähigkeit jeder lebenden Subſtanz: der ſchwarze Farbſtoff z. B. kann dadurch zur Vorherrſchaft gelangen, daß die Bedingungen ihm hervorragend günſtig ſind, ſo daß er alle anderen Pigmente verdrängt (Näſſemelanismus); aber auch dadurch, daß ſie ihm nur minder un— günſtig ſind als anderen Pigmenten, deren bisher okkupierten Raum er ausfüllt, indem er bei deren Zugrundegehen dank ſeiner größeren Widerſtandsfähigkeit an ihre Stelle tritt (Dürremelanismus).
Eine letzte Nebenfrage, die uns zu beſchäftigen hat, wenn wir den Artenwandel auf der Grundlage unſeres heutigen Tatſachenwiſſens voll verſtehen ſollen, iſt die nach den Grenzen der äußerlich bedingten Variabilität. Wir entnahmen im vorigen Abſchnitt den Selektions— verſuchen Caſtles, MeCurdys und Johannſens, daß die innerlich durch Zuchtwahl bedingte Variabilität ihre Grenze bald gefunden hat, indem fie nichts erreicht als Iſolierung und Alleinherrſchaft einer beſtimmten, jedoch ſchon fertig vorgebildeten Variante. Gewiß, ein Tier- und Pflanzenbeſtand erſcheint dadurch ſchon mächtig verändert, wenn z. B. Zwerge, die vorher unter vielen tauſend Exemplaren nur einmal vor— kamen, nachher die ganze zahlreiche Bevölkerung ausmachen; oder wenn, wie ich dies auf dem ſteinig-ſandigen Eiland Veli Parſanj bei Liſſa beobachtete, ſandfarbene Eidechſen, die auf der nahe benachbarten großen Inſel Liſſa ſo ſelten ſind, daß ſie dem Sammler unter Hunderten kaum als vereinzeltes Exemplar in die Hände kommen, ihm plötzlich zu Hun— derten, die alle gleichmäßig ſandfarben ausſehen, entgegenlaufen. Eine wirkliche Neugeſtaltung iſt aber mit ſolcher Ausleſe und Vermehrung des auserleſenen Typus nicht vollzogen; denn dieſer Typus war ja ſchon vorhanden, nur innerhalb der übrigen, anders ausſehenden Population verſteckt. Anſere letzte Frage alſo lautet aber: iſt jenen Variationen, die im Gegenſatze zu den Selektionen etwas tatſächlich Neues, eine durchgreifende Veränderung des Beſtandes bedeuten, auch ſolch enge Grenze geſteckt?
Neuerdings, beſonders durch Baur, iſt dieſe Anſicht bejahend aus— geſprochen worden: jedes Merkmal ſei nur in begrenztem Grade um einen Mittelwert variabel; und wenn auch eine Generation nicht immer ausreiche, den Grenzwert zu erreichen, ſo werde doch von jeder Ge— neration ſtets die geſamte Variationsfähigkeit des Merk—
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mals in Geftalt jeiner begrenzt veränderlichen Erbanlage übernommen. Theoretiſch beſteht natürlich nur die Alternative, ent: weder die grenzenloſe Variabilität zuzugeben oder die Abſtammung im Sinne einer Veränderung und Verwandlung der Arten, Klaſſen und Stämme zu leugnen. Die Frage hat in Anbetracht dieſer zugeſchärften Alternative große prinzipielle Bedeutung.
Praktiſch ſcheint zunächſt für Begrenztheit der Variabilität zu ſprechen, daß die Veränderung eines Merkmals deſto langſamer zu werden pflegt, je weiter ſie ſchon vorgeſchritten war. Labilität wird nicht bloß durch Stärke und Dauer der Einwirkung ſowie erbliche Fort— wirkung in Stabilität verwandelt, ſondern auch — was freilich nur den Effekt für die Arſache einſetzen heißt — durch die Stärke der bereits erzielten Veränderung. Im nur ein einziges Beiſpiel aus eigener Ex— perimentierpraris anzugeben: es iſt ungeheuer viel leichter, eine feſt— ländiſche Wieſeneidechſe (Lacerta serpa) mit grüner Grundfarbe fo ſchwarz zu machen, daß ſie einer ſchwarzen Inſelform gleicht, als eine inſelbewohnende Eidechſe, die mit brauner Grundfarbe den halben Weg zu jener Endform bereits zurückgelegt hat, zum Vollenden auch der reſt— lichen Weghälfte zu bringen. Abrigens ſcheinen ſich die Merkmale diesbezüglich verſchieden zu verhalten; es gibt ſolche, denen jeder Schritt vorwärts den folgenden erſchwert, und andere, die eine durchführbare Verwandlung mit fortlaufender Beſchleunigung zurücklegen. Letzteres mag manchmal darauf beruhen, daß es ſich um einen von früher her bekannten Verwandlungsweg handelt, nur um ein Wiederbetreten ſeither verlaſſener Bahnen; ein andermal möchte man von ferne auch den Ver— gleich mit Immunität (S. 104) und Anaphylaxie (S. 105) wagen — im erſten Falle bei Steigerung der Doſen Abſtumpfung, im letzteren trotz Abminderung der Doſen erhöhte Empfänglichkeit gegenüber dem verändernden Medium.
Aus der Feſtſtellung beſchleunigt ablaufender Variationsvorgänge ſowie daraus, daß auch bei den verzögert ablaufenden die Verlang— ſamung, ja der Stillſtand ſchließlich durch noch ſtärkere Intenſität des bewirkenden Faktors überwunden wird, folgt die endgültige Antwort auf unſere zuletzt geſtellte Frage: nicht bloß theoretiſch, ſondern auch empiriſch iſt die Variabilität unbegrenzt. Die wenigen, in Anbetracht der uns zur Verfügung ſtehenden kurzen Verſuchszeit gewiß auch ſeltenen Fälle, in denen eine Transmutation bis zum äußerſten Ziele durchgeführt werden konnte, beweiſen die faktiſche Anbegrenztheit aufs ſchlagendſte. Am auch dafür noch ein Beiſpiel zu geben, ſei an die S. 268 und S. 279 beſprochenen Farbveränderungen des Feuer: ſalamanders erinnert: dieſe find erſt dann am Ziele, wenn die geſamte Haut des Tieres in der einen Richtung nur mehr mit gelbem, in der anderen nur mit ſchwarzem Farbſtoff durchſetzt iſt. Hier endlich liegt dann allerdings eine unüberſchreitbare Grenze der Variabilität: nämlich bei vollſtändiger Beſetzung des zur Verfügung ſtehenden Organs oder Gewebes, bei reſtloſer Eroberung aller erreichbaren Körper— 326
flächen. Aber man laſſe nur mehrere Merkmale in ſolch „begrenzter“ Weiſe variieren, und es wird mehr daraus als bloß eine neue Art!
Werfen wir, bei dieſem unverlierbaren Abſchluſſe angelangt, einen letzten Blick zurück auf die bewunderungswürdigen Bohnenzüchtungen Johannſens in reinen Linien und Scheintypen: Ausleſe vermag die gemiſchte Bevölkerung nicht wirklich zu verändern, nicht über die Varia— bilität ihrer feſteſten Typen hinwegzubringen, kann alſo keine Triebkraft des Artenwandels werden; aber auch vom Einfluß der Lebenslage und der erblichen Kraft daraus gewonnener Eigenſchaften leugnet Johannſen mit leider allzu vielen modernen Naturforſchern jene ſchrankenloſe Weit— zügigkeit, die für das Werden einer Stammesgeſchichte, wenn ſie nicht ewig Gleiches liefern ſoll, unentbehrlich iſt. Ein Anhänger Johannſens (Fitting) beſpricht in der Zeitſchrift „Die Naturwiſſenſchaften“ (1914 S. 189) ſein zu übertriebenem Ruhme gelangtes Werk „Elemente der exakten Erblichkeitslehre“; in dieſem Referat fragt der Rezenſent ſelbſt, was eigentlich von den Triebfedern der Stammesentwicklung übrigbleibe, wenn die Zuchtwahl nichts ausrichtet und die direkte Bewirkung nicht länger gelten dürfe. Die Antwort iſt klar genug: Nichts — als der Zuſammenbruch der Abſtammungslehre. Von einem neuen Standpunkt aus ſind wir abermals auf den Weg geraten, den die moderne „Genetik“ (was deutſch ſehr zu Anrecht ſo viel bedeutet wie „Entwicklungslehre“) geht, und den wir ſchon bei Kritik des „Neo— Mendelismus“ kreuzten: den Rückſchrittsweg vom Entwicklungsgedanken zum Konſtanzglauben. Zwängen die Tatſachen uns dazu, wir müßten ihn unweigerlich mitſchreiten; aber die Tatſachen zeigen uns den anderen Weg, mit grandioſer Höherentwicklung als Ziel — ein Ziel, das, wenn einmal erreicht, allemal ſelbſt wieder Weg wird zu neuer Höhenent— wicklung! Die Tatſachen zeigen uns endlich — und wir dürfen uns darüber ebenſo freuen wie wir, wenn ſie auf Zuſammenbruch der Ab— ſtammungslehre hindeuten würden, darüber nicht klagen dürften — mit Groß den „Zuſammenbruch der Johannſenſchen exakten Erblichkeits lehre“.
And deshalb wollen und brauchen wir dort nicht mehr mitzuwandern. Wir machen nicht Halt, weil wir an Höherentwicklung glauben und uns dieſen frohen Glauben von theoretiſcher Voreingenommenheit nicht rauben laſſen. Wiſſenſchaftlich denken heißt zwar nach einem ſchönen Worte Goldſcheids, „an neue große Möglichkeiten glauben und nicht aprioriſtiſch wähnen, es könnte nichts außer und in uns vollkommener ſein, als es iſt“; allein ins Naturwiſſenſchaftliche überſetzt, bedeutet dies „Glauben“ jedenfalls kein „Aberzeugtſein“, ſondern nur ein „Für⸗ möglichhalten“. Unter dem Möglichen das Möglichſte und daher Aber⸗ zeugendſte ſind aber naturwiſſenſchaftlich ermittelte Tatſachen: ſie lehren uns auf Schritt und Tritt, daß die Höherentwicklung mehr iſt als der ſchönſte Traum des vorigen Jahrhunderts, des Jahrhunderts eines Lamarck, Goethe und Darwin; die Höherentwicklung iſt Wahr—
327
heit, nüchterne, herrliche Wirklichkeit. Zwar nicht durch graufame
Zuchtwahl werden die Lebenswerkzeuge geſchaffen und vervollkommnet,
und nicht der troſtloſe Kampf ums Daſein allein regiert die Welt;
aber aus eigener Kraft ringt ſich die Kreatur zu Licht und Lebens— freude empor und überläßt nur, was ſie nicht brauchen kann, den Gräbern der Ausleſe.
Literatur über Abſtammung:
Abel, Brauer, Dacqué, Doflein, Gieſenhagen, Goldſchmidt, R. Hertwig, Kammerer, Klaatſch, Maas, Semon, „Die Ab— ſtammungslehre“. 12 gemeinverſtändliche Vorträge. Jena, G. Fiſcher, 1911.
Arldt, Th., „Die Entwicklung der Kontinente und ihrer Lebewelt“. Leipzig, W. Engelmann, 1907.
Bateſon, W., „Problems of Genetics“. New Haven, University Press, 1913. (Außerſt dogmatiſch verbohrtes Buch!) 8
Blaringhem, L., „Mutation et Traumatismes. Etude sur l'évolution des formes végétales“. Paris, Felix Alcan, 1908.
Cuénot, L., „L'influence du milieu sur les animaux“. Encyclopédie scientifique des aide-mémoire. Paris, G. Maſſen, 1894. (Einſeitige Deutungen.)
Cuénot, L., „La genese des especes animales“. Paris, F. Alcan, 1911. (Höhlentiere ſollen farb- und augenlos ſein, nicht, weil ſie im Dunkeln lebten, ſondern weil bleich- blinde Tiere die feucht finſteren Grotten aufſuchten u. dgl.)
Darwin, Ch., „Die Fundamente zur Entſtehung der Arten“. Heraus— gegeben von Francis Darwin, deutſch von Maria Semon. Leipzig und Berlin, B. G. Teubner, 1911.
Davenport, C. B., „Statistical Methods with special reference to Bio— logical Variation“. 2ud edition. Neuyork, John Wiley & Sons, 1904.
Deläge, X., und M. Goldſmith, „Die Entwicklungstheorien“. Deutſch von Dr. Roſe Theſing. Leipzig, Theod. Thomas, ohne Jahreszahl. (Berückſichtigt die Ergebniſſe bis annähernd 1904.)
Detto, Karl, „Die Theorie der direkten Anpaſſung und ihre Bedeutung für das Anpaſſungs- und Deſzendenzproblem“. Jena, G. Fiſcher, 1904.
Eimer, Th., „Die Entſtehung der Arten auf Grund von Vererben er— worbener Eigenſchaften“. Jena, G. Fiſcher, 1888.
Eimer, Th., „Die Artbildung und Verwandtſchaft bei den Schmetter— lingen“. Jena, G. Fiſcher, 1889.
Eimer, Th., „Orthogeneſis der Schmetterlinge“. Leipzig, W. Engel- mann, 1897.
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Graff, L. v., „Das Schmarotzertum im Tierreich“. Leipzig, Quelle & Meyer, 1907.
Guenther, K., „Vom Artier zum Menſchen“. Ein Bilderatlas. 2. Aufl. Zwei Bände. Stuttgart, Deutſche Verlags-Anſtalt, 1912.
Haacke, W., „Die Schöpfung der Tierwelt“. Leipzig und Wien, Bibl. Inſtitut, 1893.
Haacke, W., „Grundriß der Entwicklungsmechanik“. Leipzig, Arthur Georgi, 1897.
328
Hertwig, R., und R. v. Wettſtein, „Abſtammungslehre, Syſtematik, Paläontologie, Biogeographie“. Kultur der Gegenwart, 3. Teil, 4. Abt., 4. Band. Leipzig-Berlin, B. G. Teubner, 1914. Johannſen, W., „Elemente der exakten Erblichkeitslehre“. 2. deutſche Auflage. Jena, G. Fiſcher, 1913. (Engherzig verallgemeinerter Stand— punkt, gewonnen aus ſehr ſpezialiſierten Anterſuchungen.) Kammerer, P., „Sind wir Sklaven der Vergangenheit oder Werkmeiſter der Zukunft?“ Wien, Brüder Suſchitzky, 1913. Kammerer, P., „Genoſſenſchaften von Lebeweſen (Symbioſe)“. Stutt— gart, Strecker & Schröder, 1913. Kammerer, P., „Variabilität, Variation der Tiere und Pflanzen“. Handwörterbuch der Naturwiſſenſchaften. Jena, G. Fiſcher, 1914. Kellogg, V. L., „Darwinism to- day“. Neuyork, H. Helt & Co., 1907. (Sollte heißen: „Anti-Darwinism“ !)
Kropotkin, „Gegenſeitige Hilfe in der Tier- und Menſchenwelt“. Leipzig, Th. Thomas, 1908.
Morgan, Th. H., „Evolution and Adaptation“. Neuyork, Macmillan Co., 1903.
Nuttal, G. H. F., „Blood Immunity and Blood Relationship“. Cambridge, University Press, 1904.
Pauly, A, „Darwinismus und Lamarckismus“. München, E. Rein— hardt, 1905.
Piepers, M. C., „Mimikry, Selektion, Darwinismus“. Leiden, E. J. Brill, 1903 und 1907.
Plate, L., „Selektionsprinzip und Probleme der Artbildung“. 4. Aufl. Leipzig und Berlin, W. Engelmann, 1913.
Preyer, A. Th., „Lebensänderungen“. Leipzig, Th. Grieben, 1914.
Pringsheim, H., „Die Variabilität niederer Organismen“. Berlin, J. Springer, 1910.
Schneider, K. C., „Einführung in die Deſzendenztheorie“. Jena, G. Fiſcher, 2. Aufl. 1911.
Simroth, H., „Die Entſtehung der Landtiere“. Leipzig, W. Engel— mann, 1891.
Tietze, S., „Das Rätſel der Evolution“ und „Die Löſung des Evolutions— problems“. München, E. Reinhardt, 1911 und 1913.
De Vries, H., „Die Mutationstheorie“. 2 Bände. Leipzig, Veit & Co., 1901 und 1903.
De Vries, H., „Die Mutationen in der Erblichkeitslehre“. Berlin, Born— träger, 1912.
Wallace, A. R., „Darwinism“. London, Maemillan & Co., 1890.
Weismann, A., „Vorträge über Deſzendenztheorie“. 3. Aufl. 2 Bände. Jena, G. Fiſcher, 1913.
Wilſer, L., „Tierwelt und Erdalter“. Stuttgart, Strecker & Schröder, ohne Jahreszahl.
(Vgl. auch die Literatur zum vorhergehenden Kapitel über „Vererbung“,
ferner die Schriften von Arldt im I., Semon im III., Dohrn im IV.,
Dungern und Keeble im V., Weismann im VI., Claus, Diels,
Glück, Haeckel, Roux, Schultz und Wettſtein im VII., Bölſche, Haeckel, Kammerer, Kerner und Klengel im VIII. Kapitel.)
329
Allgemeine Literatur
Bölſche, W., „Stirb und werde“. Jena, E. Diederichs, 1913.
Börner, K. O., „Allgemeine Biologie in Verſuchen und Beobachtungen“. Leipzig-Berlin 1911.
Chun C. und W. Johannſen, „Allgemeine Biologie“. — Kultur der Gegenwart, 3. Teil, 4. Abt., 1. Band, Leipzig und Berlin, B. G. Teubner, 1915.
Davenport, C. B., „Experimental Morphology“. Neuyork, Macmillan Co, 18%.
Firtſch, G., „Leitfaden der allgemeinen Lebenslehre“. Wien, Pichler, 1913. (Hält nicht, was der Titel verſpricht, iſt ſpezielle Lebenslehre!)
Gemelli, A., „L'Enigma della vita“. Firenze, Libreria editrice florentina, 1910. (Neigt zu vitaliſtiſch-pietiſtiſcher Frömmelei!)
Gibſon Harvey, „Biology“. London, J. M. Dent & Co., 1908.
Goebel, K., „Einleitung in die experimentelle Morphologie der Pflanzen“. Naturwiſſenſchaft und Technik. Leipzig-Berlin, B. G. Teubner, 1908.
Gurwitſch, A., „Morphologie und Biologie der Zelle“. Jena, G. Fiſcher, 1904.
Hertwig, O., „Allgemeine Biologie“. Neue Auflage des Lehrbuches „Die Zelle und die Gewebe“. 4. Aufl. Jena, G. Fiſcher, 1912.
Hertwig, O., „Zeit- und Streitfragen der Biologie“. Jena, G. Fiſcher, ab 1894.
Heſſe-Doflein, „Tierbau und Tierleben“. 1. Band 1910, 2. Band 1914. Leipzig-Berlin, B. G. Teubner.
Kammerer, P., „Allgemeine Lebenslehre für Mädchenlyzeen“. Wien, F. Deuticke, 1915. (In Vorbereitung.)
Kaſſowitz, M., „Allgemeine Biologie“. 4 Bände. Wien, M. Perles, 18991906.
Kern, B., „Das Problem des Lebens“. Berlin, Hirſchwald, 1909.
König, E., „Das Leben, ſein Arſprung und ſeine Entwicklung“. Berlin, F. Wunder, 1905.
König, E., „Die Löſung des Lebensrätſels“. Stuttgart, M. Kielmann, 1909. (Vor dieſen beiden Büchern, in ihrer Eigenſchaft als Schund— literatur, kann nur gewarnt werden!)
Lipſchütz, A., „Allgemeine Biologie“. Leipzig, Th. Thomas' Volksbücher Nr. 94/95.
Loeb, J., „Vorleſungen über die Dynamik der Lebenserſcheinungen“. Leipzig, Joh. Ambr. Barth, 1906.
Loeb, J., „Das Leben“. Vortrag vor dem Internationalen Moniſten— kongreß Hamburg. Leipzig, A. Kröner, 1911.
Maas, O., und Renner, O., „Einführung in die Biologie“. München und Berlin, R. Oldenbourg, 1912.
Migula, W., „Pflanzenbiologie“. Leipzig, Quelle & Meyer, 1909.
330
Minot, Ch. S., „Moderne Probleme der Biologie“. Jena, G. Fiſcher, 1913. (Berückſichtigt vorwiegend nur amerikaniſche Forfcher.)
Morgan, Th. H., „Experimentelle Zoologie“. Deutſch von Helene Rhumbler. Leipzig, B. G. Teubner, 1909.
Morley-Landmann, „Vom Leben. Ein Blick in die Wunder des Werdens“. Leipzig, Joh. Ambr. Barth, Sammlung „Wiſſen und Können“, 1908.
Nathanſon, A., „Allgemeine Botanik“. Leipzig, Quelle & Meyer, 1912.
Neweſt, Th., „Vom Zweck zum Arſprung des organiſchen Lebens“. Wien, C. Konegen, 1908. (Trotz ſeiner feindlichen Haltung gegen die „Fach— wiſſenſchaft“ und entſprechender Anbekanntſchaft mit ihren Grundlagen iſt dem Buche ein Gehalt an geſunden Ideen nicht abzuleugnen.)
Nußbaum, M., G. Karſten, M. Weber, „Lehrbuch der Biologie für Hochſchulen.“ 2. Aufl. Leipzig, W. Engelmann, 1914.
Oſtwald, Wilh., „Die Mühle des Lebens“. Leipzig, Th. Thomas, ohne Jahreszahl.
Przibram, Hans, „Einleitung in die experimentelle Morphologie der Tiere“. Leipzig und Wien, F. Deuticke, 1904.
Przibram, Hans, „Anwendung elementarer Mathematik auf biologiſche Probleme“. Leipzig, W. Engelmann, Vorträge und Aufſätze über Entwicklungsmechanik, herausgegeben von W. Roux, Heft III, 1908.
Przibram, Hans, „Experimentalzoologie“. 5 Bände. Wien, F. Deuticke, 1907-1914.
Rabes O. und E. Löwenhardt, „Leitfaden der Biologie für die Ober- klaſſen höherer Lehranſtalten“. 2. Aufl., Leipzig, Duelle & Meyer, 1914.
Rädl, Em, „Geſchichte der biologiſchen Theorien“. Leipzig, W. Engel— mann, 1909.
Reinke, J., „Grundzüge der Biologie“. Heilbronn, E. Salzer, 1909.
Reinke, J., „Theoretiſche Biologie“. Berlin, Gebr. Paetel, 1901.
Roſen, R., „Wunder und Rätfel des Lebens“. Leipzig, Th. Thomas, 1914.
Schmidt, H., „Wörterbuch der Biologie“. Leipzig, A. Kröner, 1912.
Schönichen, W., „Einführung in die Biologie“. Leipzig, Quelle K Meyer, 1911.
Schurig, W., „Biologiſche Experimente“. Leipzig, Quelle & Meyer, 1909.
Semper, K., „Die natürlichen Exiſtenzbedingungen der Tiere“. Intern. wiſſenſchaftl. Bibl. 39. u. 40. Band. Leipzig, F. A. Brockhaus, 1880.
Simroth, H., „Abriß der Biologie der Tiere“. Leipzig, Sammlung Göſchen, 2 Bände, 1901.
Stadlmann, J., „Allgemeine Lebenslehre (Biologie), verbunden mit einer ſyſtematiſchen Wiederholung des Tier- und Pflanzenreiches“. Wien, F. Tempsky, 1914. (Nach jener „ſyſtematiſchen Wiederholung“ bleibt nichts mehr für „Biologie“ übrig!)
Theſing, C., „Biologiſche Streifzüge. Eine gemeinverſtändliche Ein— führung in die allgemeine Biologie“. 2. Aufl. Eßlingen und München, J. F. Schreiber, 1908.
Theſing, C., „Experimentelle Biologie“. Aus Natur und Geiſteswelt. Leipzig, B. G. Teubner, 1911.
Verworn, M., „Allgemeine Phyſiologie“. 5. Aufl. Jena, G. Fiſcher, 1909.
Wasmann, E., „Die moderne Biologie und die Entwicklungstheorie“. Freiburg i. B., Herderſche Verlagshandlung, 1906. (Beſitzt die Druck— erlaubnis eines geiſtlichen Würdenträgers!)
331
Erklärung der Tafelabbildungen
Da fen
Fig. 1—3 (Text S. 138). Bilder zum Verſtändnis der anatomiſchen Zu— ſammenſetzung von „Periklinalchimären“ (nach Baur, Färbung von 2a verändert).
Fig. 1 Zweig vom Weißdorn (Crataegus monogyna); la Schnitt durch Fruchthaut und Fruchtfleiſch: die Haut- („Epidermis“) Zellen nur in einfacher Lage vorhanden und durch dunkelroten Zellſaft aus— gezeichnet, 2—3 Reihen der darunterliegenden, dem Fruchtfleiſch angehörigen Zellſchichten einen blaßroten Zellſaft enthaltend.
Fig. 2 Zweig des „Pfropfbaſtardes“ (Periklinalchimäre) Crataegomespilus Asneriesii; 2a Schnitt durch Fruchthaut und Fruchtfleiſch, dieſes wie bei Crataegus (vgl. 1a), jene wie bei Mespilus (vgl. 3 a) be— ſchaffen.
Fig. 3 Zweig des Miſpelbaumes (Mespilus germanica); 3a Schnitt durch Fruchthaut und Fruchtfleiſch: die Haut dick, mehrſchichtig („Peri— derm“), die beiden äußeren Reihen ledergelb — die Zellen des Fruchtfleiſches in ſämtlichen Reihen farblos, d. h. ohne gefärbten Zellſaft.
Fig. 4 (Text S. 73, 212 u. 245). Generations wechſel der Mooſe: a, b, d, g bis o gemeines Haarmützenmoos (Polytrichum vulgare), g nach Wettſteins „Handbuch der ſyſtematiſchen Botanik“, die übrigen Figuren nach Heinrich Jungs „Wandtafeln“; c, e, f Sternmoos (Mnium), nach Firtſchs „Leitfaden der allgemeinen Lebenslehre“, c verdeutlicht.
Fig. da. Männliches Pflänzchen der Geſchlechtsgeneration („Ga— metophyt 7). „ 4b. Gipfel desſelben (männliche „Moosblüte“ im Längsſchnitt, fo daß man einige Antheridien und Saftfäden ſieht). „ 4%. Einzelnes Antheridium mit austretenden männlichen Ge— ſchlechtszellen („Spermatozoen “). „ 4d. Gipfel einer weiblichen Moospflanze (weibliche Moosblüte) im Längsſchnitt, ſo daß man etliche Archegonien ſieht. „ 4e. Einzelnes Archegonium im Längsſchnitt, innen die Eizelle, zu der ein Kanal als Weg für die Spermatozoen hinleitet. 4f. Junges Gewächs der geſchlechtsloſen Generation („Sporo— phyt ), iſt an Ort und Stelle aus der Eizelle emporgekeimt und hat das Archegonium zerſprengt, deſſen oberer Teil als „Haube“ dem Sporophyten aufſitzt. „ 4g. Stück des Moosraſens mit ſeinem kriechenden unterirdiſchen Stengel: auf dem Gipfel zweier weiblicher Moospflänzchen iſt der Sporophyt fertig entwickelt zur Mooskapſel („Sporo—
gon“), von denen die linke noch die vertrocknete Haube (Reit des zerriſſenen Archegoniums, vgl. abermals Fig. 45) trägt; rechts iſt die Haube abgefallen.
Fig. 4h. Reife Kapſel (Sporogon) mit Haube.
„ 41. Reife Kapſel nach Abfallen der Haube, mit Deckel.
„ Ak. Kapſel, quer durchſchnitten, mit Sporen angefüllt.
„ 41. Einzelne, reife Spore.
„ Am. Die Spore nach dem Auskeimen.
„ In. Stück des fadenalgenähnlichen Moosvorkeimes.
„ 40. Vorkeim mit Knoſpe eines jungen Moospflänzchens, aus welchem wieder die Geſchlechtsgeneration (vgl. Fig. 4a uſw.) entſteht.
Fig. 5 (Text S. 155, 212 u. 245). Generationswechſel der Farne, und zwar des Wurm- oder Schildfarnes (Aspidium S Polystichum filix mas), ſämtliche Figuren nach Firtſch, „Leitfaden der allgemeinen Lebenslehre“, zum Teil etwas verdeutlicht.
Fig 5a. Ganze Pflanze (geſchlechtsloſe Generation, „Sporo— phyt“) mit jungen, ſpiralig eingerollten und einem erwachſenen Blattwedel.
„ Sb. Blattfiederchen von der Anterſeite, mit reifen Sporenlagern.
„ Sc. Einzelne Spore.
„ Sd·—e. Deren Entwicklung zum Vorkeim.
„ Sf. Fertiger Vorkeim (Geſchlechtsgeneration, „Gametophyt“, mit Antheridien im Bereiche der Wurzelhaare, Archegonien im Bereiche des Ausſchnittes, der dem Vorkeim die charak— teriſtiſche Herzform verleiht.
„ Sg. Aus einem der Archegonien emporgewachſener Farnkeimling (noch in Verbindung mit dem Vorkeim), der wieder die geſchlechtsloſe Generation (Fig. 5, Sa) liefert.
„ Sh. Archegonium im Längsſchnitt, mit Eizelle (analog Fig. te).
„ Si. Antheridium im Längsſchnitt, mit austretenden Spermato— zoen, die erſt zum Teil ein ſie urſprünglich umſchließendes Häutchen geſprengt haben (analog Fig. 400).
Tafel II
In Fig. 1-3 bedeuten P die Eltern- (Parental), F, die Kinder- (erite Filial⸗) und Fe die Enfel- (zweite Filial-) Generation.
Fig. 1 (Text S. 256). Gemiſchte (intermediäre) Vererbung eines Merkmalspaares bei Kreuzung von rot- und weißblühender Wunderblume (Mirabilis yalapa), nach Correns.
Fig. 2 (Text S. 261). Ausſchließende (alternative) Vererbung zweier Merkmalspaare bei Kreuzung von blauſchwarz-runzeligem mit weißgelb - glattem Kukuruz (Zea Mays var. coeruleodulcis & Zea Mays var. alba), nach Correns.
Fig. 3 (Text S. 264). Miſchlings-Atavismus („Kryptomerie“) bei Kreuzung zweier weißblühender Raſſen der ſpaniſchen Wicke (Lathyrus odoratus), nämlich „Emily Henderson“ mit länglichem bzw. rundem Pollen: F, gibt durchweg „Purple Invincible“, F, er— gibt unter je 64 Enkeln 27 „Purple Invincible“ (links), 9 „Painted Lady“ (Mitte) und 28 „White“ (rechts). Nach Bateſon.
333
Tafel III Fig. (Text S. 264). Blattkäfer Melasoma scripta = Lina lapponica: a) Typus, b) Form mit ganz ſchwarzen Flügeldecken. In der Kreuzung dominiert a über b (bisweilen umgekehrt), und die Zahl der dominanten Exemplare nimmt bei Maſſenzucht und freier Paarung von Generation zu Generation zu. Nach Me Cracken. Fig. 2 (Text S. 272 u. 295). Kolorado-Kartoffelkäfer (Leptinotarsa decemlineata): a) Typus, b) var. tortuosa, c) var. pallida, d) var. defectopunctata; b—d treten als Erperimentalformen, aber auch im Freien als lokale Naturraſſen auf und find unter Amſtänden erblich beſtändig. Nach Tower. Fig. 3 u. 4 (Text S. 313). Zwei Fälle von Nachäffung („Mimikry ), aus Heſſe-Doflein: Fig. 3a. Horniffe (Vespa crabro), als nachgeahmtes, geſchütztes „Modell“ von „ 3b. Schwebfliege (Volucella inanis), als nachahmender „Kopie“. „ 4a. Steinhummel (Bombus lapidarius), als Modell von „ 4b. Schwebfliege (Volucella bombylans), als Kopie.
Tafel IV
Fig. 1 (Text S. 190 u. 209). Stachelbeerſpanner, Harlekin (Abraxas grossulariata): a) forma typica, b) var. lacticolor (in der Natur nur als Weibchen vorkommend, künſtlich auch bei Männchen herausgezüchtet). Nach Doncaſter und Raynor, aus Bateſon.
Fig. 2 (Text ©. 241). Landkärtchen (Vanessa [Araschnia] levana): a) Typus (forma levana —Wintergeneration), b) var.prorsa (= Sommer- generation). Nach Berge-Rebels Schmetterlingsbuch.
Fig. 3 (Text S. 132). Widderchen, Blutfleck (Zygaena carniolica): a) „He— teromorphoſe“, links ein Vorderflügel anſtelle des Hinter— flügels, b) Vergleichsexemplar mit zwei normalen Hinterflügeln.
Fig. 4 (Text S. 211 u. 317). Ein afrikaniſcher Schwalbenſchwanz (Papilio Merope = Dardanus): a) Männchen, b)—d) drei zugehörige Weibchenformen, und zwar b) forma trophonius, angeblich mimetiſche Form („Kopie“) von Fig. 5, c) hippocoon, ſogenannte Kopie von Fig. 6, d) Cenea, „Kopie“ von Fig. 7.
Fig. 5 (Text S. 317). Afrikaniſcher Tagfalter (Danais chrysippus), an— geblich geſchütztes Vorbild (immunes „Modell“) von Fig. 4 b.
Fig. 6 (Text S. 317). Südafrikaniſcher Tagfalter (Amauris niavius), „Modell“ von Fig. 4c.
Fig. 7 (Text S. 317). Südafrikaniſcher Tagfalter (Amauris Echeria), „Modell“ von Fig. 4d. (Die Fig. 4—7 nach Trimen aus Weismann.)
Fig. 8 (Text S. 266). Neſſelfalter, Kleiner Fuchs (Vanessa urticae) nebſt künſtlich erzielten Temperaturformen und Vererbung erworbener Düſterfärbung: a) Typus, b) mäßige Kälte-, c) Froſtform der erſten, dem Temperaturexperiment unterworfenen Generation, ch bei ge— wöhnlicher (höherer) Temperatur aufgezogener Nachkomme der mit Froſt behandelten vorigen Generation c. Nach Standfuß, An— ordnung wie in Przibrams Experimentalzoologie.
334
Namen- und Sachregiſter
(Art- und Gruppennamen von Tieren und Pflanzen fanden keine Aufnahme; ebenjowenig die Nennung der Autoren in den jedem Kapitel und dem Buchſchluſſe angehängten Literatur— verzeichniſſen, worin die Autoren ohnehin alphabetiſch geordnet erſcheinen)
A
Abbau (Diſſimilation, Katabolismus) 23, 40, 41, 94, 99, 113, 115, 249.
Abortivembryo 213, 217.
Abſcheidung (Sekretion) 100; innere 103, 168, 205, 208, 249.
Abſtammung (Phylogeneſe) 279,322, 327:
Achromatin (nicht färbbare Kern— ſubſtanz) 35.
Adler, Leo 168.
Adventivbildungen (Erſatzſproſſe) 126, 133:
Aquationsteilung (erfte Reifeteilung) 193.
Außere Faktoren (Lebensbedin— gungen) 267, 291, 294, 322, 324.
Agglutination (Zuſammenballen von Blutzellen) 282.
Aggregatszuſtand der lebenden Ma— terie 17, 24, 31.
Aktive oder funktionelle Anpaſſung und Ausgleichung 298, 302, 309.
Anabolismus (Aufbau, Stoffgewinn) 41.
Anaerobie (Leben ohne Atmoſphäre), fakultative und obligate 107. Analogie, analoge Organe 27, 85.
Analyſe 23, 30, 248.
Anaphylaxie (geſteigerte Giftempfind— lichkeit) 105, 326.
Anatomie 4, 281.
Androdiözie (Zwitter- und männliche Organe auf verſchiedenen Stöcken) 234.
Androgeneſe (Embryoentſtehung aus
Aktivierende (realiſierende, voraus
ſetzende) Faktoren 57, 292. Albinismus 257, 265, 291, 292, 309. Albinus 301.
Algonkium 20. Allelomorphe Merkmalspaare 260,
333:
Allen 290.
Alter (Lebensalter) 121, 179, 205, 229.
Altſchul 301.
Generationen 235, 236, 239. Ammoniak 96. Amöboide Bewegung 72, 92, 98. Amphimixis ggeſchlechtliche miſchung) 226.
der männlichen Keimzelle allein) 2 2
Androgynismus (weibliche Ge— ſchlechtsmerkmale an Männchen) 205.
Andromonözie (Zwitter- und rein männliche Organe auf gleichem Stock) 234.
Androplasma (männlicher Stoff) 188.
Anemophile Blüten (durch den Wind beſtäubte) 216.
Animaler Zellpol (Kernpol) 134, 149, 150.
Anlagen (Gene, Pangene, Deter— minanten, Faktoren) 249, 266.
Anlagerung (Appoſition) 41, 49.
Anpaſſung (Adaptation) 128, 157, 297, 314, 323.
Antagoniſten (entgegenarbeitende Drüſen mit innerer Sekretion) 169.
Antheridien (Behältniſſe für männ— Ammen- (agame) Individuen, bzw.
Ver⸗ |
liche Keimzellen bei Sporenpflan— zen) 212, 332, 333.
Antipoden (des pflanzlichen Embryo— ſackes) 212.
Antitorine (Gegengifte, Schutzſtoffe) 104.
335
Apoplasmen (tote Abſonderungs— produkte des Plasmas) 24, 34, 76, 78, 120.
Appoſition (Wachstum durch An— lagerung) 41, 49.
Arbeitsteilung (Differenzierung, Spe— zialiſierung) 60, 74, 127, 144, 232, 243, 286, 323.
— und Wachstum 158, 164, 172.
Archäiſche Periode (Urzeit der Erde) 21.
Archegonien(Eibehältniſſe beiMooſen und Farnen) 212, 332, 333.
Ariſtoteles 8.
Arrhenius 17, 18, 19, 25.
Art (Spezies) 4, 5, 282.
Artenwandel (Transmutation) 279, 287 28
Aſſimilation (Anähnlichung, Aufbau lebender Subſtanz) 23, 40, 113, 115, 249; präparative 94, 99.
Aſſimilationschromoſomen ( Hetero— chromoſomen, Idiochromoſomen)
Aſtronomie 15.
Atavismus (Rückſchlag) beim Erſatz— wachstum 156; keine Verwechſ— lung mit Rückſtand 166, 167; bei Baſtardierung 264, 333; bei Ein— flußnahme äußerer Lebensbedin—
gungen 267,271, 326; S regreſſive
Mutation 293. Atmung (Reſpiration) 40,48, 105,111. Atomſeele 53. Aufbau (Aſſimilation, Anabolismus) 41
Ausgleichung (Akkommodation, Ad— äquation) 297.
Ausläufer (Stolonen) 133, 229, 234.
Ausleſe (Selektion) 302, 310, 323, 327, 328; als Eliminations- und Verbreitungsfaktor 310;
311, 318; in Phänotypus und Biotypus 321.
Ausſcheidung (Exkretion) 40, 48, 100.
Ausſtrahlung (Irradiation) von Emp— findungen 58.
Autochromoſomen (alle Kernſchleifen
außer den Gefchlechtschromofo-
men) 195, 196. 336
als ſchöpferiſcher Faktor ohnmächtig
Autogene Veränderung (Mutation, Sport) 295.
Autoplaſtiſche Transplantation (aufs ſelbe Individuum) 137.
Autotomie (Selbſtverſtümmelung)
29.
Babäk 168.
Baer, K. E. von 322, 323.
Bakteriologie 12, 280.
Ballaſt 120.
Baltzer 167.
Baryumindividuen 28.
Baſedowſche Krankheit 171.
Baſt 35, 78.
Baſtardierung, Kreuzung 211, 254, 255, 289, 261, 282
Baſtgefäße 107.
Baſtian 28.
Bataillon 223, 226.
Bateſon 254, 258, 264.
Bauchſpeicheldrüſe (Pankreas) 97 169, 171.
Baur 271, 295, 25
Becker 269.
Befruchtung (Fekundation) 211; äußere (externe) und innere (in- terne) 215; künſtliche 222, 224; partielle 223.
Begattung 216.
Behring 104.
Beneden van 253.
Benedikt 26, 50.
Beobachtung 9.
Beſamung 213, 224.
Beſchreibung 10.
Beſtäubung 212, 216.
Beſtimmende (deferminierende, ſpe— zifiſche) Faktoren 57, 292.
Beweglichkeit (Motilität) 5, 39, 72.
Biedl 204.
Biffen 105.
Bilateralität (zweiſeitige Symmetrie) 90
Bindegewebe 76, 85, 148.
Binomiſche Formel (des Gaußſchen Zufallsgeſetzes, gültig für Varia— tionsreihen) 288.
Biochemie 12.
Biogenetiſche Wiederholungsregel 127, 152, 167, 281:
„2 — EEE — — — . —
ä — —
Biogeographie (Lehre von der geogr. Verbreitung der Tiere und Pflan— zen) 284.
Biologie, Begriffsbeſtimmung J, 3.
Biomolekül 23, 30, 115, 249.
Biontologie 2.
Biophyſik 12.
Biotypus (reine Linie) 318, 321, 327.
Biſexuelle (zweigeſchlechtliche) Fort— pflanzung 226.
Blakeslee 198.
Blaringhem 188, 189, 199.
Blaſtogene Eigenſchaften (dem Keim entſproſſene) 274.
Blütenbiologie 216.
Blutforſchung 104, 105, 139, 281, 284. Blutkörperchen (Blutzellen): weiße (Leukozyten) 37, 72, 98, 104.
— rote (Erythroblaſten, Erythro— zyten) 37, 98, 109, 118.
—, Blutplättchen (Thrombozyten) 37, 128.
Vorn 138.
Boveri 118, 197, 253.
Braem 199, 230.
Braus 138, 140.
Brom 23.
Bruch-Dreifachbildung 131, 273.
Bruchſtellen, mierte) 129.
Brunftabzeichen 209.
Brutparaſitismus 306.
Brutpflege 216.
Burrows 140.
Butler-Burke 28, 51.
Bütſchli 253.
C
Caenogeneſis (Neuerwerbungen bei der Entwicklung) 157, 166, 167.
Calkins 230.
Carnivoren (Fleiſchfreſſer, Räuber) 40, 97, 304.
Carpenter 20.
Carrel 140, 141, 142.
Caſtle 263, 319, 324.
Cattaneo 104.
Cayan 20.
Cerny 160, 161, 218, 219, 220, 221, 224, 273, 310,311.
Cesnola 315.
Kammerer, Allgemeine Biologie 22
vorbereitete (präfor⸗
Charrin 104.
Chemie 11, 23, 30.
Chemiſche Agentien 55, 68, 187, 222.
Chemotropismus, Chemotaxis 68, 141.
Chimären (falſche Pfropfbaſtarde)
138, 332.
Chlor 23, 222.
Chlorophyll (Blattgrün) 40, 93, 94, 112:
Chromatin (färbbare Kernſubſtanz) 35 176, 252.
Chromatophoren (Farbitoffträger, Pigmentzellen) 72, 299.
Chromoſomen (Kernſchleifen, Stäb— chen) 176, 193, 253, 254.
Chthonoblaſt 53.
Claus 238, 243.
Cohn 18.
Comte IX, X.
Correns 190, 195, 196, 198, 211, 256, 261.
Crampton 138.
Cſokor 239.
Cunningham 249, 250.
Cuticula 77, 272.
Cytoplasma (Zellenleib) 30, 33, 117, 187, 250.
D
Darwin, Ch. 155, 207, 248, 249, 264, 266, 284, 285, 302, 309, 310, 313, 3184327,
Dauereier, Wintereier 18, 238.
Dauerſpore 182.
Davenport 55, 67, 68.
Dawſon 20.
Deckfarben, Schutzfarben und For— men, Stellungen 299, 311, 318.
Deckglaskulturen 140, 141.
Degreſſive Mutation 293.
Dekker 141, 142.
Deklaſſierung 302.
Deläge 225.
Della Valle 176.
Dellinger 72.
De Meijere 196.
Dendriten (Fortſätze von Nerven— zellen) 61.
Depreſſionszuſtand der Arweſenbe— völkerungen 179, 230, 243, 244.
337
Determinanten (Keimesanlagen) 249, 276, 290.
Determinierende (beſtimmende, ſpezi— fiſche) Faktoren 57, 292.
De Vries 189, 256, 287, 292, 293, 294.
Dialyſe 31.
Diaphyſe (Mittelteil oder Schaft der Röhrenknochen) 77, 170.
Dichte 56, 222, 292.
Differenzierung 60, 74, 127, 144, 158, 164, 172; ſexuelle 183; der an— organiſchen Körper 286.
Diffuſion 31.
Digametie (Vorhandenſein zweierlei Keimzellen in Geſchlecht) 195, 260.
Dimorphismus (Zwiegeſtalt), Ge— ſchlechts- 210, 317; Saiſon- 240, 290, 334.
Diözie (Zweihäuſigkeit) 191, 233.
von einem
ſtand 193.
Direkte Beeinfluſſung der Keimzellen 267, 270.
Direkte oder paſſive Anpaſſung und Ausgleichung 298, 309, 324, 327.
Diskontinuität des Wachstums 122; der Variation 293.
Diſſimilation (Abbau, Zerfall leben⸗
der Subſtanz) 40, 113, 115.
Diſſogonie (zweimalige Geſchlechts— reife) 165.
Doflein 87, 239.
Domeſtikation (Zähmung) 279, 309.
Dominanz (Hypoſtaſie) der Merk— male 257, 321, 334.
Doncaſter 190.
Dotter 145, 163, 217.
Drelincourt 252.
Drieſch 8, 135, 150.
Drüſen ohne Ausführungsgang (innerſekretoriſche, endokrine) 103, 168, 202, 204, 209.
Du Bois-Reymond 8, 28, 39.
Dungern 282, 283.
Dünndarm, Dünndarmdrüſen 97, 169,
171
Duplicitas anterior, posterior (Ver— doppelung des Vorder-, des Hin- terendes) 131.
Duſch 22.
338
E Ehrlich 104. Eiapparat des pflanzlichen Embryo— ſackes 212. Eierlegen (Oviparie) 217.
Eimer 322. Einhäuſigkeit (Monözie) 191, 233. Einſchachtelungs- oder Auswicke—
lungstheorie der Vererbung 250.
Eiſelsberg v. 170.
Eiſen 23, 26, 94, 96, 108.
Eiweiß (Albumin, Protein) 30.
Eizellen, Eier (Ovula) 184, 187, 192, 194, 212, 243.
Ektoparaſitismus (Außenſchmarotzer— tum) 301.
Elektrizität 56, 68, 293.
Elementar-energetiſche Situation 56, 267.
Embryologie (Entwicklungsgeſchichte) Diploider (voller) Chrompfomenbe- |
4, 144, 281.
Embryoſack (Makroſpore) 155, 212, 245.
Embryoſackkern, primärer und era därer 212 217.
Emmon 20.
Endoſperm (Nährgewebe des Sa— mens) 138, 155, 163, 213, 217, 245.
Endothelien 38.
Energetismus 7.
Energiden 31.
Energie 8, 286, 290.
Entdifferenzierung 141, 227, 252.
Entelechie 8.
Entoparaſitismus (Innenſchmarotzer— tum) 304.
Entwicklung 50, 144, 250, 327; fort—
ſchrittliche 322; direkte (homobla— ſtiſche) und indirekte (heterobla— ſtiſche) 157, 162.
Entwicklungshemmung (Epiſtaſe) 157, 163 ; afzidentelle (individuelle) und habituelle (generelle) 165.
Entwicklungsmechanik 149, 158.
Enzym 32, 97.
Eoben oder Vakuoliden 28.
Epigeneſis 249, 252.
Epiphyſe — Zirbeldrüſe, Glandula pi- nealis 169; Epiphyje=Endfnorren der Gliederknochen 77; Epiphyſen— fugen 170.
— — ——
Epiphyten (Aberpflanzen) 305, 306.
Epiſtaſe (Entwicklungsrückſtand) 157, 163; individuelle (akzidentelle) und generelle (habituelle) 165.
Epithelien 38.
Epithelkörperchen (Beiſchilddrüſen, Parathyreoideae) 169.
Epitheloide Gewebe 38.
Erbeinheiten, Elementareigenſchaften 281, 282 266.
Erfolgsorgane 39, 209.
Erfrieren 25.
Ergatüle (Arbeitsmoleküle) 249.
Ernährung (Nutrition) 40, 46, 48, 93; ihr Einfluß auf die Geſchlechts— beſtimmung 187, auf die Varia— tion 292.
Erregungen 55.
Erregungss-energetiſche Situation 56, 267.
Erſatzwachstum (Regeneration) 50, 12, 122, 156, 199, 273, 274; Erythrozyten (rote Blutkörperchen)
37, 98, 109, 118.
Ethologie 2, 4, 216, 219, 289, 308.
Etiolment (Vergeilung der Pflanzen) 112.
Evans 17.
Evolution (Größenzunahme, vor— ſchreitendes Wachstum) 121. Expanſion (Ausdehnung) und Kon—
traktion (Zuſammenziehung) 252, 299. Explantation (Auspflanzung) 140.
F
Fabre 161.
Faktoren (chemiſche Anlagenträger der Vererbung) 250, 266.
Farbſtoffzellen (Chromatophoren) 72, 299.
Farbwechſel, ſympathiſcher 72, 268; Erregungs- 299; phyſiologiſcher oder Bewegungs- 299, 316; mor— phologiſcher oder Geſtaltungs-300, 316, 326.
Fäulnisfreſſer (Saprophyten) 40.
Faunen 19, 20, 28, 284.
Fejérväry, v. 269.
Feminierung (Verweiblichung von Männchen) 200, 202, 203.
Gedächtnis im
Ferment 32.
Fettgewebe 37, 77, 170.
Feuchtigkeit 55, 68, 291, 292, 324.
Figdor 127.
Fiſcher, Emil 23.
Fitting 101, 226, 327.
Fixe Zellgröße 117.
Floren 19, 20, 28, 284.
Floſſenſaum 78.
Flugeinrichtungen der Früchte 88; der Tiere SI, 88, 89.
Fluktuation 294.
Fluor 23.
Fol 253.
Formative Reize (Wachstumsreize) 56, 128, 136.
Formenergie 8, 316.
Fortpflanzung 5, 41, 174, 226.
Foſſilien 20, 284.
France 62.
Frank 67.
Franz, V. 323.
Fremdbefruchtung, bung 216.
Frequenz (in der Variationsreihe) 287.
Friedenthal 283.
Friſch, v. 269.
Fruchtblätter 155, 213, 216.
Fruchtknoten 213, 216.
Funktionelle Selbſtgeſtaltung des Zweckmäßigen 302, 328.
Funktionswechſel 89.
Fürbringer 37.
Furchung 50, 144, 150, 223.
Wechſelbeſtäu—
G Gad 45. Gaiſch 269. Gallerte 34, 86, 220; Stützgallerte 148. Galton 321. Galvanotropismus, Galvanotaxis 68. Gameten (Geſchlechtszellen) 179, 187, 192, 212, 214, 243, 245, 249, 260. Gametophyt 245, 332, 333. Ganglien (Nervenknoten) 61. Gaſträatheorie 154. weiteren Sinne (Mneme, Reizbewahrung) 43, 61, 66, 251. Gegenſeitige Hilfe im Daſein und bei der Entwicklung 306, 308, 323.
339
Gehäuſebau 47, 76.
Geißeln (Flagellen) 73, 146, 184, 2
Gel (feſte Plasmaphaſe) 31.
Gemiſchtblütigkeit, Vielehigkeit 233.
Gemmulae (innere Keimkörper der Süßwaſſerſchwämme) 227.
Gene, Pangene (Träger der erblichen Eigenſchaften) 249, 250, 266.
Generationswechſel 235, 236, 332.
Generatüle (Wachstumsmoleküle)
Genetik 327.
Genitalien, ſubſidiäre (geſchlechtliche Hilfsorgane) 206.
Geoffroyſches Prinzip (direkte oder paſſive Anpaſſung) 298.
Geographiſche Verbreitung der Lebe— weſen 284.
Geologie 11, 15.
Geotropismus, Geotaxis 68.
Gerinnen 25.
Germinalſelektion (Keimchenausleſe) 303.
Geſchlechtertrennung (ſexuelle Diffe— renzierung) 183.
Geſchlechtsbegrenzte Vererbung 190, 334.
Geſchlechtsbeſtimmung (ſexuelle De— terminierung) 186, 199; progame, ſyngame, epigame 189, 198.
Geſchlechtschromoſomen (Hetero— chromoſomen) 195.
Geſchlechtsorgane, akzidentelle, ſekun— däre, extragenitale 166, 202, 205, 207, 208, 241.
Geſchlechtsorgane, eſſentielle, primäre (Eierſtock und Hoden) 104, 169, 192, 202, 206, 209, 269, 274.
Geſchlechtsorgane, konkordante (vom Keimdrüſenſekret unabhängige) 208, 210.
Geſchlechtsvererbung (ſexuelle Here— dität) 189.
Geſchlechtsverteilung (ſexuelle Dis— ponierung) 192.
Geſchlechtsverwandlung (feruelle Me— taptoſis) 187, 198, 234.
Geſchwülſte, bösartige (maligne Tu— moren) 141; Chorion-Epitheliom 223.
340
Geſellungs- oder Aggregationstrieb 323, 324.
Geſetz und Regel 4, 33, 157, 268, 286
Getrenntgeſchlechtlichkeit (Gono— chorismus) 183, 187, 233, 237.
Gewebe 36.
Gewöhnung 59, 104.
Gifte 31, 104.
Giftfeſtigkeit (Immunität) 104, 282, 326.
Gley 104.
Goebel 211.
Goethe 327.
Gohlke 283.
Goldſcheid 327.
Goldſchmidt, R. 195, 196, 224.
Gonaden (Keimdrüſen, Geſchlechts— drüſen) 104, 169, 192, 202, 206, 209, 269, 274.
Gonochorismus Getrenntgeſchlecht— lichkeit) 183, 187, 233, 237.
Grafe 138.
Graff, v. 306, 309, 315.
Gregory 230.
Griffel 155, 213.
Grobben 233, 234, 238.
Groß 327.
Groſſer 130.
Großkern, Hauptkern (Makronukleus) 36, 178, 182.
Grundſatz einfachſter Erklärung in der Biologie 302.
Gudernatſch 168.
Guenther 73, 74, 92, 98, 145, 147, 152, 153, 184, 1785, 7 181, 184, 185, 193, 194, 21% 228, 237.
Gümbel 18.
Guttation (Ausſcheidung des Waſ— ſers in Tropfenform) 95. Gynandrismus (männliche Ge— ſchlechtsmerkmale an Weibchen)
205.
Gynodiözie (Zwitter- und weibliche Organe auf getrennten Stöcken) 234.
Gynomonözie (Zwitter- und rein weibliche Organe auf demſelben Stock) 234.
Gynoplasma (weiblicher Stoff) 188.
9 Haberlandt 62, 63, 140. Hadda 140. Hadzi 122.
Haeckel 4, 8, 34, 154, 198, 231, 233, 280.
Hämoglobin, Oxyhämoglobin 108.
Hämolyſe (Blutzerſetzung) 140, 282.
Hängenden Tropfen, Kultur im 140.
Häutung 119, 123.
Hahn, Otto 18.
Halban 204, 205.
Hanel 320.
Hanſemann, v. 303.
Haploider (halber) Chromoſomen— beſtand 193.
Harriſon 138, 140, 141.
Harvey 21.
Hatſchek 115, 116, 158, 249, 250.
Hautatmung 107.
Heckert 315.
Hefferan 287.
Heider 159.
Helioben 28.
Heliotropismus, Heliotaxis 50, 67.
Helmholtz 18.
Helmont, van 21.
Hemmungen 58, 69, 188, 222.
Herbſt 56, 150, 224.
Hering 251.
Hermaphrodismus (Zwittertum) 182,
184, 187, 189, 197, 205, 233, 237,
239, 242, 274; potentieller 188,
198.
verus (Reinzwittertum, echte
Zwitter) und secundarius (Schein—
zwittertum, Pſeudohermaphrodis—
mus) 204, 205.
Herrick 120.
Hertwig, 149, 18, 253:
— K. 116, 149, 229.
Heſſe 87, 239.
Heterochromoſomen ggeſchlechtsbe— gleitende Kernſchleifen) 195, 196.
Heterogamie (Vereinigung ungleicher Geſchlechtszellen) 183.
Heterogonie (Wechſel zwiſchen uni— und biferuellen oder zwitterigen und getrenntgeſchlechtlichen Gene— rationen) 237.
Heteromorphoſe (polar unrichtige Reftitution) 132, 136, 276, 334. Heteroplaſtiſche Transplantation (auf ein Individuum anderer Art) 137. Heteroſporie (Vorhandenſein weib— licher und männlicher Sporen) 240. Heterozygotie(Gemiſchtraſſigkeit) 256.
Hirt, W. 53.
Hirth, G. 99.
Hiſtologie (Gewebelehre) 38.
Hitzeſtarre 25.
Höherentwicklung 322, 327.
Hofmeiſter 31.
Hoge 274.
Holz 24, 35, 78.
Holzgefäße der Pflanzenſtengel 107.
Homoiothermie, Stenothermie(Gleich— warmblütigkeit) 106.
Homologie, homologe Organe 27, 8, 281.
Homoplaſtiſche Transplantation (auf ein anderes Individuum gleicher Art) 137.
Homoſexualität 205.
Homoſporie (Vorhandenſein von nur
einerlei Sporen) 240. Homozuygotie (Reinraſſigkeit) 256.
Hormon (inneres Sekret) 169, 199,
Ichthyopterygium
204, 208, 249.
Hyaloplasma (Interfilarſubſtanz) 35.
Hydrotropismus, Hydrotaxis 68.
Hyperplaſie (übermäßiges Wachstum durch Zellvermehrung) 136.
Hyperregenerate (überzählige Erſatz— gebilde) 131, 136, 273.
Hypertrophie (übermäßiges Wachs— tum durch Zellvergrößerung) 135, 136.
Hypogeneſis 244.
Hypophyſe (Hirnanhang) 168, 169, 208.
Hypotypie (Anterentwicklung) von Er— ſatzgebilden 130, 134, 156.
J (i
(urſprüngliche Fiſchfloſſe) 79.
Idiometrie (Erreichung der kennzeich— nenden Artgröße) 124.
Iltis 188, 199.
Imago (Volltier) 160.
341
Imitatoren (Nachahmer), Kopien bei
Mimikry 315, 316, 334. Immunität (Giftfeſtigkeit, Giftgewöh— nung) 104, 282, 326. Implantation (Einfegung) 139. Import (Einführung eines Nahrungs— körpers) 46, 92.
e Injektion (Einfprigung) 139, 209, 211, Inſektophile Blüten (durch Kerbtiere beſtäubte) 216. Inſelformen 155, 284, 309, 325, 326. Internodien 235. Interſtitielle Zellen (Leydigſche Zwi— ſchenſubſtanz) 104, 208. Interzellularſubſtanz ſchenſubſtanz) 34.
Intrarektal (Verabreichung von Sub— ſtanzen durch Kliſtiere, per anus) 140.
Intraſtomakal (Verabreichung von Subſtanzen durch Verfütterung, per os) 140.
Intravenös (Einführung von Sub— ſtanzen in die Blutgefäße) 139. Introſpektion (Selbſtbeobachtung) 39. Intusſuszeption (Wachstum durch
Zwiſchenlagerung) 41, 49.
Invagination (Einſtülpung) eines Nahrungskörpers 46, 92; des inneren Keimblatts (Entoderms) 146.
Involution (Größenabnahme, rück— ſchreitendes Wachstum) 121; und Vererbung 252.
Inzeſt, Inzucht 180, 263, 320, 322.
Irradiationen (Ausſtrahlung von Empfindungen) 58.
Irreverſibel (nicht umkehrbar) 25.
Irritabilität (Reizbarkeit) 5, 38, 44, 55.
Iſhikawa 198.
Iſogamie (Vereinigung gleicher Ge— ſchlechtszellen) 183.
Iſolierung reizleitender Gewebe 87, 61; von Geweben und Zellen 142; von Tier- und Pflanzenbeſtänden 281, 288, 2
342
J
Janda 199.
Jenkinſon 223.
Jennings 230, 320, 324.
Jod 23. Joeſt 138.
Johannſen 251, 290, 320, 321, 324, Individuum (Einzelweſen), Perſon 327.
Joſt 213.
Jungfräuliche Zeugung (Partheno— geneſe) 179, 197, 222, 226, 238, 321:
Jura 284.
(Zellen - 3wi- |
K Kälteſtarre 25. Kalium 23, 26, 96. Kalzium 23, 96, 150.
Kambrium 20, 284. Intraperitoneall Einführung von Sub- ſtanzen unter das Bauchfell) 139.
Kammerer 69, 122, 134, 135, 155, 156, 234, 268, 269, 270, 271, 274, 29, 280, 327.
Kampf ums Daſein 302, 310, 323, 328.
Kant 16.
Karyoplasma (Zellkern-Subſtanz) 33.
Kaſtration 202, 205, 207, 211; para-
ſitäre 188, 199, 202. Katabolismus (Abbau, Stoffverluſt) 41
Katalyſe, Katalyſator (Wirkungs—
beſchleunigung, -ger) 32, 106, 222.
Kauſalität 6, 10, 289.
Keimbläschen Gellkern in Eiern) 36.
Keimesgeſchichte, Individualentwick— lung (Ontogeneſe) 115, 127, 144, 154, 165, 281.
Keimplasma 178, 250, 252, 276, 277, 303.
Keimzellen (Gameten, Gametozyten) 179, 187, 192, 212, 214, 243 25 249, 260, 267.
Keller 208.
Kellicott 120.
Kelvin 18.
Kern (Zellkern, nucleus) 30, 33, 36, 134, 174, 180, 193, 215, 223, 249, 253.
—, als Aſſimilationszentrum 197; bei der Regeneration 126.
Kernkörperchen (Nukleolen) 35.
Kernmembran 35.
nn
Kern-Plasma-Relation und Kern— Plasma-Spannung 117, 187. Kernſaft 35.
ſomen) 176, 193, 253, 254.
Kernteilung, direkte (Amitoſe) 174; indirekte (Mitoſe, Karyokineſe) 51, 178, 253.
Klebs 189, 199.
Kleinenberg 131.
Kleinkern, Erſatzkern (Mikronukleus) 36, 178, 182.
Klumpfuß 84; kongenitaler 301.
Knochen 37, 77, 85, 170.
Knorpel 37, 77, 85.
Knoſpenſtock (Stolo prolifer) 229.
Knoſpung, Sproſſung 227; Zell- 41, 174, 230.
Koagulation (Gerinnung) 25.
Koch 22.
Kohäſion (zuſammenhaltende Kraft) 41.
Kohlehydrate 96.
Kohlenſäure 94, 100, 109, 111, 307.
Kohlenſtoff 23, 30, 94, 100.
Kolloide 31.
Kolonie, Cormus, Stock 231; mero— tome (veräſtelte) und metamere (reihige) 235.
Kompenſation (Ausgleichend. Wachs-
tum) 134. Komplikation 323, 324. Konjugation: Kernaustauſch 180,243; der Chromoſomen 253. Konſtanz (Anveränderlichkeit) der or—
ganiſchen Formen 266, 284, 327. Kontinuität 42,44; des Reimplasmas |
250, 277, 333; der Variation 294. Kontraktilität (Zuſammenziehbarkeit) 40, 74. Kontraktion (Zuſammenziehung) und Expanſion (Ausdehnung) 252, 299. Konvergenz 85, 286, 317. Kopulation (Zellverfchmelzung) 51,
und Zweckmäßigkeit Leber 97, 169, 171.
Kotyledonen 171.
(Samenlappen) 163,
Kreidezeit 284. Kernſchleifen, Kernſtäbchen (Chromo-
Kriſtalle 27, 49, 51, 276. Krizenecky 128. Kryptomerie 264, 333. Kuckuck 28, 51.
Küſter 142.
Kurz 133.
£
Labilität und Stabilität der Merk—
male 326.
Laichformen 220.
Lamarck 248, 266, 327.
Lamarckſches Prinzip (funktionelle oder aktive Anpaſſung) 298.
Lang, A. 257, 258, 260, 271, 320.
Langerhansſche Inſeln (innerjefre- toriſche Teile der Bauchſpeichel— drüſe) 169, 171.
Laplace 16.
Larven 157, 237, 239.
Latenz (Verſtecktſein von Eigen— ſchaftsanlagen) 25, 265, 267, 271, 283.
Lauterborn 242.
Leben, Definition des Lebens 43, 52.
Lebendgebären (Viviparie) 215, 216, 217, 218.
Lebenskraft 8.
Lebenslehre, allgemeine 6.
Leche 80.
Leduc 26, 27, 50, 51.
Lehmann 27, 44, 49, 52.
Leuchten, Leuchtinſekten 167, 312.
Leukozyten (weiße Blutkörperchen) 37, 72, 98, 104.
Licht, ſtrahlende Energie leinſchließlich Farbe) 18, 55, 67, 187, 268, 291, 292, 324.
Liebermann, v. 105.
Lillie 158.
178, 243; totale und partielle 182. Linsbauer 138.
Kork 35.
Kornfeld 138.
Korrelation 10; der Organe 136. Korſchelt 159.
Kosmologie 15.
Linden, v. 100. Linné 284.
Literatur 5, 13, 29, 53, 70, 91, 113, 142, 172, 25, 277, 328, 330. Lockfarben und-Formen, Stellungen
314.
343
Loeb, Jacques 56, 68, 222, 224, 225, 226.
Lokomotion (Ortsbewegung) 40.
Lo Monaco 120.
Looß 162.
Lowell 17.
Lueciani 120.
Luxusbildungen 309.
Lymphkörperchen (Lymphozyten) 98.
Lyſine 225.
M
Mac Clendon 324.
Mac Cracken 264, 334.
Mac Curdy 319, 324.
Maefadyen 25.
Magneſium 23, 28, 96, 222.
Magnetismus 56, 68, 293.
Magnus 283.
Makrogameten (große Geſchlechts— zellen, Eier) 184, 187, 243.
Mangan 23.
Mannweiber (Viragines) 204.
Mars, Marskanäle 17.
Maskulierung (Vermännlichung von Weibchen) 201, 202.
Materialismus 7.
Matthew 20.
Maulbrüter 221.
Maunder 17.
Maupas 189.
Mayer, Julius Robert 286.
293.
Mechanismus 6.
Meduſoide Gemmen (Quallen, die ſich vom knoſpenden Polypen nicht ablöſen) 244.
Meguſar 119, 299.
Mehrfachbildungen (überzählige Re— generate) 131, 273.
Melanismus (Schwarzfärbung) 155, Mono, Di- Tri- uſw., Polyhybriden
291, 309, 324, 325, 326: Melanoleuzismus 291. Membran 26, 33, 35; undulierende 93. Mendelſche Vererbungsregeln 105, 191, 250, 254, 286, 5, 261, 265,
267, 27, 289,.319,:321,.327, 333%
Merogonie (Entwicklung des Eies mit dem Spermakern ſtatt des Eikernes) 223.
344
Meſenchym 38, 72.
Metabolismus (Stoffwechſel) 5, 40, 93, 111, 292
Metageneſe (Wechſel zwiſchen ſexuel— len und vegetativen Generationen) 236.
Metamerie (Wiederholung gleicher Organiſation in angereihten Ab— ſchnitten) 232, 235.
Metamorphoſe (Verwandlung von Larven- in Folgeformen) 157, vollkommene und unvollkommene 160, Aberverwandlung 161.
Metaptoſis (Geſchlechtsumwand— lung) 187, 198, 234.
Meyer, A. 138.
Meyerſche Linie 301.
Mikrogameten (kleine Geſchlechts— zellen, Samenfäden) 184, 187, 243.
Mikropyle (Eintrittspforte für den Samenfaden im tieriſchen Ei; Knoſpenmund bei Pflanzen) 150, 213:
Wilchgefäße (der Pflanzen) 107.
Mimikry, ſchützende Ahnlichkeit im weiteren Sinne 310, Nachäffung wehrhafter Formen 313, 334.
Miozän 284.
Mitbewegungen 58.
Mittelwert (in der Variationsreihe)
Mnemiſche Fähigkeit Mechaniſche Agentien 55, 68, 223,
2819322:
(Aufbewah— rung von Eindrücken, Gedächtnis) 43, 45, 61, 66, 251.
Mode (in der Variationsreihe) 287.
Modelle (Vorbilder) der Mimikry— formen 315, 334.
Modifikation (nicht erbliche Varia— tion) 293, 296.
Moliſch 106.
Monismus 7.
Monözie (Einhäuſigkeit) 191, 233.
260, 261,333.
Monogametie (Vorhandenſein von
nur einerlei Keimzellen in einem Geſchlecht) 195, 260.
Monozyklie (Einmaliger GGenerations— wechſel im Jahr) 238.
Montgomery 290.
Mooskapſel (Sporogon) 245, 332, 333.
Moquin Tandon 232.
Morphallaxis (Amſchmelzung) 50, 130.
Morphogene (Poſitions-) Reize der Körperteile aufeinander 56, 270.
Morphologie 2, 4, 32.
Mortale Prozeſſe 222.
Moſaikbau des Eies 149; des Keim— plasmas 252.
Motilität (Bewegbarkeit) 5, 39, 72.
Müller, Fritz 155.
Müller, Johannes 22.
Münden 53.
Mulſow 195.
Muskeln 37, 74, 85.
Mutation (Sprungvariation) 293, 294, 296.
Mutationsperioden 294.
Mutterkuchen (Placenta) 104, 217.
Myelinformen 28.
N
Nabel(hilum), Nabelſtrang (funiculus) 228.
Nachahmer (Imitatoren, Kopien) bei Mimikry 315, 316, 334.
Nachwirkung von Reizwirkungen 59; von Veränderungen auf die Nach— kommen 295, 298.
Naegeli 322, 323.
Nährgewebe (Endoſperm) 138, 155, 163, 213, 217, 245,
Nanismus (Zwergwuchs) 122, 292, 309.
Narbe 155, 213, 216.
Natrium 23, 96, 150.
Nebenniere (Glandula adrenalis) 169, 171:
Nemec 63.
Neotenie (Beibehalten von Jugend: zuſtänden) 164.
Neuriten (Nervenfafern) 61.
Neuronen (Nervenzellen) 60.
Neuvererbung, Vererbung neu er- worbener Merkmale 104, 157, 266, 279, 296, 297, 300.
Neweomb 17.
Nigrino (Schwärzling) 156. Nilſſon-Ehles Prinzip bei der Men- delſchen Vererbung 262, 263.
Noll 112. Nuttal 283.
8 O
Okologie 2.
Okologismen, transgreſſive 271.
Okonomieprinzip 85, bei wiſſenſchaft— licher Erklärung 302.
Oltmanns 66.
Oogonien (Eibehältniffe bei Algen) 212.
Oppel 140.
Organ, Organapparat und Organ— ſyſtem 38, 169.
Organellen (Zellorgane) 35.
Organiſationshöhe 127, 322.
Organographie (Organlehre) 38.
Orthogeneſe (fortſchreitende Entwick— lung) 322.
Osmoſe 26, 50, 100, 101.
Oſtwald, Wilhelm 9, 13, 32, 45.
Ovogeneſe (Eireifung) 192, 194.
Ovoviviparie (Ablegen von Eiern, die knapp vor oder nachher platzen) 217.
Oxydaſe 225.
Oxydation (Verbrennung, Verbin— dung mit Sauerſtoff) 40, 105, 111, 225.
Packard 159.
Pädogeneſe (Fortpflanzung im Ju— gendſtadium) 165, 226, 239.
Paläontologie 11, 20, 284.
Palingeneſis (urſprünglicher Ent— wicklungsgang) 157, 167.
Pangeneſis 249.
Panparaſitismus (allgemeiner Da— ſeinskampf) 302, 308.
Panpfſychie (Allbeſeelung) 53.
Panſpermie 18.
Panſymbioſe (allgemeine Daſeins—
hilfe) 306, 308, 323.
Parallelinduktion 267, 270.
Paraſiten (Schmarotzer) 40, 167, 189, 202, 237, 239, 242, 243, 250, 303, 309.
Parthenogeneſe (jungfräuliche Zeu— gung und Entwicklung) 179, 197, 222, 226, 238, 321.
Parthenokarpie (Fruchtbildung ohne Beſtäubung) 226.
Partialmutation 293.
Paſteur 22.
Pathologie 12, 141.
Pauli 28, 45, 49, 57.
Pearl 287.
Pearſon 118.
Perichondrium (Knorpelhaut) und Perioſt (Beinhaut) 77.
Periklinalchimären 138, 332.
Perm 284.
Perſon, Individuum 230, 231, 235.
Pflanzenfreſſer (Vegetarier) 40, 97.
Pflüger 149.
Pfropfbaſtarde 138, 139.
Pfropfung, Verpflanzung (Trans— plantation) 136, 202, 208, 211, 269.
Pfurtſcheller 124.
Phänotypus (gemiſchter Beſtand,
Population) 318, 321, 327. Phillips 319. Philoſophie 47. Phosphor 23, 96. Phototropismus, Phototaxis 68.
Phyllodien (abgeflachte Blattſtiele) Präzipitine (Niederſchläge in Blut—
135, 164, 167.
Phyllokladien (Stengel-Flachſproſſe) 135:
Phylogeneſe (Abſtammung) 279, 322, 327:
Phyſik 11, 24, 30, 45, 324. Phyſiologie 2, 4, 21, 38.
Pigmente (Farbſtoffe) 93, 112, 299. |
Placenta (Mutterkuchen) 104, 217.
Planetenimpfung 18, 26.
Plankton (Schwebeorganismen des Waſſers) 70, 73, 85, 87, 160, 285.
Plasma (Bildungsſtoff, lebende Sub- ſtanz) 24, 30.
Plate 80, 236, 238, 255, 290.
Plateauſches Geſetz 51, 150.
Pliozän 284.
Plus- und Minusvarianten 287, 288, 322.
Poikilothermie (Wechſelwarmblütig— keit) 106.
Polarität (Achſenbeſtimmung) 130.
Pollenkörner, (Mikroſporen) 155, 213, 216, 245.
Pollenſchlauch 155, 213, 245.
Polyandrie (Vielmännerei) 191.
Polygamie (Vielweiberei) 191, 207.
Polyglanduläres Syſtem (innerſekre— toriſcher Drüſen) 169.
346
Blütenſtaubkörner
Polpyzyklie
Polymorphismus (Vielgeſtaltigkeit) 211, 240, 817, 334
Polyſpermie (Befruchtung durch mehr als eine Samenzelle) 215.
(mehrmaliger Genera— tionswechſel im Jahr) 239.
Polzellen (Richtungskörperchen) 192, 197.
Popoff 186.
Population (Bevölkerung, gemiſch— ter Beſtand, Phänotypus) 318, 320, , 320:
Portheim, v. 133, 223.
Poſitions- oder morphogene Reize (der Organe aufeinander durch ihr Vorhandenſein) 56, 270.
Präformation 249, 250.
Präformierte (vorbereitete) Bruch— ſtellen 129.
Präinduktion (Vorausbeſtimmung)
des Geſchlechtes 189. Prämutationsperioden 294.
plasmen) 282. Presence-absence-Theorie (Bateſon) 258.
Preyer 53.
Primordialblätter (erſte Blätter ge— keimter Blütenpflanzen) 157. Progeneſe (Geſchlechtsreife in Ju—
gendzuſtänden) 165. Progreſſive Mutation 293. Proliferation (vegetative Knoſpung, Sproſſung) 227. Proportional- oder Gleichgewichts— geſetz von Tietze 297. Proſpektive Bedeutung und Potenz 150. Proterandrie (Erſterſcheinen männlichen Organe) 234. Proterogynie (Erſcheinen der weib— lichen Organe vor den männ— lichen) 234.
Protoplasma Plasma) 72.
Przibram, H. 19, 45, 47, 50, 119, 120, 124, 129, 130, 131, 132, 170, 208, 210% 265 273.
Pſeudopodien (Scheinfüßchen) 46, 72, 92, 98.
Pſychologie 4. 53, 59; Pflanzen- 62.
der
(undifferenziertes
— . — — — — — —
Pubertät, Pubertätsdrüſe 207, 209; Reliktformen 285.
Pub. praecox 165. Pütter 100. Punnett 254, 264. Puppe (Chryſalis) 160.
Q Quellbarkeit 31. Queteletſches Geſetz 287, 288, 320. Quincke 26, 45, 50.
R Rabl 118. Radioben 28. Radium 28. Räuber, Fleiſchfreſſer (Carnivoren)
Ramſay 28.
Ramſchzucht, Maſſenzucht 263, 334.
Ratzeburg 159.
Raumparafitismus 305.
Raynor 190.
Reaktionsnorm 271, 325.
Realifierende (vorausſetzende, afti- vierende) Faktoren 57, 292.
Reduktion (EEinſchmelzung) 122, 252, 276.
Reduktionsteilung (zweite Reifetei-⸗
lung) 193, 253. Reflexbogen 65.
Regel und Geſetz 33, 157, 265. Regeneration (Erſatzwachstum) 50, 1217 122156, 199, 78, 274: Regreſſions- oder Rückſchlagsgeſetz
von Galton 321.
Regreſſive, retrogreſſive Mutation
293. Reifeteilungen 192. Reine Linien (Biotypen) 318, 320, 3227. Reinzucht 261, 320. Reizaufbewahrung(mnemiſche Fähig— keit) 43, 45, 61, 250. Reizaufnahme (Senſibilität) 61, 62, 209. Reizbarkeit (Irritabilität) 5, 38,44, 55. Reize 55, 128, 209, 267, 270. Reizleitung 61, 64, 209. Reizſummation 67.
61, 209.
Reſervedeterminanten (im Körper gelegene Keimesanlagen) 276. Reſorption (Aufſaugung von Ge—
weben) 122.
Reſtitution (akzidentelle Regenera— tion, Erſatz von Gewebsverluſten durch Zufälle) 124.
Reverſibel (umkehrbar) 25, 252, 324.
Rezeſſion (Epiſtaſie) der Merkmale 25 21.
Rheotropismus, Rheotaxis 68.
Rhumbler 46, 47, 48.
Richter 18.
Richtung und Richtungsloſigkeit (in Variation und Entwicklung) 324.
Richtungskörperchen (Polzellen) 192 197.
Rieſenwuchs 137, 309, 322.
Rignano 252.
Ringerſche Löſung 140.
Robertſon 117.
Romeis 168.
Roux, Wilhelm 43, 44, 56, 70, 144, 149, 130, 152, 187, 20 3027303:
Rudimentäre Organe 84, 129, 167, 205, 281.
Rückſchlag (Atavismus) bei Regene— ration 156; nicht verwechſeln mit Rückſtand (Epiſtaſe) 166, 167.
— bei Kreuzung 264, 333; bei äußeren Faktoren 267, 271, 326; = refro-
greſſive Sprungvariation 293; Rückſchlagsgeſetz von Galton 321. S
Saiſondimorphismus, Art-, Genera— tions- und Perſons- 240, 334.
Salpeter 94, 96.
Salze 99.
Samenfäden, Samenzellen (Sperma— tozoen) 28, 37, 73, 193, 212.
Samenknoſpe 155, 212, 245.
Saprophyten (Fäulnisfreſſer) 40.
Saraſin 290.
Sarkoplasma und Sarkolemma 78.
Sauerſtoff 23, 30, 105, 109, 111, 307.
Saunders 265. Scheinvererbung, Nachwirkung 295, Reizübertragung und Reizübernahme
298, 300. Schenck 112. 347
Schilddrüſe (Thyreoidea) 168, 169.
Schimper 112.
Schizogonie (vegetative Teilung) 221:
Schleiden 32.
Schleip 197.
Schmarotzer (Paraſiten) 40, 167, 189, 202, 237, 239, 242) 243, 250, 303, 309,
Schmidt, E. 138.
Schmidt, Heinrich XI, 37, 159.
Schreckfarben, Warnfarben und-For— men, Stellungen 311.
Schröder, W. 22.
Schröder, Chriſtian 267.
Schuckmann 267.
Schützende Ähnlichkeiten (Mimikry weiteſten Sinnes) 310.
Schultz, Eugen 122, 252.
Schultze, O. 151, 152.
Schwalbe, E. 19.
Schwalbe, G. A. 217.
Schwammparenchym 107.
Schwann 32, 61.
Schwannſche Scheide 61.
Schwebevorrichtungen 85.
Schwefel 23, 26, 94, 96.
Schweizerbarth, v. 269.
Schwerkraft 56, 68, 293.
Secerov 269, 270.
Sektorialchimären 138.
Selbſtbefruchtung, Selbſtbeſtäubung 180, 216, 320.
Selbſtbeobachtung (Introſpektion) 39.
Selbſtdifferenzierung 141, 152, 172. Selbſtverſtümmelung (Autotomie) 129.
Selektion (Ausleſe) 302, 310, 323, 327, 328; als Eliminations- und Verbreitungsfaktor 310; ſchöpferiſcher ohnmächtig 311, 318; in Phäno— typus und Biotypus 321.
Semon 55, 56, 58, 60, 66, 251, 272,301.
Senſibilität (Reizaufnahme) 61, 209.
252,
Senſible Perioden 189, 272. Serodiagnoſtik (Blutforſchung) 104, 105, 139, 281, 284.
als Entſtehungsfaktor
S Geschlecht 183.
Shull, A. F. 189.
— G. 5 211.
Siebröhren 95.
Silizium 23.
Silur 284.
Simroth 294.
Sinneszellen, Sinnesepithelien, Sin— nesorgane 62.
Skalare („richtungslofe” Kräfte) 324.
Smith, G. 202, 204.
Sohlengang (Plantigradie) 83.
Sol (flüſſige Plasmaphaſe) 31.
Somatiſche Induktion 267, 270.
Somatiſches Plasma (Perſonen— plasma) 178, 250, 253, 276.
Somatogene (dem Körper exkl. des Keimes entſproſſene)Eigenſchaften 274.
Sommereier, Subitaneier 238. Sonderform, ungeſchlechtliche Spe— ziesform 207, 211.
Spallanzani 22. Spaltdoppelbildung 131, Spaltöffnungen 107.
136, 273;
Spekulation, geiſtige 11.
Spermatophore (Samenpakete) 216.
Spermien, Spermatozoen, Spermato— zoiden (Samenzellen) 28, 37, 73, 193,212:
Spermiogeneſe (Samenreifung) 192, 193.
Spezies (rnaturgeſchichtliche Art) 4,
282
Spezifiſche (beſtimmende, determinie— rende) Faktoren 57, 292.
Spongioplasma (Filarſubſtanz) 35.
Spontane Veränderung (Mutation, Sprungvariation) 295.
Sporophyt 245, 332, 333.
Sports (ſprunghafte Raſſenverände— rungen) 295.
Sporulation (Zerfallsteilung) 41, 174.
Sproß (blastus) 235. Sprungvariation (Mutation) 293,
52, Stabile und
294, 296. labile Eigenſchaften 326.
| Stadelmann 26, 50.
Serum (Blutplasma) 140, 226, 282.
34
O
Stärke 94, 96. Stammbaumforſchung 190, 280.
Stammesgeſchichte, Stammesentwick— lung (Phylogeneſe) 78, 89, 125, 154, 165, 198, 210, 266, 279 ff.
Stammzelle (Zygote) 179, 255.
Standfuß 266.
Statiſtik, ihre Bedeutung für die biologiſche Forſchung 10, 289. Statoblaſten (innere Knoſpen der
Moostiere) 227.
Staubblätter, Staubgefäße (Anthe— zen) 159, 213:
Steinach 200, 201, 202, 203, 205, 209.
Steinkohlenzeit (Carbon) 284.
Stempel 212.
Stereotropismus, Stereotaxis 68.
Steriliſierung (Keimbefreiung) 22.
Stickſtoff 23, 30, 94, 96, 100.
Stingl 138.
Stockbildung (Koloniſation) 231.
Stoffwechſel (Metabolismus) 5, 40,
93 111, 292.
Strasburger 112, 198, 213.
Stütz- und Bindeſubſtanzen 76, 148.
Subitaneier, Sommereier 238.
Subkutan (Einführung von Sub— ſtanzen unter die Haut) 139.
Superregenerate (übergroße Erſatz— gebilde) 274.
Sutton 253.
Swammerdam 21.
Symbioſe (Zuſammenleben auf Grund gegenſeitiger Vorteile) 307.
Symmetrie, zweiſeitige (bilaterale) 90; ſtrahlige (radiäre) 91; der
N
Tandler 208, 210.
Tanner 20.
Taxis (Bewegungstrieb zur Reiz— quelle) 67.
Teleometrie (endgültig erwachſener Zuſtand) 124.
Temperatur 15, 55, 68, 187, 266, 268, 291, 292, 324.
Thales 287.
Thermotropismus, Thermotaxis 68.
Theſing 303.
Thigmotropismus, Thigmotaxis 68.
Thrombozyten (Blutplättchen) 37, 128.
Thymus (Brieſeldrüſe) 168, 169.
Tichomiroff 223.
Tietze 297.
Tirala 199.
Tizzoni 104.
Tod 30, 44, 178, 179.
Tower,
Variationsreihen und Kurven
288, 320.
Synchronie (Gleichzeitigkeit) der Zell— teilungen 117.
Synergidenl(des pflanzlichen Embryo— ſackes) 213.
Synergiſten Drüſen mit innerer Sekretion) 169.
Syntheſe 23, 248.
Syſtem, natürliches 281.
Syſtematik (beſchreibende und ein— teilende Naturgeſchichte) 281, 284, 289.
Syſtemmerkmale (geſchlechtlich in⸗
differente Raſſen-, Art-, Gruppen: merkmale) 211, 281. Sztern 119.
Guſammenarbeitende
Tornier 273.
Totalmutation 293.
Totipotenz (Fähigkeit, aus allen und kleinſten Teilen alles zu bilden) 126, 181.
Blattkäfer⸗ (Leptinotarsa) Zuchten 259, 272, 287, 290, 294, 334.
Tragbrüter 221.
Transfuſion (Einſpritzung) 139, 209, 282.
Transmutation (Artenwandel) 279, 287% 32 320.
Tranſpiration (Verdampfung des Waſſers durch Pflanzen) 95. Transplantation (Pfropfwachstum, Verpflanzung) 136, 202, 208, 211,
269.
Transpoſition (Selbſtverpflanzung) 136.
Treviranus 22.
Trias 284. Trophotropismus, Trophotaxis 68. Tropismus (Wachstumsneigung zur Reizquelle) 67, 141. Tſchermak, E. v. 256, 264. Turgeſzenz (Prallheit infolge Flüſſig— keitsdruckes), Turgor (Zellipan- nung) 95, 292. 349
A Ahlenhuth 138. Amſchmelzung (Morphallaxis) 50, 130.
Amſtimmung, Amſchaltung des Ge— ſchlechtes 188, 189.
Amwelt, Außenwelt 55, 267, 289, 291, 294, 297, 322.
Angeſchlechtliche Fortpflanzung 226.
Aniſexuelle (eingeſchlechtliche) Fort— pflanzung 226.
Anſterblichkeit 178, 229.
Anterricht 5, 6, 219.
Anveränderlichkeit (Konſtanz) der Tier- und Pflanzenarten 266, 284, 327.
Arſachen 9, 289, 302.
Urzeugung (Archigonie) 15ff., 52.
V
Vakuole, pulſierende oder kontraktile (Atmungs- und Ausſcheidungs— organ der Zelle) 48, 101.
Vakuolen (luft- oder flüſſigkeitserfüllte Hohlräume) 35, 48; Nahrungs— und Kotvakuolen 93.
Van 't Hoffſches Geſetz 106.
Variabilität (Veränderlichkeit) 211,
253, 287, 293, 317, 322; Grenzen
323.
Variation (organifche Veränderung)
287.
Variationsbreite 287, 322.
Variationskurven und Variations— polygone 288, 320.
Variationsreihe 287, 320.
Variationsſtatiſtik, Biometrik 287, 289.
Vegetarier (Pflanzenfreſſer) 40.
lich aus Zellkomplexen) 226.
Vererbung angeboreneréEigenſchaften 254; alternative (ausſchließende) 257, 333; intermediäre (gemiſchte) 256, 333; partikuläre (geſcheckte, Moſaik-) 256. erworbener Eigenſchaften 42, 104, 266, 279, 296, 300, 327, 334. Vererbungsſubſtanz 252. Vergeilung (Etiolment) der Pflanzen 112. Vergleichung 11, 280. Verkalkungen 78. Verkieſelungen 78. Verlaubung (Phyllodie) 188. Vermehrung (Reproduktion) 5, 41, 174, 226. Verſtümmelungen, von 273. Verſuch (Experiment) 9, 11, 280, 289. Vervollkommnungstrieb (nisus for- mativus) 323. Verwachſungszwillinge 137. Verwandlung (Metamorphoſe) von Jugend- in Endformen 157; voll— kommene (holometabole) und un— vollkommene (hemimetabole) 160; Aberverwandlung Gypermeta— morphoſe) 161. Verwandtſchaftsreaktionen diagnoſtiſche) 282. Vikariierende Organe 84.
Nichtvererbung
(ſero—
Virulenz (Stoffwechſelwirkung) der
Bakterien 280. Viskoſität (Dickflüſſigkeit) 50. Vitale Prozeſſe 222. Vitalismus 6. Viviparie (Lebendgebären) 215, 216,
217, 218.
Vöchting 133. Vegetative Vermehrunglungeſchlecht⸗
Vegetativer Zellpol (Dotterpol) 134, |
144, 149. Vektoren („gerichtete” Kräfte) 324. Verbreitungsvorrichtungen der Sa— men und Früchte 88, 218. Verdauung (Digeſtion) 47, 97. Veredlung (durch Pfropfreiſer) 137. Vererbung Geredität) 42, 248, 323;
des Geſchlechtes 189, 259; Ver⸗ Walcott 20.
erbung und Mutation 295. 350
Vorausſetzende (realifierende, akti— vierende) Faktoren 57, 292.
Vorbilder (Modelle) bei Mimikry 315, 334.
Vorkeim (Prothallium) 155, 240, 245, 333:
Vorländer 27.
Vorleſungen und Unterricht 5, 6.
RW Wachstum 5, 41, 49, 115, 250.
Wöhler 23.
Wallace 313.
Wanderzellen (weiße Blutkörperchen) 98.
Warburg 225.
Waſſer 95.
Waſſergehalt der Gewebe 120, 292.
Waſſerſtoff 23, 30.
Weber-Fechnerſches Geſetz 59.
Weibmänner (Feminagines) 204.
Weil 105.
Weismann 19, 128, 178, 249, 250, 252, 267, 216, 7, 90, 03, 307, 318.
Weltinfektion 18, 25.
Wiedemann 269.
Wiedersheim 281.
Wimpern (Zilien) 73, 92, 146, 158, 2.122
Winkler, X. 138, 139.
Wintereier, Dauereier 18, 238.
Wirkungen 9, 302.
Wirſungſcher Gang 103.
Woltereck 189, 271.
Woodruff 178.
Wunderer 217.
Wundheilung, Wundverſchluß 128, 141.
Wurzelſekret 102.
x X:Chromofom 194, 195.
3 Y-, V., Z-Chromoſom 195.
3
Zehengang (Digitigradie) 83.
Zellafter 92.
Zelle 32; künſtliche 28, 51.
Zellenleib (Cytoplasma) 30, 33, 117, 187, 250.
Zellformen 36, 37.
Zellkern (nucleus, Karyoplasma) 30, 33,36, 134-174, 180, 193, 197, 2159223, 249, 253:
Zellmund (Cytoſtom) 73, 92.
Zellteilung (Cytodiviſion) 41, 116, 174, 230.
Zellſaft 35.
Zellſchlund (Cytopharynx) 73, 93.
Zellſproſſung, Zellknoſpung 41, 174, 230.
Zellwand oder Zellhaut(Membran)33.
Zentralkörperchen (Centroſoma) 36, 173:
Zentroepigenefe 252.
Zerfallsteilung (Sporulation) 41,174.
Zielſtrebigkeit (Orthogeneſe) 322.
Zirkumfluenz (Amfließen eines Nah— rungskörpers) 46, 92.
Zirkumvallation (Amwallung eines Nahrungskörpers) 46, 92.
Zoonit, Leibesabſchnitt eines meta—
meren Tieres 232.
Zauchtwahl 207, 268, 269, 309, 323;
geſchlechtliche 207; als Elimi— nations- und Verbreitungsfaktor 310, 318; als Entſtehungsfaktor 18
Zucker 96, 171.
Züchtender Kampf der Teile (Roux) 303.
Ziüchtungskunde, experimentelle 209,
279, 319, 320, 327.
Zuelzer 101.
Zufalls- oder Fehlergeſetz von Gauß 288.
Zur Straßen 137.
Zweihäuſigkeit (Diözie) 191, 233.
Zweiteilung 41.
Zwergwuchs (Nanismus) 122, 292, 309.
Zwillinge und Mehrlinge, Spalt- 131; Verwachſungs- 137.
Zwiſchenlagerung (Intusſus zeption)
Zwiſchenzellen, Leydigſche linter— ſtitielle Subſtanz) 104, 208. Zwitter (Hermaphroditen) 182, 184,
187 189, 197, 205, 233, 237, 239, 242, 274. —, Rein- und Scheinzwitter 204, 205. Zygote (aus Gameten verſchmolzene Zelle) 179, 255, 256. Zyklomorphoſe 242, 290. N Zytogene Fortpflanzung (aus Einzel— zellen) 226. Zytologie (Zellenlehre) 38. Zytolyſe (Zellzerſetzung) 140, 225.
Zytotropismus, Zytotaxis 70.
351
Tafel I
ZI7R
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Tafel IV
— ... ß — —
Einladung zur Gubſkription auf:
Das Weltbild der Gegenwart
Ein Aberblick über das Schaffen und Wiſſen unſerer Zeit Anm in Einzeldarſtellungen mm
Herausgegeben von
Karl Lamprecht un Hans F. Helmolt
ft hört man unſer Zeitalter das der Naturwiſſenſchaften nennen. Wie jedes Schlagwort, iſt auch dieſes nur halb wahr. Gerade die jüngſte Entwicklung läßt die Geiſteswiſſenſchaften wieder mächtig in den Vordergrund treten und wird charakteriſiert durch Tendenzen, die einen Einklang zu ſchaffen ſuchen zwiſchen den empiriſchen Grundlagen und einer idealiſtiſchen Auffaſſung unſeres Handelns und Erkennens.
Wohl aber erhält unſere Zeit ihr äußeres Gepräge durch die unge— heuer raſche und vielſeitige Entwicklung der rein forſchenden und der angewandten Naturwiffenfchaften. Immer näher rückt der Verkehr, dem die Fortſchritte der Technik mit in erſter Linie dienen müſſen, Länder und Weltteile zuſammen; immer enger und vielfältiger ver— knüpfen Induſtrie und Handel die Intereſſen der Völker. Wir haben eine Weltpolitik, die „in Kontinenten denkt“ und mit Mil— lionenheeren und Milliardenkapitalien rechnet. Als zweiter inter— nationaler Faktor tritt neben die Weltpolitik die ſoziale Frage, die uns als eine neue, das geſamte Volkswohl umfaſſende Form handelnder Sittlichkeit zum Beiſpiel dienen kann, wie verfehlt es wäre, die werdende Kultur, die mit uns wächſt, in die wir hinein— wachſen, eine materialiſtiſche zu nennen.
Nicht anders ſteht es mit den Wirkungen der Naturwiſſenſchaft, ſoweit fie nicht dem rein praktiſchen Leben, ſondern dem Wiſſen an ſich, dem Denken und Ergründen der letzten Zuſammenhänge dienen will. Dem Naturforſcher wird wieder philoſophiſche Schulung des Denkens zum Bedürfnis, die Philoſophie aber empfindet den heilſamen Zwang, vor dem ins Angeahnte erweiterten und ver—
tieften Bild der Wirklichkeit ihre Methoden zu revidieren, und iſt ſich ihrer wichtigſten Aufgabe, die Geſamtheit alles deſſen, was wir von der Welt wiſſen, zu einer einheitlichen Weltanſchauung zu geſtalten, ſo lebhaft bewußt wie zu irgendeiner anderen Zeit. Dem entſpricht ein in den weiteſten Kreiſen des Volkes immer ſtärker erwachendes Bedürfnis nach einer neuen, über die bloße Erfahrung hinausgehenden Auffaſſung des Weltganzen, ein Ber: langen nach innerlicher, religiöſer (wenn auch nicht konfeſſioneller) Begründung der menſchlichen Exiſtenz.
So baut ſich doch das ungeheure Neben- und Gegeneinander des heutigen Geiſteslebens auf ein paar großen Grundlinien auf und ſtrebt wieder zu einer großen Einheit zuſammen. Dieſe mächtige Einheitstendenz kommt vor allem in dem zum Ausdruck, was wir Bildungsbedürfnis nennen, in dem Wunſch des Indi— viduums, über die Grenzen des Berufs und Fachwiſſens hinaus teilzuhaben am allgemeinen geiſtigen Leben der Nation und der Menſchheit.
Befriedigung und Förderung kann dieſem Streben nur durch Männer der Wiſſenſchaft werden, die es verſtehen, die Reſultate der Forſchung in gemeinverſtändlicher, klarer Weiſe darzulegen. Im Intereſſe der Wiſſenſchaft ſelbſt liegt es, daß wenigſtens die Grundzüge ihrer Methoden und die wichtigſten Ergebniſſe ihres Forſchens in das geiſtige Bewußtſein des Volkes aufgenommen werden; und nicht minder iſt es auch für die Kunſt und Literatur wünſchenswert, daß ihre zeitliche Entwicklung, ihre national be— dingten Äußerungen und internationalen Zuſammenhänge dem Publikum von Zeit zu Zeit in überſichtlichem Geſamtbild vor Augen geführt werden.
Dieſem Bedürfnis entgegenzukommen, das Weltbild der Gegen⸗ wart in der ganzen Weite feines Umfangs, in feinen großen Hauptlinien, mit all ſeinen in die Vergangenheit zurück und in die Zukunft hinausführenden Perſpektiven zur klaren Anſchauung zu bringen, das iſt der Zweck des großen, gegenwärtig noch im Er— ſcheinen begriffenen Sammelwerkes.
In 20 Bänden, deren jeder ein in ſich abgeſchloſſenes Ganzes bildet, werden berufene Vertreter ihres Faches — berufen als Fach— männer und als Schriftſteller — ſchildern, wie in Naturforſchung und Geiſteswiſſenſchaft, in Politik und Rechtspflege, in Handel und Induſtrie, in der Technik, der bildenden und angewandten
Kunſt, in Literatur und Muſik das Suchen und Schaffen unferer Zeit ſich darſtellt.
Einer der erſten deutſchen Gelehrten, der verſtorbene Hiſto— riker Karl Lamprecht, hatte dem Plan des Ganzen von vorn— herein fein lebhafteſtes Intereſſe zugewandt und beratend und anregend fo lebhaften Anteil an dem Zuſtandekommen genommen, daß wir ihn als den einen Herausgeber des „Weltbildes“ nennen dürfen. Der andere, Hans F. Helmolt, hat gleichfalls durch eigene hiſtoriſche Forſchungen wie als Leiter mehrerer volkstümlich— wiſſenſchaftlicher Sammelwerke ſich einen wohlverdienten Ruf er: worben.
And nicht minder bürgen die Namen der Autoren der einzelnen Bände dafür, daß das Weltbild der Gegenwart dem Gebildeten das geben wird, was er von ſolchem Werk verlangen darf und ſoll, Belehrung im einzelnen, Orientierung im ganzen, Anregung und Anleitung zu eigenem Weiterdenken, Bereicherung nicht des Wiſſens allein, ſondern der inneren Anſchauung, Zuwachs an Kenntniſſen, aber auch an geiſtigem und ſeeliſchem Erlebnis.
Auf die vollſtändige Serie von 20 Bänden haben wir eine Gubfſkription zu ermäßigtem Einheitspreiſe
eingeleitet, während alle Bände auch einzeln zu verſchiedenen, je— weils dem Amfang entſprechenden höheren Preiſen abgegeben werden.
Die Bände kommen nur gebunden zur Ausgabe und find in befter, vor: nehmſter Weiſe ausgeſtattet. Den Einband hat Paul Renner entworfen.
Stuttgart Deutſche Verlags⸗Anſtalt
Das Weltbild der Gegenwart
Ein Überblid über das Schaffen und Wiſſen unſerer Zeit
in Einzeldarſtellungen
zerfällt in nachſtehende Bände, die in zwangloſer Reihenfolge erſcheinen:
1. Band: Profeſſor Dr. F. Meiſel, Wandlungen des Weltbildes
2.
3
2
und des Wiſſens von der Erde
J. J. Ruedorffer, Grundzüge der Weltpolitik in der Gegenwart
Profeſſor Dr. J. M. Bonn, Die Geſtaltung der Welt: wirtſchaft
Geh. Juſtizrat Profeſſor Joſef Kohler, Recht und Per: ſönlichkeit in der Kultur der Gegenwart
Fräulein Dr. Gertrud Bäumer, Die Frau in Volks— wirtſchaft und Staatsleben der Gegenwart
Wilhelm v. Maſſow, Die deutſche innere Politik unter Kaiſer Wilhelm ll.
Profeſſor Dr. Julius Meyer, Die phyſikaliſchen und chemiſchen Probleme der Gegenwart
Kgl. Regierungs- und Baurat Schmedes, Das Maſchinenweſen
Profeſſor Dr.Ing. O. Blum, Verkehr, Bauingenieur: weſen und die Technik im allgemeinen
Privatdozent Dr. Paul Kammerer, Allgemeine Biologie
Profeſſor Dr. C. L. Schleich, Der Kampf um die Ge— ſundheit
Profeſſor Dr. A. Meſſer, Pſychologie
Dr. J. Goldfriedrich, Geſchichtswiſſenſchaſt und Wiſſen— ſchaftsgeſchichte in der jüngſten Vergangenheit mit befonderer Rückſicht auf Deutſchland
Dr. Wilh. Hauſenſtein, Die bildende Kunſt der Gegen— wart (Malerei, Bildhauerei und Graphik)
Regierungsbaumeiſter Dr.-Ing. Walter Curt Behrendt, Der Kampf um den Stil in Architektur und Kunſtgewerbe
Profeſſor Dr. Richard M. Meyer, Die Weltliteratur im zwanzigſten Jahrhundert
Dr. R. Louis, Die Tonkunſt unſerer Zeit
Er „ Religiöſe, ſittliche und erzieheriſche
eale Profeſſor Dr. K. Joél, Wandlungen der Weltanſchauung
Die mit * bezeichneten Bände find bis Herbſt 1915 erſchienen
Soviel ich von dem Unternehmen bisher geſehen habe, muß ich bekennen, daß es etwas Großartiges iſt und daß Sie zweifellos vielen Gebildeten eine will: kommene Gabe bringen. G. Cleinow, Herausgeber der Grenzboten, Berlin Friedenau.
Auszüge aus Urteilen der Preſſe Aber „Meiſel, Wandlungen des Weltbildes“ ſchrieben:
Prof. Dr. Adolf Marcuſe in der Voſſiſchen Zeitung, Berlin: Das Buch Ferdinand Meiſels hat den Rang eines aufklärenden und gedankenreichen Lehrbuches, das über den Stand unſerer gegenwärtigen Kenntniſſe von Himmel und Erde eine durch— dachte, klare und zugleich ſpannende Aberſicht gibt; und das will noch mehr heißen, als gewöhnlich in den im übrigen auch bereits zahlreich vorhandenen populären Himmelskunden dem gebildeten Leſer geboten wird.
Hannoverſcher Courier: Hier iſt alles entwicklungsgeſchichtlich dargeſtellt in unge— mein feſſelnden Kapiteln. Und reizvoll zumal, da das Buch bei aller Objeftivität doch der perſönlichen Note nicht entbehrt. Vor allem auch nicht der Wärme der Darftellung, der inneren Anteilnahme an allem, der liebevollen, vorurteilsfreien Behandlung aller Stoffe. Das Buch will uns denken lehren, denn die Geſetze des Denkens bilden den feſten Grund für unſere Erkenntnis, für unſer Streben nach Wahrheit.
Frankfurter Zeitung: Das Buch wendet ſich an gebildete Leſer. Es wird aber auch jeder Fachmann an der feſſelnden und anregenden Art, in der es geſchrieben iſt, ſeine Freude haben. Der Abſicht des Sammelwerkes entſprechend ſucht der Verfaſſer „die treibenden Gedanken nach Möglichkeit hervorzuheben und bloßzulegen“. Dies iſt ihm gelungen, und gerade dadurch gewinnt das Buch an Intereſſe. Der Verfaſſer vertritt nirgends einen Standpunkt, der den heute vorherrſchenden Anſichten wider⸗ ſpricht; dabei zeichnet ſich das Buch durch volle Objektivität aus. Infolge all dieſer guten Eigenſchaſten iſt das Buch allen, die ſich für Fragen über das Weltall intereſſieren, zu empfehlen, und es iſt ihm Verbreitung in den weiteſten Kreiſen zu wünſchen, damit mit den veralteten Anſchauungen, die ſelbſt in den gebildetſten Kreiſen über die hier behandelten Fragen vorhanden zu ſein pflegen, gründlich aufgeräumt wird.
Aber „Nuedorffer, Grundzüge der Weltpolitik“ ſchrieben:
Reichsbote, Berlin: Aus vielen Äußerungen geht hervor, daß der Verfaſſer nicht nur als tiefgründiger Denker und Forſcher über die Dinge zu ſprechen weiß, ſondern auch als Kundiger, der näher orientiert iſt über manche Abſichten und Ziele der praktiſchen Politik. Jedenfalls iſt das Buch für jeden feſſelnd und an⸗ regend, auch da, wo er vielleicht abweichender Anſicht iſt. Als ein in die welt⸗ politiſchen Zuſammenhänge tief einführendes und zu ſelbſttätiger Weitervertiefung in das hier behandelte große Gebiet anleitendes Handbuch kann das Werk nur warm empfohlen werden.
peſter Lloyd, Budapeſt: Ruedorffers Werk atmet echte lautere Höhenluſt, und es kommt einem erquickenden Ausfluge gleich, ihn auf die mächtige, freie Plattform ſeiner weltpolitiſchen Gedanken zu begleiten. Ein ernſtes Buch von ſtarker Be— weiskraſt, von reicher Gedankenfülle, und bei aller Monumentalität der Zinien- führung von ſtraffſter Okonomie. Ruedorffer ſchließt die Energien auf, die das politiſche Weltgeſchehen der Gegenwart beſtimmen, unterſucht die einzelnen Kom⸗ ponenten und fügt ſie wieder zu einer Reſultante von faſt organiſcher Vollkommenheit.
Die Leſe, Stuttgart: Ein ganz vorzügliches Buch! Großartig weitausholend im Amriß, eindringlich fein charakteriſierend in den Einzelheiten. Ruedorffer ſchreibt mit der vornehm⸗kühlen Aberlegenheit des erfahrenen Realpolitikers. Und doch iſt er nicht Materialiſt, im Gegenteil, für die ethiſchen Werte im Organismus der
Nationen hat er das zartefte Verſtändnis. An ſolchen Büchern ſpürt man deutlich, wie wir Deutſchen nun doch wirklich heraufwachſen in die Höhenluſt der Welt— politik. Der letzte Reſt von Enge, Kleinſtädterei, Schwerfälligkeit iſt hier ver- ſchwunden. Auf der Ozeanweite fühlt ſich der Deutſche nun ganz zu Hauſe. Doch wird er nicht zum Geldmenſchen und „Amerikaner“. Die alte geiſtige Gründlichkeit bleibt bewahrt.
Leipziger Tageblatt: Die Ausführungen, die von tiefer Sachkenntnis zeugen, wirken in jeder Hinſicht einleuchtend; es iſt ein grundlegendes Werk, das alle, die nach einem feſten Standpunkt für die Beurteilung der täglichen weltpolitiſchen Ereig— niſſe ſuchen, zur Hand nehmen müßten.
Aber „Kohler, Recht und Perſönlichkeit“ ſchrieben:
Echo der Gegenwart, Aachen: Es iſt das Verdienſt des Verfaſſers, in einem nur 260 Seiten zählenden Bande eine Fülle wiſſenſchaftlicher Funde zuſammengetragen zu haben, die man ſich ſonſt in weitläufigen Werken mühſam zuſammenſuchen muß.
Voſſiſche Zeitung: Wie die Kapitel eines ſpannenden Romans rollen ſich hier vor uns die lehrreichen Betrachtungen über den Menſchen und ſeine rechtlichen Ver— knüpfungen mit dem modernen Kulturleben ab. Wie er ſich als biologiſches und ſoziologiſches Weſen durch Individualität, Raſſe und ſoziale Faktoren von ſeinen Nebenmenſchen ſcheidet, wie ſich unſere moderne Kultur langſam auf der Grund— lage des Altertums und Mittelalters aufgebaut hat, das wird in knappen, lapi⸗ daren Zügen dem Leſer eindringlich vor Augen geführt. — Alle Probleme unſeres ſo unüberſehbar komplizierten und feinveräſtelten modernen Lebens werden hier von einem großen Gelehrten, der zugleich ein feiner und ſcharfer Denker iſt, in vorurteilsfreiem Geiſte und ohne überflüſſige Weitſchweifigkeit erörtert. Kein Leſer wird das Buch ohne reichen Gewinn aus der Hand legen; überall wird er ſein Wiſſen
Aber „Bäumer, Die Frau in Volkswirtſchaft“ ſchrieben:
Deutſche Tageszeitung, Berlin: Immer tritt uns aus der Darſtellung der un» parteiiſch forſchenden Gelehrten doch auch die fein und warm empfindende Frau entgegen, die nie vergißt, daß menſchliche Dinge auch menſchlich, d. h. aus den einzelnen Individuen heraus begriffen und behandelt werden wollen. Darum darf ihr Buch allen, die an der Frauenbewegung tätig teilhaben, aber auch jedem, der ſich über ſie zuverläſſig unterrichten will, aufs wärmſte empfohlen werden.
Reclams Aniverſum, Leipzig: Die Verfaſſerin hat nicht nur eine überraſchende Fülle von Material in engem Raum zuſammenzubringen gewußt, fie hat viel— mehr dies Material, auch die trockenen ſtatiſtiſchen Notizen, fo vortrefflich bear- beitet, daß die Lektüre des Buches einen wirklichen Genuß bietet.
Augsburger Poſtzeitung: Die Verfaſſerin erledigt ihre Aufgabe erfreulicherweiſe in ziemlich objektiver Weiſe, ohne ſich nach irgendeiner Seite mit überſpannten frauenrechtleriſchen Ideen zu identifizieren. Sie erfaßt ihre Aufgabe hauptſächlich in der Weiſe, daß ſie die äußere ſoziale Geſtalt des Frauenlebens darſtellt und dasſelbe kulturpſychologiſch vertieft. Dadurch iſt eine Geſamtphyſiognomie des Frauenlebens entſtanden, welche ein klares und anſchauliches Bild von dem Weſen und den Triebkräften des modernen Frauenproblems erkennen läßt.
Aber „Maſſow, Die deutſche innere Politik“ ſchrieben:
Die Grenzboten, Berlin: ... einem höchſt beachtenswerten Werke, das wegen der Sachlichkeit und anſprechenden Art der Darſtellung verdiente, als Volksausgabe in Hunderttauſenden von Exemplaren in der Nation verbreitet zu werden.
Konſervative Monatſchriſt, Berlin: Der große Wurf ift dem Verfaſſer mufter- gültig gelungen. Ein warm-vaterländiſcher, menſchlich-ſympathiſcher Grundton durchzieht das ganze Buch. Man legt das treffliche Werk nicht aus der Hand, ohne aus ihm neue Zuverſicht für unſere politiſche Zukunſt gewonnen zu haben. Es iſt ſo wahrhaft ein Wegbereiter vaterländiſchen Wollens.
Augsburger Poſtzeitung: Wir wüßten zurzeit kein Werk, welches die innere deutſche Politik in ſo großzügiger, nichts Weſentliches überſehender Weiſe darſtellen würde, als das eben beſprochene. Zur raſchen Orientierung über die politiſchen Ereig— niſſe und Entwicklungstendenzen unter der Ara Wilhelms II. iſt es in hervor— ragendem Maße geeignet.
Baſler Nachrichten: Dieſes Buch iſt in feiner Art ein Kunſtwerk; denn es weiß in vollendeter Weiſe vornehme Ruhe der Oarſtellung zu wahren, ohne irgendwie charakterlos zu werden. Der Verfaſſer ſteht ziemlich weit rechts, bei der Reichs— partei, iſt aber gegen die Sünden der Politiker auf feiner Seite keineswegs blind. Wir wünſchen dem Buch ſtarke Verbreitung, nicht nur unter unſern deutſchen, ſondern auch unter unſeren ſchweizeriſchen Leſern; denn es bietet Seite für Seite reichſte Anregung zu politiſchem Denken.
Aber „Meſſer, Pſychologie“ ſchrieben:
Die Leſe, Stuttgart: Meſſers Buch iſt wohl der beſte und klarſte Grundriß, den wir von dieſer jungen, ſchwierigen, zum Höchſten emporſtrebenden Wiſſenſchaft beſitzen.
Kölniſche Zeitung: Meſſer hat feine Aufgabe, den Gegenwartsſtand der Pſychologie darzulegen, ſo vorzüglich gelöſt, daß ſowohl der Laie in dem Werk eine klare und leicht verſtändliche erſtmalige Orientierung hat, als auch der Fachmann durch die überall erkennbare umfängliche Beherrſchung des Gegenſtandes und die ſachge— mäße Entſcheidung in Diskuſſionen der Gegenwart zufriedengeſtellt wird.
Aber „Meyer, Weltliteratur im 20. Jahrhundert“ ſchrieben:
C. Amend in der Karlsruher Zeitung: Das Meyerſche Buch bedeutet eine be— deutungsvolle Bereicherung unſeres Wiſſens und unſerer Erkenntnis. Daß es in einem ſchönen, geiſtreichen und lebendigen Stil geſchrieben iſt, verſteht ſich bei R. M. Meyer von ſelbſt.
Illuſtrirte Zeitung, Leipzig: Das Leſen dieſes manchmal hinreißend, immer aber mit ſouveräner Beherrſchung des gewaltigen Stoffgebietes geſchriebenen Werkes iſt eine wahre Herzſtärkung, und ich weiß, daß manches Leſers Auge hell auf— leuchten wird, wenn die hervorragendſten Ausführungen des Buches an ſein Inneres rühren und verwandte Saiten zu ſtarkem Mitklingen bringen.
Hanns Martin Elſter in der Rhein.⸗Weſtf. Zeitung, Eſſen: Wer die geiſtigen und ſeeliſchen Kräfte kennen lernen will, die unſere heutige Literatur durchkreiſen, greife zu Meyers ausgezeichnetem Buche. Recht viele Neuauflagen wünſche ich Meyers tüchtigem Werk.
Neues Tagblatt, Stuttgart: Das ſchöne Buch, das ein helles, abgerundetes, ge— meinverſtändliches Weltbild von allen Literaturſtrömungen der Gegenwart er— ſchöpfend darbietet und deſſen beſonders prächtiges Schlußkapitel eine verblüffend entſchleiernde Bildnisſammlung der prominenteren literariſchen Perſönlichkeiten unſeres Zeitalters iſt, dürfte auf keines Literaturfreundes Weihnachtstiſche fehlen.
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Anterzeichneter beſtellt hiermit bei
161. Das Weltbild der Gegenwart
in 20 Bänden zum Gubffriptionspreis von M 6. — pro Band
Bis jetzt erſchienen: Expl. Band I: Meiſel, Wandlungen des Weltbildes und des Wiſſens von der Erde. (Einzelpreis geb. M 7.50) Expl. : Ruedorffer, Grundzüge der Weltpolitik in der Gegenwart. (Einzelpreis geh. M 5. —, geb. M 6.50) Expl. : Kohler, Recht und Perſönlichkeit in der Kultur der Gegenwart (Einzelpreis geh. M 5. —, geb. M 6.50) Expl. : Bäumer, Die Frau in Volkswirtſchaft und Staats— leben der Gegenwart (Einzelpreis geh. M 5. —, geb. M 6.50) Expl. VI: v. Maſſow, Die deutſche innere Politik unter Kaiſer Wilhelm ll. (Einzelpreis geh. M 3.50, geb. M 7.—) Expl. XIII: Meſſer, Pſychologie. (Einzelpreis geh. M 6.—, geb. M 7.50) Expl. XV: Hauſenſtein, Die bildende Kunſt der Gegen— wart (Malerei, Bildhauerei und Graphik) (Einzelpreis geh. M 6.—, geb. M 7.50) Expl. „XVII: Meyer, Die Weltliteratur im zwanzigſten Jahr— hundert. (Einzelpreis geb. M 6.50)
und erſucht um Zuſendung ſämtlicher Bände ſofort nach Erſcheinen. Betrag liegt hier bei — folgt durch Poſtanweiſung — iſt nachzunehmen.
Name und Stand
Wohnort, Straße und Hausnummer
Druck der Deutſchen Verlags-Anſtalt in Stuttgart
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